A m nächsten Morgen schritt ich in Gedanken versunken den steilen Waldweg hinauf, der zum Teufelsspalt führte. Ich wollte noch einmal die Stelle sehen, wo Manuela vor zwanzig Jahren verschwunden war. Immer wieder ließ ich die Ereignisse Revue passieren und war so in die Erinnerungen vertieft, dass ich den Geländewagen erst bemerkte, als er schon neben mir herfuhr und schließlich stehen blieb. Das Seitenfenster senkte sich, und ich erkannte Markus Hinteregger, der jetzt als Förster arbeitete. Markus war auch bei Vaters Begräbnis gewesen, und wir hatten ein paar Worte mitsammen gewechselt.
»Grüß dich, Felicitas, soll ich dich mitnehmen?«
»Das ist nett von dir, aber ich brauche ein wenig Bewegung.«
»Du willst doch nicht zum Teufelsspalt?«
»Vielleicht, ich weiß es noch nicht.«
»Lass die alten Geschichten ruhen. Das bringt nur Unruhe ins Dorf.«
»Wer sagt denn, dass ich wegen der alten Geschichte da hinauf möchte?«
»Weswegen denn sonst? Niemand von uns war beim Teufelsspalt seit damals. Und du kennst ja die Legende, nach der alle zwanzig Jahre dort jemand verschwindet.«
»Du glaubst diese Märchen?«, fragte ich belustigt.
»Das ist kein Aberglaube«, widersprach Markus ernst. »Es sind zwanzig Jahre seit damals vergangen. Jetzt ist es bald wieder so weit, und jemand wird vom Teufelsspalt verschlungen. Pass auf, dass nicht du das nächste Opfer wirst. Wäre schade um dich.«
»Danke dir, aber ich achte schon auf mich«.
Markus streckte den Arm aus dem Seitenfenster und hob prüfend einen Finger in die Luft. »Der Wind hat gedreht. Jetzt kommt das schlechte Wetter bald zu uns. Überleg dir lieber, ob du weitergehst. Ich glaube, es zieht bald ein Gewitter auf.« Er deutete nach oben, wo sich um die Berggipfel bereits dunkle Wolken zusammenbrauten.
»Sieht überhaupt nicht nach Gewitter aus.« Ich blickte skeptisch in den blauen Himmel.
»Das geht verdammt schnell. Diese Wetterumschwünge haben wir dem Klimawandel zu verdanken.« Markus lächelte. »Soll ich dich jetzt mitnehmen? Ich muss rüber zur Enzian-Berghütte.«
»Nein danke. Aber vielleicht hast du recht. Ich glaube, ich drehe lieber um.«
»Das ist die richtige Entscheidung. Wir werden uns sicher noch öfter begegnen. Wie lange bleibst du in Dunkelsteig?«
»Weiß nicht, ich helfe meiner Mutter, Vaters Nachlass zu regeln«, gab ich vage zur Antwort. Es sollte nicht gleich der ganze Ort erfahren, dass ich mich wieder für Manus Schicksal interessierte.
»Dein Vater war eine ziemlich eigenwillige Person. Unsere Familie konnte er nie besonders leiden.«
»Das bildest du dir ein«, relativierte ich, obwohl ich wusste, dass er recht hatte. Vater hatte die Hintereggers für Bürokraten gehalten. Markus’ Familienmitglieder waren schon seit Generationen Förster. Und mein Vater hatte es mit der Jagdlizenz nicht so genau genommen. Schoss Kaninchen, wenn es ihm passte. Das war sein anarchistisches Gen, wie er stolz erklärte. Aber er hielt alle anderen für Spießer. Außer Manuela.
»Vielleicht gehen wir mal auf ein Bier, und du erzählst mir ein bisschen über dich und dein Leben.«
Überrascht blickte ich zu Markus. Er war in meinem Alter, aber wir hatten nie mehr als ein paar belanglose Worte gewechselt. Bei den Dorffesten hatte ich zwar manchmal mit ihm getanzt, ihn auch flüchtig geküsst, aber das war völlig harmlos gewesen. »Ja, das können wir gern mal machen«, erwiderte ich trotzdem, um ihn nicht zu kränken.
»Abgemacht. Du meldest dich bei mir. Also bis dann.« Markus lächelte mich verlegen an. Dann beschleunigte er den Geländewagen und fuhr schnell den Forstweg entlang.
Zügig schritt ich weiter, warf immer wieder einen nervösen Blick nach oben. Noch tummelten sich nur ein paar dunkle Wolken am Horizont, aber ein ungemütlicher Wind kam auf. ›Das schaffe ich noch bis nach Hause‹, dachte ich. Doch mit einem Mal verdüsterte sich der Himmel schlagartig. Ich lebte schon zu lange in der Großstadt und hatte deshalb die Wetterumschwünge in den Bergen völlig falsch eingeschätzt. Jetzt bereute ich es, Markus’ Angebot nicht angenommen zu haben. Bis Dunkelsteig war es auf der Forststraße noch ungefähr ein einstündiger Fußmarsch, doch dann erinnerte ich mich an eine Abkürzung, die ich mit Manu oft genommen hatte. Es war ein Trampelpfad, der durch den Wald bis an den Ortsrand führte. Vielleicht hatte ich Glück und konnte es so noch schaffen.
Ich bog von dem Weg ab und eilte mit schnellen Schritten den Pfad entlang. Doch bereits wenige Minuten später wusste ich, dass ich keine Chance hatte, dem aufziehenden Gewitter zu entkommen. Eine starke Sturmbö riss mich fast zu Boden, und mein Herz begann zu frieren. Die Dämonen der Vergangenheit hatten mich eingeholt.