E in greller Blitz zerriss das Dämmerlicht, gefolgt von einem Donner, der so gewaltig war, dass der Boden vibrierte. Dicke Regentropfen, vermischt mit Graupeln, bahnten sich ihren Weg durch die dicht stehenden Bäume. Innerhalb kürzester Zeit war ich völlig durchnässt.
»Verdammt!«, fluchte ich und begann zu laufen. Plötzlich erblickte ich hinter einem Baum eine Gestalt. Schemenhaft erkannte ich, dass es eine Frau mit langen blonden Haaren war. Wie eine Fata Morgana verschwand sie hinter den dunklen Baumstämmen, um an einer anderen Stelle plötzlich erneut aufzutauchen. Ich wischte die Tropfen aus meinem Gesicht und rieb mir die Augen. Mein Verstand sagte mir: Das kann nur eine optische Täuschung sein.
»Wer versteckt sich hinter dem Baum, Felicitas?«, hörte ich plötzlich eine weibliche Stimme wispern. Ich drehte mich im Kreis und hielt das Gesicht in den Schneeregen. Fest presste ich die Handflächen gegen meine Schläfen, um die Stimme von Manu abzuwürgen. Meine Nerven waren überreizt, es war ein Streich meines Unterbewusstseins, der mir dieses Trugbild vorgaukelte. Es erinnerte mich an das Suchspiel, das Manu und ich oft im Wald gemacht hatten.
»Manu ist tot!«, rief ich laut gegen das Unwetter an.
»Warum schweigen alle so beharrlich über die Dinge, die damals wirklich passiert sind?«, hörte ich erneut Manus Stimme. Wieder sah ich die Gestalt von Baum zu Baum huschen.
»Hör auf mich zu verfolgen!«
Ich kam vom Weg ab und lief kopflos in den Wald hinein, stolperte über Äste, rutschte auf den Tannennadeln aus, doch die Erscheinung blieb mir auf den Fersen. Leichtfüßig überholte sie mich, huschte leicht wie der Wind durch das Unterholz, lachte und schüttelte ihr blondes Haar.
»Irgendwann werden sie reden müssen, Felicitas. Du musst sie dazu zwingen. Es ist wichtig, um die Vergangenheit aufzuarbeiten. Das bist du mir schuldig.«
Mittlerweile war der Himmel pechschwarz geworden, und ein starker Regenguss prasselte auf mich herab. Keuchend blieb ich stehen und blickte umher. Wo war ich? Ich versuchte mich zu orientieren, suchte den Forstweg, konnte aber bei dem Unwetter überhaupt nichts erkennen. Langsam befiel mich Panik. Ich musste aus diesem verdammten Wald herausfinden, denn es wurde empfindlich kalt. Ich fror in meinem Trenchcoat, und meine Sneakers waren völlig durchnässt. Planlos irrte ich umher, versuchte mehrmals, mit dem Handy Mutter zu erreichen, hatte aber hier keinen Empfang.
Wie aus dem Nichts tauchte mit einem Mal eine verwitterte Jagdhütte vor mir auf. Langsam kam ich näher. An den Ästen hingen rot gefärbte Knochen, die zu Kreuzen und Sternen verbunden waren. In die Baumstämme waren merkwürdige Zeichen eingeritzt, und auf einem hölzernen Pfahl thronte ein Tierschädel. Von überall hörte ich Windspiele leise klimpern. Ich zögerte kurz, doch dann riss ich mich zusammen und stieg auf die roh gezimmerte Terrasse. Ein aus Knochen gefertigter Traumfänger hing von einem Dachbalken und tanzte vor meinen Augen im Sturm. Federn und Hasenohren schmückten ihn, und auch hier waren die Knochen blutrot bemalt. Neben der Tür lagen sauber geputzte Kaninchenschädel, die hell leuchteten. Vor Ekel schüttelte es mich, und am liebsten wäre ich umgedreht, doch in diesem Moment öffnete sich die Tür. Eine junge Frau mit Dreadlocks trat auf die Schwelle.
