KAPITEL SECHZEHN

I ch stand auf der Straße vor Karls Arztpraxis, und wie so oft spielten meine Augen verrückt. Die Umgebung begann zu flackern, die Pfarrkirche von Dunkelsteig wurde unscharf und verschmolz mit der steilen Felswand, die hinter dem Kirchturm in den Himmel ragte.

»Alles wird gut«, flüsterte ich und presste die Handballen gegen meine Schläfen. Zu viel war in den letzten Stunden passiert. Zuerst der Selbstmordversuch meiner Mutter, dann die niederschmetternde Erkenntnis, dass ich vielleicht das Produkt einer Vergewaltigung war. Noch immer pochte mein Herz wie verrückt, und ich bekam fast keine Luft zum Atmen.

Langsam schritt ich über den Dorfplatz auf die Kirche zu. Die meisten Häuser lagen noch im Dunkeln, und die Bewohner schienen zu schlafen. Zum Glück nahm das Flackern an Intensität ab, und die Umgebung beruhigte sich wieder. Wie in Trance stieg ich die Stufen zur Kirche hinauf und blieb vor dem großen Eingangstor stehen. Ich stemmte mich gegen das massive Holz, und mit einem leisen Quietschen schwang der Türflügel auf. Eiskalte Luft strömte mir entgegen. Das Innere der Kirche war in einem ländlichen Barockstil mit viel Blattgold und einem schön geschnitzten Altar. Ich erinnerte mich, dass ich ihn sogar einmal in einer Kunstzeitschrift entdeckt hatte. Das Deckengewölbe zierte eine Pieta in leuchtenden Farben, und auf den Pulten vor den Sitzreihen lagen die Gebetbücher wie mit dem Lineal ausgerichtet. Durch die hohen, mit Glasmalereien verzierten Fenster drang nur wenig Licht in dünnen Bahnen in den Raum.

Mit einem Seufzer setzte ich mich auf eine Bank und schloss die Augen. Langsam begann ich mich zu entspannen. »Eine Kirche ist tatsächlich ein idealer Ort für Meditation«, murmelte ich. In Berlin wäre ich nie auf die Idee gekommen, ein Gotteshaus zu besuchen. Aber in Dunkelsteig war vieles anders.

Während ich die vergangenen Stunden Revue passieren ließ, hörte ich plötzlich ein leises Geräusch. Es klang wie ein hohes Piepsen, und ich konnte nicht feststellen, ob es von einem Menschen oder einem Tier stammte. Doch dann hörte ich leises Trippeln und eine dünne Stimme.

»Felicitas!«

Ich schreckte hoch und sah mich um. Konnte aber auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches entdecken, denn der Kirchenraum lag im Dunkeln. Vielleicht war ich kurz eingenickt und hatte nur geträumt.

»Felicitas, komm zu mir!«

Wieder ertönte diese Stimme. Hoch und unheimlich drang sie vom Altar her zu mir.

»Wer ist da?«, rief ich, und meine Frage hallte in dem leeren Kirchenschiff wider. ›Das ist keine Täuschung, jemand ist in der Kirche und ruft nach mir‹, ging es mir durch den Kopf.

Aufgeregt eilte ich den Mittelgang entlang nach vorne, am Altar vorbei, denn aus diesem Teil der Kirche waren die Rufe gekommen. Hinter dem Altar befand sich die Sakristei. Ich drückte die Klinke, doch es war abgesperrt. Wo also konnte sich der geheime Rufer verstecken? Suchend blickte ich umher. Dann sah ich die niedrige Tür, die in den Glockenturm führte. Sie war nur angelehnt. Ohne zu überlegen, stieß ich sie auf und blickte die enge Wendeltreppe nach oben. Hörte ein Geräusch, das sich wellenförmig bis zu mir ausbreitete. Es war ein Trippeln, so als würde jemand mit großer Hast die Stufen hinaufeilen.

»Hallo, ist da jemand?«, rief ich.

»Felicitas!«

Wieder hörte ich nur meinen Namen und das emsige Trippeln weit über mir. Ich fasste all meinen Mut zusammen und hastete die Treppe hinauf. Nahm immer drei Stufen auf einmal. Ich wollte dieser Sache auf den Grund gehen.

