D er Parkplatz lag in einem Waldstück und war von der Hauptstraße aus nicht einsehbar. Nur ein silbergrauer Mercedes stand neben dem verrammelten Kiosk, ansonsten war der Platz so spät am Abend menschenleer.
Johannes saß angespannt hinter dem Lenkrad des Wagens. Der Mercedes gehörte seinem Vater. Nervös strich er mit der Hand über den Briefumschlag, der auf dem Beifahrersitz lag. Er hatte erst vor Kurzem den Führerschein gemacht und noch immer gehörigen Respekt vor den vielen PS der Limousine. Wie Raubtiere lauerten sie unter der Motorhaube des Wagens und warteten nur darauf, ihre ganze Kraft zu entfalten.
Als ein zweites Auto auf den Parkplatz fuhr, ließ Johannes die Scheinwerfer kurz aufblinken. Auch bei dem anderen Wagen wurden die Lichter aufgeblendet. Minutenlang standen sich die beiden Fahrzeuge gegenüber und nichts geschah. Schließlich öffnete der Fahrer des anderen Autos die Tür und stieg aus. Unter den Arm hatte er einen Schnellhefter mit Papieren geklemmt. Johannes wartete noch einige Sekunden, dann griff er nach dem Umschlag und stieg ebenfalls aus dem Mercedes.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er und winkte mit dem Kuvert in seiner Hand. »Ich habe alles wie vereinbart dabei. Sie hoffentlich auch.«
»Ich halte mein Wort. Eine Notlage zwingt mich dazu, das hier zu tun. Dafür verachte ich mich«, entgegnete der Mann mit leiser Stimme. Er wirkte eingefallen und zitterte in seiner abgewetzten Lederjacke.
»Machen Sie sich keine Gedanken. Nichts dringt nach draußen. Sie bleiben auch weiterhin eine integre Person. Darauf hat mein Vater sein Wort gegeben.«
»Warum hat er mir dann den Kredit nicht genehmigt?«, fragte der Mann.
»Darüber bin ich nicht informiert. Aber soweit ich weiß, gibt es Richtlinien, die im Bankwesen eingehalten werden müssen.«
Johannes’ Vater war Direktor der Kreissparkasse und hatte gute Chancen, in den überregionalen Vorstand zu wechseln. Dort hatte man wohlwollend beobachtet, dass es bei ihm keine Kreditvergaben ohne die nötigen Sicherheiten gab. So jedenfalls wurde es in den internen Protokollen an den Vorstand übermittelt. Die Wirklichkeit sah allerdings anders aus, denn er beteiligte sich öfter über einen Strohmann an den Firmen, die bei seiner Bank in der Kreide standen.
»Das ist doch alles bloß eine faule Ausrede. Ihr Vater setzt mich bewusst unter Druck. Damit ich Ihnen einen Gefallen tue.«
»Worüber regen Sie sich auf? Wir haben beide etwas von diesem Geschäft. Es ist eine Win-Win-Situation«, antwortete Johannes altklug. Den businessmäßigen Ton hatte er von seinem Vater übernommen, und mit seinen neunzehn Jahren kam er sich damit clever vor. »Sie brauchen keinen Kredit aufzunehmen, ich mache meinem Vater keine Schande.«
»Okay. Dann bringen wir die Sache schnell hinter uns.« Der Mann streckte Johannes den Schnellhefter entgegen. »Hier sind die Unterlagen, und jetzt geben Sie mir das Geld.«
»Immer langsam.« Johannes griff nach den Papieren und blätterte sie schnell durch. Er sah eine Menge Zahlen und Berechnungen, die für ihn wie ein Buch mit sieben Siegeln waren. Aber ganz unten war immer die Lösung rot unterstrichen hinzugefügt, das war das Wichtigste. Auf einem anderen Blatt standen jede Menge Deklinationen in Latein, auch davon verstand Johannes nur die Hälfte, wenn überhaupt. »Sind das alle Prüfungsaufgaben?«, fragte er sicherheitshalber.