»Komm rein, Felicitas«, sagte sie zur Begrüßung und zog mich in das Haus. »Du bist ja völlig durchnässt.«
»Wer bist du, und woher kennst du meinen Namen?«, fragte ich verwirrt.
»Du wirst dich nicht mehr an mich erinnern«, erwiderte die junge Frau. Sie deutete zu einem durchgesessenen Sofa, das vor einem alten Kanonenofen stand, in dem ein Feuer prasselte. »Zieh deine nassen Sachen aus, sonst erkältest du dich.« Während sie sprach, schlüpfte sie aus ihrem dicken Pullover und warf ihn mir zu. Jetzt trug sie nur noch ein Tanktop, und ich sah, dass ihr Körper bis hoch zum Hals tätowiert war.
»Erklär mir bitte, woher du mich kennst«, insistierte ich und blickte in dem Zimmer umher. Auch hier hingen überall rot gefärbte Knochen an Schnüren von der Decke, und in einer Ecke waren fünf Traumfänger an die Wand genagelt. Den größten Teil des Raums nahmen allerdings die Pflanzen ein. Überall standen sie in Bottichen und Kübeln umher, und es roch durchdringend nach Cannabis. Selbst an dem Pullover, den ich übergezogen hatte, haftete dieser Geruch.
»Also gut. Vor zwanzig Jahren war ich ein kleines Mädchen und saß neben meiner Mutter in einem Zelt auf dem Jahrmarkt. Ich habe dich gleich wiedererkannt, du hast dich fast nicht verändert.«
Erst jetzt fiel bei mir der Groschen. »Du bist Ragnis, die Tochter der Wahrsagerin.«
»Richtig, meine Mutter arbeitete als Shakti, die Wahrsagerin auf den Jahrmärkten, und hat mich immer mitgenommen. Hier in Dunkelsteig nannte man sie nur die Kräuterhexe . Walpurga war ihr richtiger Name. Was hast du bei diesem Wetter im Wald zu suchen?«
»Ich wollte hinauf zum Teufelsspalt, aber das Unwetter hat mich überrascht.«
»Ach, dorthin.« Ragnis nickt wissend. »Alle zwanzig Jahre verschwindet dort ein Mensch, wenn man an den Fluch glaubt. Meine Mutter kannte die Sage.«
»Wo ist sie eigentlich? Ist das euer Haus? Wohnst du noch bei ihr?«
»Mehr oder weniger, denn sie ist im Geiste immer bei mir. Das Haus hat sie mir vererbt. Meine Mutter ist leider gestorben. Sie hatte Krebs.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Es klingt hart, aber sie war selbst schuld. Ich habe es ihr immer wieder gepredigt: Hör mit dem Rauchen auf. Aber das ist bei einer Kettenraucherin vergebliche Liebesmüh. Sie glaubte, ihre Kräuter würden sie vor dem Tod bewahren. Das war ein Irrtum, sie haben ihr nicht geholfen. Wenn man Schindluder mit seinem Körper treibt, dann rächt sich das eben eines Tages.«
»Verführst du nicht auch die Menschen dazu? Du baust Marihuana an und versorgst damit die Dorfjugend damit.« Ich deutete auf die vielen Pflanzen, die unter den Wärmelampen wie in einem Dschungel blühten. »Hast du denn keine Angst, dass dich die Polizei eines Tages erwischt?«
»Ich bin keine Dealerin!« Ragnis schüttelte empört den Kopf, und ihre Dreadlocks schlugen wie Peitschen auf ihre Schultern. »Das ist bloß Marihuana ohne THC. Daraus destilliere ich CBD-Öle und therapeutische Tees, die ich an Cannabisshops und Reformhäuser verkaufe.«
»Alles klar«, lenkte ich sofort ein. »Diese unheimlichen Knochenwindspiele draußen an den Bäumen, vertreibst du die auch?«
»Die stammen noch von meiner Mutter. Als es mit ihrer Krankheit immer schlimmer wurde, hat sie die Baumgeister um Hilfe angerufen. Leider vergeblich. Ich lasse die Knochen hängen, denn manchmal höre ich hinter dem Klappern ihre Stimme. Dann weiß ich, dass sie noch da ist.«
»Die Vorstellung, dass durch das Klappern geliebte Tote zu einem sprechen, ist irgendwie schön. Bevor ich deine Hütte fand, hatte ich auch eine merkwürdige Begegnung.« Dann erzählte ich Ragnis von der Gestalt im Wald, die mich an Manuela erinnerte.
