KAPITEL ACHT

Felicitas - zwanzig Jahre früher

I m Sommer strahlt die Sonne in Dunkelsteig nur für wenige Stunden in die düsteren Gassen. Dann erwachen die Bewohner zu neuem Leben, öffnen die Türen und hängen die Bettwäsche zum Auslüften aus den Fenstern. Das muss schnell gehen, denn die Sonne wandert beständig und bestrahlt oft nur für wenige Augenblicke ein Haus.

Felicitas und Manuela kamen wie jeden Tag mit der Lokalbahn zurück in den Ort. Es waren die letzten Schultage, und die Mädchen freuten sich schon auf die Ferien.

»Fährst du im Sommer weg?«, fragte Felicitas ihre beste Freundin.

»Meine Mutter gibt einen Malkurs, wir bleiben deshalb brav zu Hause«, erwiderte Manuela. Leichtfüßig sprang sie die Stufen von der Bahnstation hinunter auf die Straße. Ein Sonnenstrahl bahnte sich seinen Weg zwischen den Häusern hindurch, und Manuela hielt ihr Gesicht in das Licht.

»Ich liebe diese besondere Wärme«, schnurrte sie wie eine Katze. »Und was unternimmst du? Macht ihr wieder diese langweiligen Wanderungen?«

»Das befürchte ich. Mutter würde so gerne ans Meer fahren, aber mein Vater bestimmt, wo wir die Ferien verbringen. Und für ihn gibts immer nur eins: Bergwandern.«

»Das ist echt ätzend. Kannst du nicht hierbleiben? Schließlich bist du fast achtzehn.«

»Das erlaubt er nie.« Felicitas zuckte mit den Schultern. Im Sommer wollte ihr Vater mit der Familie etwas unternehmen, obwohl er seine Tochter immer spüren ließ, dass sie die Schuld daran trug, dass er in Dunkelsteig gelandet war. Aber vielleicht war das auch eine Taktik von ihm, um ihr Selbstbewusstsein zu untergraben.

»Man hat es nicht leicht mit seinen Eltern. Ich muss mich wenigstens nur nach meiner Mutter richten«, sagte Manuela. Sie kniff die Augen zusammen und blickte in Richtung Bahnstation. »Schau mal, da kommt DD.«

»DD, wer soll das sein?«

»Ist doch klar: dicke Dora.« Manuela gluckste vor Lachen, griff spontan nach Felicitas’ Hand und zog sie zu sich. »Ich will den Nachmittag nur mit dir verbringen. Lass uns schnell verschwinden.«

Doch es war zu spät, Dora hatte die Mädchen bereits entdeckt. »Hallo ihr beiden. Was macht ihr da?«, rief sie schon von Weitem.

»Feli und ich denken uns ein Spiel aus.«

»Was für ein Spiel?« Dora kam näher und küsste Manuela zur Begrüßung so schnell auf die Wange, dass diese nicht rechtzeitig den Kopf zur Seite drehen konnte.

»Wir jagen den Sonnenstrahlen hinterher.« Manuela schüttelte ihre blonden Haare und blinzelte Felicitas verstohlen zu.

»Ja, wir wollen heute so viel Sonne wie möglich abbekommen«, ergänzte Felicitas. »Deshalb laufen wir durch das Dorf und versuchen, jeden Sonnenstrahl einzufangen.«

»Aber das ist doch albern.«

»Nein, im Gegenteil, das ist wahnsinnig spannend.« Felicitas fand keinen Draht zu Dora. Was weniger an ihrem Aussehen lag, sondern vielmehr an ihrer Art. Dora war ein Jahr älter als sie und gab sich sehr ernst und erwachsen. Sie hatte dunkelblondes, kurz geschnittenes Haar und trug immer Jeans und sackartige Hemden, um ihre breiten Hüften zu kaschieren. Dora war schon öfter mit Felicitas, Manuela, Johannes und Adrian unterwegs gewesen, aber der zündende Funke hatte gefehlt. Sie passte nicht zu der Clique. Aber das sagte ihr keiner.

»Auf die Plätze, fertig, los! Wer ist schneller bei der Hausmauer?« Manuelas Aufforderung riss Felicitas aus ihren Gedanken. Sonnenstrahlen tanzten über das Gebäude, überzogen das graue Gemäuer mit einem goldenen Schimmer. Manuela startete los und erreichte die Straßenecke knapp vor Felicitas.

»Jetzt zum nächsten Haus«, rief sie gut gelaunt. Wieder sprang Manuela leicht wie eine Feder über einen Blumentrog und lief quer über den Marktplatz hinter den Sonnenstrahlen her, die wie helle Scheinwerfer über den Boden tanzten. Vor dem Wirtshaus am Rand des Platzes blieben die beiden Mädchen kichernd stehen und hockten sich auf den Gehsteigrand.

»Man müsste die Sonne für einen Moment anhalten können.« Manuela zog eine Zigarette aus ihrer Jacke und zündete sie an. »Eine ganze Woche nur Sonnenschein in Dunkelsteig, das wäre ein Hit.« Sie rutschte am Gehweg entlang, um weiterhin im Licht zu sein. Felicitas folgte ihrem Beispiel. Doch mit einem Mal baute sich der breite Schatten von Dora vor ihnen auf.

»Los Dora, setz dich zu uns und mach mit«, forderte sie Felicitas auf.

»Das ist mir zu blöd.« Dora beugte sich zu Manuela. »Warum benimmst du dich so albern?«

»Bitte Dora, verschwinde einfach. Ich möchte heute keine negativen Schwingungen. Feli und ich sind Sonnenkinder. Du störst uns nur.«

»Aber ich dachte, du magst mich?« Dora wirkte gekränkt und presste die Lippen aufeinander.

»Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt. Sicher mag ich dich irgendwie. Aber heute ist Feli mein Sonnenkind.« Manuela legte ihren Kopf auf die Schulter ihrer Freundin. »Wo ist die Sonne …«, sang sie laut vor sich hin.

»Ich verstehe überhaupt nicht, was du an der findest«, erwiderte Dora brüsk. »Sie macht doch immer nur, was du willst.«

»Hör sofort auf damit und mach nicht so ein Drama daraus. Wir wollen heute unseren Spaß haben, und zu dritt ist es nicht lustig. Also lass uns bitte alleine.« Nach diesen Worten sprang Manuela auf, griff nach der Hand von Felicitas und zog sie hoch. »Komm, die Sonne wartet nur auf uns.«

Als die beiden Mädchen den letzten Sonnenstrahlen nachliefen, drehte sich Felicitas noch einmal um und warf einen verstohlenen Blick zurück. Umringt von den Schatten der Häuser stand Dora allein mitten auf dem Marktplatz und blickte ihnen mit düsterer Miene hinterher.