D ie beiden Mädchen saßen im Wartezimmer des Gemeindearztes und blätterten gelangweilt die Zeitschriften durch. Als die Tür zur Ordination geöffnet wurde und der Arzt ins Wartezimmer trat, flüsterte eines der Mädchen dem anderen noch schnell ins Ohr: »Du weißt, was du zu tun hast.«
Felicitas nickte stumm, und beide standen artig auf.
»Was kann ich für euch tun?« Karl Gmeiner, der Arzt, rückte seine Brille zurecht und wartete, bis Manuela und Felicitas auf den harten Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatten.
»Ich brauche etwas gegen den Schulstress«, sagte Manuela mit treuherzigem Augenaufschlag. »Diese Woche haben wir die letzten Prüfungen für das Abitur, dann ist Gott sei Dank alles vorbei.«
»Willst du es nicht mal mit Meditation versuchen?«, fragte Karl. »Ein Beruhigungsmittel ist nicht die richtige Lösung, glaube ich.«
»Ich kann nicht meditieren, dazu bin ich viel zu aufgeregt. In der Nacht finde ich kaum noch Schlaf«, erwiderte Manuela. »Und der Lernstoff ist gewaltig.«
»Unsere Lehrer machen mächtig Druck«, mischte sich jetzt auch Felicitas ein. »Mir geht es ähnlich wie Manu. Ich habe Kopfschmerzen und immer einen trockenen Mund.« Felicitas drehte den Kopf zur Seite. »Kann ich mir ein Glas Wasser holen?«
»Warte, ich bringe dir was zu trinken.« Karl rückte seinen Stuhl zurück und wollte sich erheben.
»Was empfehlen Sie mir?«, fragte Manuela dazwischen. »Ich brauche wirklich etwas, sonst klappe ich zusammen.«
»Also, es gibt mehrere Möglichkeiten.« Karl sank wieder in seinen Stuhl zurück. Er griff nach einem dicken Kompendium, das auf seinem Schreibtisch lag, und blätterte geschäftig darin herum. »Ich habe da eine indische Heilpflanze entdeckt, die sich wohltuend auf die Psyche und das gesamte Nervensystem auswirkt.«
»Das hört sich interessant an. Können Sie mir mehr darüber erzählen?«
»Darf ich eines der Gläser aus dem Schrank nehmen?« Felicitas war in der Zwischenzeit aufgestanden und zu dem Waschbecken gegangen, das sich hinter dem Schreibtisch befand.
»Kannst du nicht warten, bis ich alles mit Manuela besprochen habe?« Karl beugte sich nach hinten und beobachtete genau, wie Felicitas ein Glas aus dem Wandschrank holte.
»Und dieses indische Mittel hilft gegen Schulstress?« Manuela heuchelte Interesse und beugte sich über den Schreibtisch. Auf diese Weise versuchte sie, die Aufmerksamkeit von Karl auf sich zu ziehen. »Ich habe noch nie davon gehört. Was ist das für eine Pflanze? Verwenden das die Inder auch?«
»Es ist auf alle Fälle beruhigend. Felicitas, setz dich bitte wieder hin«, antwortete Karl unkonzentriert und reckte den Kopf nach dem Mädchen.
›Verflucht! Unsere ganze Aktion ist in Gefahr‹, ging es Manuela durch den Kopf. Karl ließ Felicitas keinen Moment aus den Augen. Jetzt musste sie handeln. Manuela beugte sich nach vorne und berührte mit ihren Fingern die Hand des Arztes. »Können Sie mir mehr über das indische Wundermittel erzählen?«, fragte sie mit samtweicher Stimme.
Irritiert zog Karl seine Hand zurück, räusperte sich und blätterte in seinem Kompendium, um Manuela die Wirkungen der Pflanze vorzulesen. Während er den Text laut vortrug, beobachtete Manuela aus den Augenwinkeln, wie Felicitas den Wasserhahn aufdrehte. Auf Zehenspitzen huschte sie dann schnell zu dem Giftschrank, in dem Karl seine verschreibungspflichtigen Medikamente und Amphetamine aufbewahrte. Der Schlüssel steckte, und Felicitas brauchte nur die Tür zu öffnen.