»Sie hat mich aufgefordert, das Drama, das sich vor zwanzig Jahren am Teufelsspalt zugetragen hat, aufzuarbeiten. Kennst du die Geschichte?«
»Natürlich, wer kennt sie hier in der Gegend nicht«, erwiderte Ragnis bedrückt. »Und wirst du das tun?« Sie beugte sich vor und blickte mir in die Augen.
»Ich weiß nicht, ob ich dazu schon fähig bin«, antwortete ich leise.
»Bist du deshalb zurückgekommen, um es herauszufinden?«
»Nein, mein Vater ist gestorben, ich kam zu seinem Begräbnis. Aber kaum angekommen, war alles wieder so gegenwärtig. Auf einmal spürte ich, dass ich die Vergangenheit aufarbeiten muss, um wieder schlafen zu können. Ich träume fast jede Nacht davon.« Ich dachte an die bleiernen Nächte, in denen ich mit offenen Augen im Bett lag und mich die nur langsam verstreichende Zeit beinahe verrückt gemacht hatte.
»Warte, ich habe etwas für dich.« Ragnis sprang auf und huschte zu einer niedrigen Kommode. Sie öffnete eine Lade und kramte ein Plastiksäckchen hervor. Damit kehrte sie wieder zu mir zurück. »Gib vor dem Schlafengehen einen Löffel davon in warmes Wasser. Gut verrühren und dann auf ex trinken. Das hilft immer.« Ragnis stockte, ehe sie weiterredete. »Trotzdem musst du dich deiner Vergangenheit stellen.«
»Danke.« Ich öffnete das Päckchen. Das Pulver war bräunlich und völlig geruchslos. Obwohl ich keine Ahnung hatte, was Ragnis mir da gab, war ich sicher, dass es mir helfen würde. Ich vertraute dieser Frau, die zehn Jahre jünger war als ich, denn ich fand, dass sie für ihr Alter sehr weise wirkte.
»Du bleibst also länger hier?«
»Ich weiß es noch nicht. Eigentlich wollte ich von der Bürgermeisterin die Erlaubnis, die alten Unterlagen einzusehen. Ich dachte mir, dass ich so die Geschichte Schritt für Schritt aufarbeiten kann. Aber Dora steht dem sehr abweisend gegenüber.«
»Die Bürgermeisterin wehrt sich aus verschiedenen Gründen dagegen. Sie hat das ehrgeizige Bestreben, aus Dunkelsteig einen modernen Ort machen«, meinte Ragnis. »Da passt diese schreckliche Geschichte natürlich nicht dazu.« Sie stockte und zwirbelte eine Haarsträhne. »Ich weiß nicht, wie ernst dir dieses Aufarbeiten ist, aber vielleicht kann ich dir helfen.«
»Wie willst du das anstellen?«
»Ach, vergiss es.« Ragnis machte eine wegwerfende Handbewegung. »War nur so dahergeredet. Du schaffst das schon. Aber gib mir mal deine Handynummer. Vielleicht melde ich mich trotzdem mal.« Sie nahm meinen Arm und strich sanft über die Handfläche. »Ich kenne diese Hand«, murmelte sie dann kryptisch.
»Wie meinst du das?«
»Vor zwanzig Jahren habe ich diese Hand schon einmal betrachtet. Aber damals gehörte sie zu einem anderen Mädchen.«