E s war früh am Morgen, und Dunkelsteig wirkte unter der dünnen Schneedecke fast jungfräulich rein. Noch schliefen die Bewohner in ihren Häusern, nur in der Bäckerei brannte bereits Licht.
Mit aufgeblendeten Scheinwerfern fuhr ich durch die Straße und suchte das richtige Gebäude. Mit einem Mal erfassten die Lichter das aus Flusssteinen erbaute Haus von Karl Gmeiner. Karl war schon seit Jahrzehnten der Gemeindearzt von Dunkelsteig und kannte mich seit meiner Kindheit. Ich bremste den Wagen im letzten Moment ab und blieb mit quietschenden Reifen vor dem Haus stehen. Riss die Tür auf und eilte die wenigen Stufen zu Karls Eingangstür hinauf.
»Aufmachen! Ein Notfall!«, rief ich und hämmerte an die Tür. Im Obergeschoß ging ein Licht an und ein Fenster wurde geöffnet.
»Felicitas. Ich habe gehört, dass du wieder zurück bist. Was gibt es denn?«
»Ein Notfall. Meine Mutter atmet nicht mehr.«
»Bin sofort bei dir.«
Sekunden später erschien Karl schon in der Eingangstür. »Wo ist Erika?«, fragte er hektisch.
»Sie liegt im Wagen. Hoffentlich ist es nicht zu spät.«
»So etwas darfst du nicht einmal denken, Felicitas. Das bringt nur Unglück.«
Wir liefen zum Wagen. Karl kroch auf die Rückbank und fühlte den Puls von Mutter. Dann hob er eines ihrer Augenlider an und leuchtete mit seiner Stiftlampe auf die Pupille.
»Erika ist ohnmächtig! Bringen wir sie nach oben in die Praxis.«
Gemeinsam zogen wir sie vom Rücksitz. Mit meiner Hilfe schulterte Karl den leblosen Körper und lief zurück in seine Ordination. »Hilf mir!«, herrschte er mich an. Zusammen hoben wir Mutter auf eine Trage, und Karl riss den Koffer mit dem mobilen Sauerstoffgerät auf. Er stülpte Mutter die Plastikmaske über Nase und Mund, dann drehte er das Ventil auf. Schon nach kurzer Zeit begann Mutter wieder leise zu atmen.
»Geschafft!« Karl richtete sich seufzend auf und strich sich eine Strähne seines dünnen Haars aus der Stirn. Angespannt beobachtete er, wie sich der Brustkorb meiner Mutter hob und senkte. »Ich verabreiche ihr noch eine Spritze für die Herzaktivität, damit der Kreislauf wieder richtig in Schwung kommt.«
»Danke, du hast ihr das Leben gerettet.« Erst jetzt bemerkte ich, dass ich nur mit Schlafanzug und Bademantel bekleidet war. Aber da konnte man im Moment nichts machen.
»Was ist denn passiert?«, fragte Karl mich nach einer Weile.
»Mutter hat in der Küche das Gas aufgedreht und ist dann ohnmächtig geworden.« Ich war mir nicht sicher, ob ich Karl so direkt von dem Selbstmordversuch erzählen sollte. Vielleicht war ihr das nicht recht. Doch Karl hatte auch so verstanden, was ich damit ausdrücken wollte.
»Erika wollte sich umbringen?« Ungläubig blickte er mich an. Dann drehte er sich zu Mutter und beugte sich über sie. »Was machst du nur für Sachen, mein Liebling?« Seine Stimme klang mit einem Mal ganz sanft.« Zärtlich strich er ihr über die Wangen und küsste sie dann vorsichtig auf die Stirn.
»Ihr seid schon eine seltsame Familie«, meinte Karl, als er meine überraschte Miene sah. »Du hast richtig gesehen. Ich habe Gefühle für Erika. Wenn sie damals auf mich gehört hätte, dann wäre ihr das alles nicht passiert.«
»Mutter hat nie etwas davon erzählt. Hattet ihr ein Verhältnis?«, fragte ich irritiert. Soweit ich mich zurückerinnern konnte, waren meine Eltern trotz aller Streitereien immer eine Einheit gewesen. Da gab es keinen Platz für einen anderen Partner. Aber anscheinend hatte ich mich getäuscht.
»Was ist das für eine Frage, Felicitas?« Karl warf einen schnellen Blick auf meine Mutter, die friedlich unter der Sauerstoffmaske atmete. »Das mit uns beiden geschah alles lange, bevor sie Franz Laudon aus Wien kennenlernte.«
»Aber mein Vater ist doch wegen ihr hiergeblieben und hat seine Karriere in Wien aufgegeben. Das muss Liebe gewesen sein.«
»Franz hatte keine andere Wahl. Erika hätte ihn sonst angezeigt.«
»Was redest du da?« Ich konnte mir keinen Reim auf Karls Bemerkung machen. Nie hatte es in meiner Familie Anzeichen von häuslicher Gewalt gegeben. Mein Vater schrie auch nur ganz selten wütend herum, seine Spezialität waren verletzende Bemerkungen, die oft viel schlimmer waren als Flüche und Schreie.
Karl antwortete nicht, sondern ging an seinen Schreibtisch, zog eine Lade auf und holte eine Flasche Cognac und zwei Gläser hervor. Er goss einen Fingerbreit Cognac in jedes Glas und reichte mir eines davon.
»Trinken wir auf Erikas Genesung«, meinte er und hob sein Glas.
»Was hat es mit dieser Anzeige auf sich?«, ließ ich nicht locker.