»Ja, das sind die schriftlichen Prüfungsfragen für Mathematik und Latein«, antwortete der Mann und strich sich durch die dünnen Haare. »Lassen Sie sich beim Schummeln bloß nicht erwischen, das kann mich meinen Job kosten.«
»Keine Sorge, ich bin doch nicht blöd.« Mit einem verächtlichen Blick musterte Johannes seinen Professor. Der Mann wirkte wie der geborene Loser. Lebte in einer kleinen Zweizimmerwohnung in einem Wohnblock in Schwarzach. Sein Haus in Dunkelsteig hatte er verkaufen müssen, um die teure Therapie für seine Frau in Deutschland zu bezahlen. Sie litt an Leukämie. Das war tragisch, und Johannes tat sein Lehrer auch leid, aber er musste in erster Linie an sich denken. Denn beim Abitur würde er mit Sicherheit durchrasseln, und das wäre eine Katastrophe für die ganze Familie. Diese Erniedrigung konnte sein Vater auf keinen Fall auf sich sitzen lassen, deshalb hatte dieser die Sache in die Hand genommen.
»Was für eine Schande, wenn du schon wieder versagst«, hatte sein Vater gesagt und mit den Fingern auf die Schreibtischplatte geklopft. »Du hast bereits eine Klasse wiederholt und jetzt diese ungenügenden Leistungen. So schaffst du nie das Abitur!«
»Ich bin eben mehr der musische Typ«, hatte Johannes schüchtern eingewandt.
»Hör sofort auf mit dem Unsinn!«, donnerte der Vater und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du studierst Jura. Aus und basta! Für dein Abitur lasse ich mir etwas einfallen.«
Dann hatte der Zufall seinem Vater in die Hände gespielt, als Berger, der Professor mit dem Kreditwunsch, in der Bank auftauchte. Er hatte das Ansuchen rundweg abgelehnt, dem Lehrer aber einen Vorschlag gemacht. Nach einer kurzen Bedenkzeit hatte Berger schließlich eingewilligt. Jetzt standen sich Professor und Schüler wie zwei Drogendealer auf dem nebligen Parkplatz gegenüber und tauschten Geld gegen Prüfungsfragen.
Innerlich befand sich Johannes im Zwiespalt, denn er war im Grunde ein ehrlicher Typ. Dass er es in der Schule immer nur mit Ach und Weh schaffte, lag an seiner Konzentrationsschwäche. Ständig verdrängten andere Gedanken in seinem Kopf das aufmerksame Lernen.
»Ich mache das bloß, weil ich einen Lebensplan habe und es mir deshalb nicht leisten kann, zu versagen«, sagte er zu seinem Professor, um sich zu rechtfertigen. »Ich möchte Rechtsanwalt werden.« Dann streckte er Berger den Umschlag entgegen, und dieser griff schnell danach.
»Ich zähle lieber nach«, entgegnete der Professor und öffnete das Kuvert.
»Die Summe stimmt – wie vereinbart. Sie können mir vertrauen«, sagte Johannes gekränkt, während er Berger beim Zählen zusah.
»Natürlich vertraue ich dir, aber nicht deinen rechnerischen Fähigkeiten.« Berger blickte ihn kurz an, und Johannes bemerkte die Verachtung in den Augen seines Professors, der ihn für einen ausgemachten Dummkopf hielt. Sein Mitleid für das Schicksal des Mannes löste sich in nichts auf, und er drehte sich auf dem Absatz um. »Das wäre dann alles«, meinte er kurz angebunden und stieg in den Mercedes. Er startete den Motor und trat wütend auf das Gaspedal. Der Wagen machte einen Satz nach vorne und schoss direkt auf Berger zu. Der Professor stieß einen überraschten Schrei aus und hechtete zur Seite, um nicht niedergefahren zu werden. Im letzten Augenblick bekam Johannes den Mercedes unter Kontrolle. Er atmete erleichtert aus und fuhr im Schneckentempo hinaus auf die Straße. Im Rückspiegel sah er noch, wie Berger in seinen Kleinwagen stieg. Dann wurde der Lehrer von der Nacht absorbiert. Auf dem Weg nach Hause schwor Johannes, sich an jedem zu rächen, der ihn für einen Dummkopf hielt.