D er schwarze Trauerzug schlängelte sich aus dem Wohnzimmer in den Flur und weiter hinaus in die finstere Nacht. Ich stand mit Mutter draußen und verabschiedete jeden der Besucher mit Handschlag. Als der letzte Gast in der Dunkelheit verschwand, trotteten wir zurück in die Küche, um uns aufzuwärmen. Mutter stellte uns eine Kanne Tee auf den Esstisch, und wir schwiegen eine Zeit lang.
Plötzlich fragte Mutter: »Wie lange willst du bleiben?«
»Ich habe ein paar Wochen Urlaub genommen«, log ich. Dabei blickte ich starr in die Teetasse, so als könnte ich auf deren Grund die Zukunft lesen.
»Urlaub? Geht das überhaupt in deinem Beruf?« Mutter blickte mich skeptisch an. »Für die Zeitung muss man doch jeden Tag schreiben.«
»Das stimmt natürlich, aber ich habe einiges vorproduziert und tolle Kollegen«, erwiderte ich. Dabei wetzte ich unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Das stimmte sogar, ich hatte ein Konzept für eine wöchentliche Kolumne entwickelt, das aber vom Chefredakteur so nicht akzeptiert wurde. Ich musste das Konzept immer und immer wieder umschreiben, dazu kamen die Schwierigkeiten mit Tim. Schließlich konnte ich nicht mehr und schlitterte fast in ein Burn-out. Um einen völligen Zusammenbruch zu verhindern, hatte ich mir unbezahlten Urlaub genommen. Aber das würde ich Mutter nicht beichten. Sie würde es sowieso nicht verstehen.
»Ach so ist das.« Mutter rückte ihren Stuhl zurück und stand auf. »Ich gehe jetzt schlafen. Heute war ein sehr trauriger Tag.« Wie eine alte Frau schlurfte sie zur Tür. »Hast du dich mit Dora gestritten?«, fragte sie dann unvermittelt.
»Nein, wir haben uns bloß über Manu unterhalten.«
»Lass das in Zukunft bitte bleiben. Du bringst nur Unruhe ins Dorf.«
»Dir auch eine gute Nacht«, antwortete ich betrübt. Ich wartete, bis Mutter in ihrem Zimmer verschwunden war, dann stieg ich die Treppe ins Obergeschoß hinauf. Auf dem Flur blieb ich stehen und blickte an die Decke. Dort war die Luke für den Dachboden. Früher hatte ich mich oft mit Manu da oben versteckt. Wir hatten uns Leintücher übergeworfen und zwischen Mutters aufgehängter Wäsche Geister gespielt. Jetzt hausten dort nur noch die Gespenster der Vergangenheit.
Plötzlich hatte ich eine Idee. Ich öffnete die Luke und zog die Leiter herunter, kletterte in den niedrigen Speicher, in dem es feucht und modrig roch. ›Mutter wirft nie etwas weg‹, dachte ich, als ich mich im Schein der Handylampe umsah. Überall standen verstaubte Kisten und Kartons herum, alle ordentlich beschriftet. Es dauerte eine Weile, bis ich die richtige Kiste gefunden hatte. Darauf stand Presseartikel . Ich hockte mich in den Staub und öffnete den Deckel. Das Erste, was mir sofort entgegenknallte, war die Titelseite einer Boulevardzeitung mit Manus Foto. Wurde die schöne Manu ermordet? In einer anderen vergilbten Zeitung entdeckte ich ein weiteres, umringt von Bildern von Johannes, Adrian und mir. Darunter stand die Schlagzeile: Welches schreckliche Verbrechen geschah in der Teufelsspalte?
Gebannt las ich weiter:
Der Fluch der Teufelsspalte.
Es hätte der fröhliche Abschluss einer Abiturentenfeier werden sollen, doch es entwickelte sich zum Albtraum. In der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli feierten vier Freunde aus Dunkelsteig das bestandene Abitur in der Nähe der berüchtigten Teufelsspalte. In der Chronik des Ortes ist von einem Fluch die Rede, der alle zwanzig Jahre ein Opfer fordert. Der letzte Wanderer verschwand vor zwanzig Jahren. Jetzt hat sich dieser Fluch wieder bewahrheitet. Die achtzehnjährige Manuela K., ein bildhübsches, lebenslustiges Mädchen, ging nur kurz weg, um Holz für das Feuer zu holen, und wurde nie wieder gesehen. Alles, was man von ihr fand, war ein blutiger Pullover. Ihre Freunde, der zwanzigjährige Johannes R., der neunzehnjährige Adrian B. und die achtzehnjährige Felicitas L., sagten übereinstimmend bei der Polizei aus, dass Manuela nur wenige Minuten weggewesen wäre. Sie hätten einen Schrei gehört und wären dann sofort zur Teufelsspalte gelaufen. Doch dort fanden sie nur den blutigen Pullover. Felicitas L. stolperte auf dem Weg, schlug sich den Kopf auf und war kurz bewusstlos. Eine sofort eingeleitete Suche mit mehreren Bergrettern und einer Hundestaffel blieb bisher leider erfolglos. Der zuständige Ermittler, Inspektor Leo Grafinger, zeigt sich nach wie vor optimistisch. »Wir finden Manuela.«
Die hiesige Bevölkerung glaubt allerdings an den Fluch der Teufelsspalte, der sich erfüllt hat. Lesen sie nächste Woche: Der Teufelsspalt – Aberglaube oder brutaler Mord?
Langsam ließ ich die Zeitung in einer Wolke aus Staub auf den Boden sinken. Es stimmte, man hatte uns verdächtigt, etwas mit dem Verschwinden von Manuela zu tun zu haben. Aber es konnte nur ein Unfall gewesen sein. Doch wie passte Manus blutiger Pullover ins Bild? Wir hatten damals keine Ahnung. Um nicht verdächtig zu erscheinen, stimmten wir unsere Aussagen aufeinander ab. Das taten wir auch bei der Vernehmung durch Inspektor Grafinger. Und schworen uns, nie wieder über diese Nacht zu sprechen.