»Ach, lassen wir die alten Geschichten doch ruhen. Erika würde das sicher nicht wollen.«
»Aber ich möchte die Wahrheit erfahren. Darauf habe ich ein Recht.« Genervt trank ich das Glas auf ex leer.
»Wie du meinst. Auch noch eines?« Karl zeigte auf die Cognacflasche, doch ich winkte ab. Er goss sich ein weiteres Glas ein, bevor er anfing zu erzählen.
»Franz war vor knapp vierzig Jahren hier in den Bergen zur Sommerfrische. Ich machte gerade eine Famulatur bei dem Gemeindearzt in Schwarzach und kam nur am Wochenende nach Dunkelsteig. Damals war ich sehr schüchtern und schaffte es nicht, deiner Mutter meine Liebe zu gestehen. Wir gingen zwar manchmal zusammen aus, aber zu mehr als einem scheuen Kuss ist es nie gekommen.« Karl stockte und seine Miene verklärte sich, als er zurückdachte. »Deine Mutter war eine attraktive Frau. Wenn sie den Sommer über im Wirtshaus aushalf, wurde sie mit Komplimenten überschüttet. So auch von Franz Laudon. Aber seine Höflichkeiten waren nicht so direkt, sie waren rätselhafter, interessanter, und er sah gut aus. Eines Abends, als der Gasthof geschlossen hatte, wartete er auf Erika. Er schob ihr Fahrrad und wollte sie unbedingt nach Hause begleiten. Es war Neumond und der Weg finster und einsam. Da ist es passiert.«
»Was ist passiert?«, bohrte ich nach.
»Das reicht jetzt.« Abrupt stand Karl auf und kam auf mich zu. »Es ist besser, wenn du gehst. Erika bleibt bis morgen hier, damit ich sie noch einmal untersuchen kann.«
»Nein, ich möchte sofort wissen, was damals vorgefallen ist!« Ich stemmte meine Hände in die Hüften und stellte mich breitbeinig vor Karl.
»Franz hat Erika auf dem Heimweg vergewaltigt«, antwortete Karl und blickte dabei zu Boden.
»Das ist nicht wahr!« Ungläubig starrte ich auf Karl, schüttelte immer und immer wieder den Kopf. »Du lügst mich doch an.«
»Erika kam noch in der Nacht weinend zu mir. Ich habe sie in meiner Eigenschaft als angehender Mediziner untersucht und alles dokumentiert. Es war genauso, wie ich es sage.«
»Und was ist dann weiter geschehen?«, fragte ich mit kratziger Stimme. Ich musste schlucken, spürte einen Kloß im Hals, und instinktiv wusste ich bereits die Antwort.
»Erika wurde schwanger und bekam ein Kind. Franz heiratete sie und blieb als Lehrer hier im Ort. Niemand wusste von der Vergewaltigung, nur ich.«
»Mutter hat also das Kind bekommen?« Ich zögerte, mich der Wahrheit zu stellen. »Dieses Kind bin ich.«
»Ja, das bist du, Felicitas.« Verschwörerisch beugte sich Karl vor. »Du darfst aber Erika niemals erzählen, dass du von dieser bösen Geschichte weißt. Das würde ihr das Herz brechen.«
»Und was ist mit meinem Herzen? Darum schert sich wohl kein Mensch!«, antwortete ich und konnte mich nur mühsam beherrschen, nicht laut loszuschreien.
»Aus Rücksicht auf deine Psyche haben deine Eltern und ich all die Jahre geschwiegen.«
Ich würgte meine ganze Abscheu hinunter, gleichzeitig aber liefen mir die Tränen über die Wangen. Jetzt wurde mir auch das kühle Verhältnis zu meinem Vater klar. Wir hatten uns nie richtig leiden können. Ich erinnerte mich wieder an seine abfälligen Bemerkungen, wenn es um mein Aussehen ging, und seine Geringschätzung über meine schulischen Erfolge. Vielleicht hatte er seine Tat verdrängt, aber ich war täglich aufs Neue der lebende Hinweis dafür.
»Warum hast du mir jetzt davon erzählt?«
»Damit du gewisse Dinge in deinem Elternhaus verstehst. Franz machte dich ein Leben lang für das Scheitern seiner Karriere in Wien verantwortlich.«
Ich antwortete nicht, sondern starrte in das friedlich entspannte Gesicht meiner Mutter. Sie schlief. Warum nur war sie damals nicht zur Polizei gegangen? Franz Laudon wäre verhaftet worden und sie hätte Karl geheiratet. Da wäre es ihr sicher besser ergangen als an Vaters Seite. Aber jetzt war es müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn der Glücksstrom des Lebens war an Mutter vorbeigerauscht und hatte sie nicht mitgenommen. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden, so wie viele Frauen ihrer Generation.
»Das ist mir jetzt alles etwas zu viel.« Ich musste mich an Karls Schreibtisch festhalten und spürte, dass ich gleich durchdrehen würde. »Hast du ein Beruhigungsmittel für mich?«
»Natürlich.« Karl ging zu seinem Giftschrank und holte einen Schlüssel aus der Tasche. »Diesmal brauchst du mich nicht so abzulenken wie damals.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Du verstehst mich sehr gut, Felicitas. Es war ein paar Tage vor Manuelas Verschwinden, als ihr beide bei mir gewesen seid. Ich verschrieb Manuela ein homöopathisches Beruhigungsmittel und du fühltest dich unbeobachtet, doch ich habe gesehen, was du getan hast.«