I ch fühlte mich etwas sicherer, als ich endlich die Straße nach Dunkelsteig erreichte. Denn noch immer steckte mir der Schreck in allen Gliedern. War es Zufall gewesen, dass Johannes auf mich geschossen hatte, oder Absicht? Und welche Rolle spielt Markus bei dieser ganzen Angelegenheit? Er war mir am Hochstand so unangenehm nahegekommen, hatte freimütig zugegeben, dass er uns vor zwanzig Jahren oft beobachtet hatte. Was hatte er tatsächlich gesehen? Steckten hier alle unter einer Decke?
Als ich die Ortseinfahrt erreichte, fuhr ein Wagen mit Berliner Kennzeichen so knapp an mir vorbei, dass mich der Außenspiegel berührte.
»Idiot!«, rief ich wütend hinterher, musste dann aber wieder an Johannes denken. Was bezweckte er mit diesen Aktionen? Wollte er mich zermürben? Dass ich Angst bekam und wieder nach Berlin zurückkehrte? Aber diesen Gefallen würde ich ihm mit Sicherheit nicht tun.
Das Haus meiner Mutter tauchte auf, und ich atmete erleichtert durch. Langsam fiel die Anspannung von mir ab, und eine bleierne Müdigkeit brach über mich herein. Im Flur ließ ich den Rucksack fallen und wollte nur noch in mein Bett.
»Wie siehst du denn aus?« Mutter trat aus der Küche. »Du bist voller Schmutz.«
»Ich habe mich auf dem Weg zum Teufelsspalt verirrt und bin hingefallen.« Von dem Zusammentreffen mit Johannes und Markus erwähnte ich nichts, denn ich wollte sie nicht unnötig aufregen.
»Lass doch endlich die Vergangenheit ruhen, Felicitas.«
»Warum will das ganze Dorf eigentlich nicht, dass ich meine Vergangenheit aufarbeite? Ich möchte doch nur wissen, was wirklich da oben mit Manu passiert ist.«
»Das ist es ja eben. Du fragst herum und willst zum Teufelsspalt hinauf. Das verstehen die Leute nicht. Außerdem bist du Journalistin. Sie haben Angst, dass sich die Presse wieder an den Fall erinnert. Gerade in diesem Jahr dürfen wir diese tragische Geschichte auf gar keinen Fall erwähnen.«
»Warum das denn? Wegen der Touristen?«, fragte ich, weil mir gerade der Wagen aus Berlin in den Sinn kam.
»Nein, sondern weil es genau zwanzig Jahre her ist. Es darf niemand mehr verschwinden.«
»O Gott, der alte Fluch.« Genervt verdrehte ich die Augen.
»Das ist kein Aberglaube. Warum meinst du immer, dass die alten Sagen Unsinn sind? Sogar in unserer Kirchenchronik wird dieser Fluch erwähnt.« Abwartend sah mich Mutter an, doch an meiner Miene merkte sie, dass sie mich nicht überzeugen konnte. »Ich sehe schon, du willst mir nicht glauben. Besser, ich kümmere mich wieder um den Abwasch.«
»Lass mich dir helfen.« Ich spürte, dass jetzt der beste Zeitpunkt war, um mit ihr über Franz zu reden. Behutsam würde ich sie auf das Thema meiner Zeugung hinlenken, ohne mein Versprechen zu brechen, das ich Karl gegeben hatte.
Schweigend wusch Mutter das Geschirr, während ich die Teller abtrocknete. Schließlich hielt ich diese Stille nicht mehr aus und fragte sie: »Musst du mir nicht noch etwas erzählen?«
»Ich kanns mir schon denken«, seufzte Mutter und wischte sich die nassen Hände an ihrer Schürze ab. »Karl hat in der Nacht seinen Mund nicht halten können. Also gut, es ist Zeit, reinen Tisch zu machen.« Mutter ging zu dem kleinen Wandschrank, holte den Wacholderschnaps und zwei Gläser heraus. »Den hat dein Vater noch selbst gebrannt«, murmelte sie und stellte die Flasche auf den Tisch. »Schenk uns die Gläser voll.«
Unwillkürlich musste ich grinsen. Karl hatte genau das Gleiche gemacht, als er mir die Geschichte erzählte. Sie hätten wirklich gut zusammengepasst.
Wir prosteten uns zu und tranken den Schnaps auf ex. Mutter räusperte sich und knetete den Zipfel ihrer Schürze zwischen den Fingern. »Karl hat sicher übertrieben und von einer, na du weißt schon, gesprochen. Aber so war das nicht.«
»Du meinst eine Vergewaltigung? Wie war es dann?«, fragte ich verwundert, denn Karl hatte auf mich nicht den Eindruck gemacht, als würde er maßlos übertreiben.
»Es stimmt schon, ich hatte überall am Körper Abschürfungen. Deswegen drängte Karl mich ja auch, zur Polizei zu gehen. Aber diese Kratzer waren doch alles Liebesbeweise. Karl hat das nicht verstanden.«
»Liebesbeweise?« Schlagartig änderte sich das Bild, das ich von meiner Mutter hatte. War sie tatsächlich eine so leidenschaftliche Liebhaberin gewesen, wie sie sich jetzt darstellte?
»Du brauchst gar nicht so skeptisch dreinzusehen. Franz hat mich völlig enthemmt genommen. Ich war zwar noch Jungfrau, aber mein natürliches Lustempfinden hat ihn zur Raserei getrieben«, erzählte Mutter nicht ohne Stolz. »Dabei haben wir natürlich nicht aufgepasst. Es ging alles so schnell wie in einem Rausch. So richtig animalisch. Das wäre mit Karl nie möglich gewesen.« Mutter schenkte uns noch ein Glas Schnaps ein. Wieder tranken wir auf ex.
»Warst du verliebt in Franz?«
»Was ist schon Liebe? Davon kann man nicht leben. Franz war eben ein richtiger Mann. Als ich mit dir schwanger wurde, übernahm er sofort Verantwortung. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig. Wir heiraten , sagte ich zu ihm, und er wusste, da gibt es keine Widerrede. Der gebildete Mann aus der Stadt musste ganz formell um meine Hand anhalten. Das Ganze war natürlich nicht leicht für mich, denn ich hatte ja Karl mein Herz geschenkt. Aber wer will schon eine Frau mit dem Kind eines anderen? Dein Vater hat alles sofort akzeptiert. Er fügte sich. Ich habe diesen Schritt nie bereut.«
»Auch jetzt nicht, als du auf der Krankenstation lagst und Karl dich so liebevoll betreut hat?«
»Den Augenblick, in dem etwas mit Karl möglich gewesen wäre, habe ich ungenutzt verstreichen lassen. Und jetzt ist die Zeit vorbei.«
»Wieso das denn? Du hast noch viele Jahre vor dir«, versuchte ich sie zu motivieren. Ich fühlte mit einem Mal eine enge Verbundenheit zu meiner Mutter. War ich nicht in derselben Situation wie sie? Hatte nicht auch ich damals den Moment mit Adrian verpasst?
»Ich habe keine Kraft mehr für eine späte Liebe. Und jetzt bin ich stolz darauf, eine so kluge und hübsche Tochter zu haben.« Mutter beugte sich über den Tisch und umklammerte meine Hände mit ihren schwieligen Fingern. »Du wirst sehen, alles wird gut, auch für dich.«
»Das hast du schön gesagt.« Vor Rührung füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich zog Mutters Hände zu mir und küsste sie. Zum ersten Mal hörte ich, dass sie stolz auf mich war. So seltsam es klang, aber der Tod meines Vaters hatte doch etwas Positives bewirkt.