M it gerunzelter Stirn starrte ich auf mein lebloses Handy, denn die Verbindung war mit einem Mal unterbrochen worden.
»Verdammt! Kein Netz mehr.« So war das eben in den Bergen. Der Kontakt zur Außenwelt hing von den Launen der Natur ab. Früher war der Steig die einzige Verbindung ins Dorf gewesen. Daher kam auch der Name Dunkelsteig: der dunkle Steig. Wenn der unpassierbar war, dann war Dunkelsteig von der Außenwelt abgeschnitten. Jetzt brach bei Sturm oder Gewitter der Funkverkehr zusammen. Nichts hatte sich geändert.
Seufzend legte ich das Handy auf den Nachttisch. Ich wollte mich gerade wieder in die Kissen zurücklehnen, als ich von draußen ein Geräusch hörte. Es klang, als würde jemand die Klinke der Eingangstür nach unten drücken. Vorsichtig stieg ich aus dem Bett und tappte barfuß hinaus auf den Gang. Konnte es sein, dass meine Mutter in die Nacht hinausspazierte und schon wieder die Nähe zu ihrem verstorbenen Mann suchte? Nach dem, was am gestrigen Morgen in der Küche passiert war, wäre es ihr zuzutrauen.
Mutters Zimmer lag am anderen Ende des Korridors. Leise öffnete ich die Tür und lugte durch einen Spalt hinein. Sie schlief tief und fest. Vorsichtig griff ich nach der Pillenpackung, die auf dem Beistelltischchen lag. Ich fühlte im Blister, dass eine Tablette fehlte. Mutter hatte ein starkes Schlafmittel genommen und konnte also unmöglich an der Tür gewesen sein.
Mit einem Mal erstarrte ich und lauschte. Undeutlich waren Schritte zu hören, die um das Haus schlichen. Blitzschnell eilte ich in den Flur, huschte die Treppe hinunter und schlich ins Wohnzimmer. Durch die Terrassentüren glaubte ich, schemenhaft die Umrisse einer Gestalt zu erkennen – oder spielten meine Augen schon wieder verrückt? Ich wagte mich näher an die Scheibe heran und öffnete mit einem Ruck die Tür.
»Ist da jemand?«, rief ich ins Dunkel hinaus und trat mit nackten Füßen auf die Waschbetonplatten. Die beißende Kälte drang wie spitze Nadeln in meine Fußsohlen und ließ mich zusammenzucken. Trotzdem schritt ich bis an den Rand der Terrasse. Starrte in die eisige Nacht. Von fern war das Bellen eines Hundes zu vernehmen und das gleichmäßige Rauschen des Bachs. Sonst hörte ich nichts.
»Da habe ich mich wohl getäuscht«, sprach ich laut in das Schwarz hinein.
Vor Kälte schlotternd ging ich wieder zurück ins Wohnzimmer und schloss die Terrassentür. Doch kaum war ich in dem Raum angelangt, hörte ich erneut leise Schritte, die auf dem Waschbetonweg das Haus umrundeten. Keuchend presste ich die Handballen gegen meine Schläfen und schloss die Augen. Zählte bis zehn und kontrollierte meine Atmung. Dann hob ich den Kopf und lauschte. Doch das Geräusch war noch immer da. Also konnte es keine Einbildung sein. Entschlossen trat ich in den Flur und sah mich nach einer geeigneten Waffe um. In einem Schirmständer entdeckte ich Vaters Gehstock, den er nach seiner Hüftoperation benutzt hatte. Er war aus kompaktem Kirschholz gefertigt und lag gut in der Hand. Damit schlich ich zur Eingangstür. Jetzt war das Geräusch ganz deutlich zu vernehmen. Ich legte das Ohr an die Tür, hörte leises Atmen. Vorsichtig drehte ich den Schlüssel im Schloss um und hob den Stock, um mich zu verteidigen, wenn Gefahr drohte. Dann öffnete ich ruckartig und stand einer Gestalt gegenüber. Instinktiv riss die Person ihr Handy hoch. Blendete mich mit dem Strahl der Taschenlampe, sodass ich heftig blinzeln musste und nichts erkennen konnte. Sie versetzte mir einen Stoß gegen die Brust, und ich taumelte zurück. Diese Sekunde nutzte die Person zur Flucht. Leichtfüßig rannte sie den steilen Weg hinunter.
»Stehen bleiben!« Sofort hatte ich mich von dem Schreck erholt und nahm die Verfolgung auf. Die beißende Kälte machte meine nackten Fußsohlen völlig gefühllos, doch ich biss die Zähne zusammen und rannte weiter. Die fremde Gestalt hatte den Zufahrtsweg verlassen und sprintete über die Wiese auf die Bäume zu. Ich versuchte, ihr den Weg abzuschneiden, doch da hatte sie bereits den Wald erreicht. Mit einem Satz verschwand sie im Unterholz.
»Verflucht!« Keuchend blieb ich stehen. Die feuchte Kälte kroch meine Beine hinauf, und ich hatte das Gefühl, als würde ich mich in einem riesigen Eisschrank befinden. Zitternd lief ich zurück zum Haus.
Die Eingangstür stand offen, und die Lampe aus dem Flur warf einen schmalen Lichtstreifen auf die abbröckelnde Betontreppe. Auf der obersten Stufe lag etwas, das ich nicht genau erkennen konnte. Als ich näherkam, sah ich, dass es ein kleines Päckchen war. Ich hob es auf und schüttelte es. Es war leicht, und im Inneren rutschte etwas hin und her. Mit der Schachtel in der Hand ging ich zurück ins Wohnzimmer. Zunächst zog ich den dicken Morgenmantel meiner Mutter an, dann setzte ich mich auf das Sofa. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Das Päckchen stellte ich auf den niedrigen Couchtisch und betrachtete es argwöhnisch von allen Seiten. Ein unbestimmtes Gefühl hinderte mich daran, es sofort zu öffnen. Es war ein abgenutzter Karton, der anscheinend schon verwendet worden war, denn die Ecken waren eingerissen und nur notdürftig mit Klebeband fixiert. Auf die Oberseite war ein Zettel geklebt, auf dem handschriftlich Für Felicitas stand.
Ich strich mit den Fingerspitzen über die beiden Worte, musterte die Handschrift, aber sie kam mir nicht bekannt vor. Warum hatte man dieses Päckchen mitten in der Nacht vor meine Tür gestellt? Und weshalb war der Bote geflohen? Ich versuchte, mich an die Gestalt zu erinnern, aber vor meinem geistigen Auge sah ich nur einen undefinierbaren Schatten.
»Du kannst nicht die ganze Nacht diese blöde Schachtel anstarren«, murmelte ich schließlich halblaut und setzte mich aufrecht. Vorsichtig öffnete ich den Deckel. Doch alles, was ich erkennen konnte, war zerknülltes Seidenpapier. ›Wozu der ganze Aufwand?‹, dachte ich enttäuscht. Die Schachtel war leer, jemand wollte sich wohl einen dummen Scherz mit mir erlauben. Ich wollte den Deckel schon wieder schließen, da sah ich das schmale Bändchen, das unter dem zerknüllten Papier lag. Vorsichtig zog ich es heraus, hielt es ins Licht. Es war ein geknüpftes rotes Freundschaftsarmband. Ich drehte es um, sah den blauen Faden, der in den Stoff eingewebt war, und den Namen. Dann begann ich mit Tränen in den Augen unkontrolliert zu zittern.