›Los, mach schon!‹, feuerte Manuela in Gedanken ihre Freundin an. Adrian hatte von Pillen gesprochen, die eine euphorische Wirkung erzeugten. Und derartige hatte Karl in seiner Praxis. Während das Wasser aus dem Hahn plätscherte und Karl mit monotoner Stimme Manuela die Wirkung des Präparats erläuterte, beobachtete diese, wie Felicitas blitzschnell den Giftschrank öffnete. Mit geschickten Fingern griff sie nach zwei Packungen und ließ sie in ihrer Jackentasche verschwinden. Dann schloss sie lautlos den Schrank und huschte zum Becken zurück, um sich ein Glas Wasser einzuschenken.
»Da bin ich auch schon wieder.« Schwungvoll nahm Felicitas neben Manuela Platz und strahlte Karl fröhlich an. »Und konnten Sie Manu helfen?«
»Ich gebe ihr eine indische Heilpflanze, die beruhigend wirkt.« Karl erhob sich und trat zu einem Wandregal, in dem eine Fülle von Dosen und Schachteln stand. Er griff nach einer kleinen Dose und stoppte. Sein Blick schweifte zum Giftschrank. Mit gerunzelter Stirn ging Karl darauf zu, drehte den Schlüssel, doch die Tür war bereits offen. Nachdenklich stand er vor dem Schrank und ließ seinen Blick über die verschiedenen Produkte gleiten.
›Hoffentlich merkt er nicht, dass etwas fehlt‹, dachte Manuela, die ihn dabei genau beobachtete. Sie hielt den Atem an, und ihr Herz pochte bis zum Hals. Karl griff zu dem Schlüssel und sperrte ab. Mit finsterer Miene setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, durchbohrte Felicitas mit Blicken, doch diese hielt den Kopf gesenkt.
»Hier ist das Produkt.«
Manuela konzentrierte sich auf das Medikamentendöschen.
»Du nimmst täglich zwei davon.«
»Wirkt es auch sofort?«, fragte Manuela nervös, denn der Schreck saß ihr noch immer in den Gliedern. »Morgen habe ich bereits eine Matheklausur.«
»Dann nimmst du heute Abend am besten zwei Stück davon.« Karl holte einen Block hervor und notierte mit seiner unleserlichen Handschrift die Dosierung für das Medikament. Dann schob er den Zettel zu Manuela.
»Danke, Sie haben mir sehr geholfen, Doktor.« Manuela schenkte Karl ein strahlendes Lächeln.
»Nimmst du eigentlich immer eine Freundin mit, wenn du einen Arztbesuch machst?«, fragte Karl.
»Manchmal, ich bin ein ängstlicher Typ.«
»So ist das also. Dann viel Glück euch beiden bei der morgigen Klausur.« Karl öffnete die Tür seiner Ordination, und Manuela schlüpfte schnell nach draußen. Als Felicitas an Karl vorbei in den Warteraum treten wollte, hielt dieser sie am Arm zurück.
»Hast du mir nichts zu sagen, Felicitas?«
»Nein, was denn?«
Karl blickte sie lange an, dann ließ er ihren Arm los. »Ich hätte dich für klüger gehalten«, murmelte er ihr hinterher.
»Was wollte denn der Doc von dir?«, fragte Manuela Felicitas, als sie aus der Praxis trat.
»Ich glaube, er ahnt, dass ich was geklaut habe. Hoffentlich hat das kein böses Nachspiel.«
»Ach Blödsinn! Mit diesen Pillen machen wir uns eine tolle Party.« Manuela legte den Arm um die Schulter ihrer Freundin. Jetzt hatte sie ihre Selbstsicherheit wiedergefunden und spielte das coole Mädchen, das alle kannten.