Plötzlich war die steinerne Treppe zu Ende, und ein kalter Wind, der durch leere Fensteröffnungen drang, pfiff mir eisig entgegen. Ein großer schwarzer Vogel flatterte mit wütendem Flügelschlag auf mich zu und stieß dabei krächzende Schreie aus. Vor Schreck riss ich die Arme hoch, um mein Gesicht zu schützen, verlor dabei das Gleichgewicht und wäre um ein Haar die Wendeltreppe hinuntergestürzt. Doch im letzten Moment konnte ich mich an der hölzernen Glockenaufhängung festhalten. Der schwarze Vogel schlug aggressiv mit seinen Krallen gegen die Bronzeglocke, schreckte dabei schlafende Tauben auf, die ebenfalls hektisch durch den Raum flatterten. Dann flog er auf die Fensterbrüstung und segelte in den beginnenden Morgen hinaus.

Endlich war Ruhe eingekehrt. Ich atmete tief durch und konzentrierte mich wieder auf den Rufer.

»Wo bist du?«

Gebückt schlich ich unter der großen Glocke hindurch und beugte mich aus einer Fensteröffnung. Rund um die Turmfenster gab es einen Sims mit einer niedrigen Brüstung. Konnte es sein, dass sich der geheimnisvolle Rufer dort versteckte? Kurz entschlossen kletterte ich nach draußen und wagte mich auf den schmalen Sims. Als ich einen kurzen Blick nach unten warf, spürte ich Höhenangst meine Eingeweide hochkriechen. Meine Knie zitterten, und der Schweiß brach mir aus. Ich krallte meine Hände in das Mauerwerk und konnte mich mit einem Mal weder vor- noch zurückbewegen. Wieder sah ich hinunter auf den Dorfplatz. Aus dieser Perspektive wirkten die Häuser wie Spielzeugbauten. Unmerklich wurde ich immer weiter nach vorne gezogen, bis ich mit den Knien an die niedrige Brüstung stieß.

Plötzlich begannen die Kirchenglocken mit aller Macht zu läuten, und der Klang war so tief und mächtig, dass ich beinahe das Gleichgewicht verlor. Ich schwankte vor und zurück. In meinen Ohren dröhnten die Glocken, und ich glaubte, taub zu werden. Ich schloss die Augen und ließ mich von dem düsteren Läuten immer weiter nach vorne zur Brüstung leiten. Doch bevor ich endgültig die Balance verlor, packte mich eine starke Hand und zog mich zu einem der Fenster.

»Das ist keine Lösung, Felicitas!«

Ich riss die Augen auf und blickte in das sorgenvolle Gesicht des Pfarrers.

»Steig ganz vorsichtig wieder durch das Fenster zurück«, rief er mir im Lärm des Glockenläutens zu.

»Okay.« Ich hörte seine Stimme nur verwischt durch ein penetrantes Klingeln und Pfeifen in meinen Ohren. Doch als ich wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte und die Glocken verstummten, verschwand auch der Pfeifton. Völlig geschafft hockte ich mich und atmete tief durch.

»Es ist besser, du sprichst mit Gott«, sagte der Pfarrer und faltete meine Hände zum Gebet. »Sich das Leben zu nehmen ist der falsche Weg. Auch wenn du deinen Vater geliebt hast, es gibt immer einen Ausweg.«

»Ich wollte mich nicht umbringen«, widersprach ich. »Eine Stimme hat meinen Namen gerufen und mich hierhergelockt. Und plötzlich ist ein riesiger schwarzer Vogel über mich hergefallen.«

»Das ist unser Turmfalke, der hier lebt. Wahrscheinlich hat er sich durch dein Auftauchen bedroht gefühlt.«

»Und die Stimme?«, ließ ich nicht locker. »Außerdem habe ich deutlich Schritte gehört.«

»Das waren vielleicht die guten Seelen, die manchmal herumwandern. Im Kirchturm gibt es eine Menge davon. Die Geräusche hast du für Schritte und Stimmen gehalten.«

»Vielleicht haben Sie recht«, erwiderte ich, obwohl ein leiser Zweifel in meinem Kopf umherkreiste. Langsam stand ich auf und klopfte den Staub von meinem Morgenmantel. Ich hatte noch immer meinen Pyjama an. »Danke, dass Sie mir geholfen haben, Herr Pfarrer. Ich mache mich jetzt auf den Heimweg.«

»Du kannst immer zu mir kommen, mein Kind«, sagte er mit einem gütigen Lächeln.

Ich nickte und stieg die Wendeltreppe nach unten. Als ich auf den Dorfplatz trat, hatte ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle.

»Von Dunkelsteig lasse ich mich nicht unterkriegen.«