D ie zwei Mädchen lehnten an der Mauer am Bahnsteig von Schwarzach und warteten auf die Lokalbahn. Geschickt rollte Manuela mit einer Hand eine Zigarette und steckte sie Felicitas in den Mund.
»Du musst endlich zu rauchen beginnen, sonst halten dich alle für eine Langweilerin.«
»Mir schmecken Zigaretten aber nicht.« Felicitas nahm die Kippe aus dem Mund und hielt sie Manuela hin. »Rauch du sie, ich inhaliere bloß den Rauch.«
»Wie du meinst.« Manuela schnappte sich die Zigarette und sog das Nikotin tief ein. Dann drehte sie sich zu Felicitas. Sie trat ganz nahe an ihre Freundin heran, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Dann blies sie Felicitas den Rauch mitten ins Gesicht.
»Wow, ist das eklig scharf.« Felicitas begann zu husten, und Manuela klopfte ihr fürsorglich auf die Schulter.
»Was macht ihr denn da?« Adrian trat aus der Unterführung und ging zielstrebig zu den Mädchen auf dem Bahnsteig.
»Manu will mir das Rauchen beibringen«, erklärte Felicitas und wippte mit den Füßen auf und ab. Diese nervöse Bewegung kam immer ganz automatisch, wenn Adrian auftauchte. Dagegen konnte sie nichts tun. »Vielleicht probiere ich es später noch einmal, wenn ich älter bin«, gab sie sich cool mit einem Achselzucken.
»Daran erinnere ich dich in zehn Jahren. Ich hole mir etwas zu trinken«. Mit einem Seitenblick bedachte Manuela Adrian und überlegte kurz. Sie drückte einen Kussmund auf die Zigarette und hielt die vom Lippenstift rot gefärbte Kippe Adrian hin. »Pass gut auf meine Lippen auf.«
»Wie großzügig.« Adrian griff nach der Kippe. Er wartete einen Moment, bis Manuela in der Unterführung verschwunden war, dann drehte er sich Felicitas zu.
»So, jetzt zeige ich dir, wie man das mit dem Rauch richtig macht«, meinte er verschwörerisch. »Da gibt es nämlich einen viel besseren Trick.« Er steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen. »Pass auf.«
Die Zigarette glühte rot auf, als Adrian das Nikotin tief einsog. Mit angehaltener Luft trat er auf Felicitas zu, fasste sie mit der Hand im Nacken und drückte seine Lippen auf ihre. Beide hatten den Mund leicht geöffnet, und Felicitas hatte das Gefühl, als würden sie sich jeden Moment küssen. Ihre Zungenspitzen berührten sich für den Bruchteil einer Sekunde. ›Ist das Zufall oder Absicht?‹ Ihr blieb keine Zeit zum Überlegen, denn plötzlich blies Adrian den Nikotinrauch aus seinen Lungen so tief in ihren Rachen, dass sie sofort husten musste.
»Hör auf!« Mit beiden Händen schob sie Adrian zur Seite und krümmte sich hustend zusammen.
»Das tut mir leid.« Adrian wirkte betreten und schnippte die Kippe mit Manus Kussmund auf die Schienen.
»Ich ersticke«, keuchte Felicitas und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Es war die einzige Gelegenheit, endlich einmal deine Lippen zu spüren.« Adrian verzog den Mund zu einem breiten Lächeln.
»Das hättest du auch einfacher haben können«, erwiderte Felicitas spontan. Kaum war ihr dieser Satz entschlüpft, hätte sie sich ohrfeigen können. ›Das wirkt so, als würde ich ihm hinterherlaufen‹, dachte sie und überlegte blitzschnell, wie sie sich aus der Affäre ziehen könnte.
»Ach, wie denn?« Mit seinen dunklen Augen fixierte Adrian sie. Sein Blick war so intensiv, dass Felicitas das Gefühl bekam, er könnte bis auf den Grund ihrer Seele sehen.
»Du willst doch Schauspieler werden. Spiel mir eine Szene vor, in der sich ein Paar küsst«, sagte Felicitas. »Aber es muss glaubhaft sein, sonst wird das nichts«, fügte sie lachend hinzu.
»Für einen Kuss verlangst du aber ziemlich viel.«
»Nichts gibts umsonst im Leben«, erwiderte sie schlagfertig. »Außerdem ist es ja bloß ein Bühnenkuss.«
»Okay, ich überlege mir was.« Adrian wischte sich eine schwarze Locke aus dem Gesicht und runzelte die Stirn. »Die Szene ist der erste Kuss zwischen Romeo und Julia.«
»Da bin ich jetzt aber gespannt.« Felicitas spürte ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch, das sie bisher so nicht gekannt hatte. Adrian deklamierte die Verse mit sonorer Stimme, machte dabei weitausholende Gesten, bis er zu dem entscheidenden Satz kam: »Derweil mein Mund dir nimmt, was er erfleht.« Gleichzeitig beugte er sich zu Felicitas, zog sie zu sich. Sie schloss die Augen. Wieder berührten sich ihre Lippen, aber diesmal war es anders, intensiver, wild, düster, so wie ein Wintersturm.
»Hey ihr beiden, was wird das?«
Adrian zuckte erschrocken zurück, und Felicitas riss die Augen auf.
»Wir üben ein Bühnenstück.«
»Ach, und welches?« Manuela stellte sich vor Adrian und drehte Felicitas den Rücken zu. Sie schüttelte ihre blonde Mähne. »Addi«, schnurrte sie gefährlich wie eine Raubkatze. »Wo ist meine Zigarette?«
»Die habe ich zu Ende geraucht. Dort liegt sie.« Adrian wies gleichgültig mit der Hand auf die abgebrannte Kippe, die zwischen den Gleisen lag. Der rote Lippenstift glitzerte wie Blut in der Sonne.
»Du kannst nicht einfach einen Kuss von mir wegwerfen.« Manuela trat an den Rand des Bahnsteigs und sprang plötzlich hinunter auf die Schienen.
»Manu, was tust du! Das ist gefährlich«, rief Felicitas.
»Hey, was macht ihr denn da?« Johannes tauchte aus der Unterführung auf.
»Manu spielt mal wieder die exzentrische Diva«, sagte Adrian.
»Manu auf den Gleisen. Das muss ich fotografieren.« Johannes holte seine Kamera aus dem Rucksack.
»Untersteh dich!« Manu streckte ihm ihren ausgestreckten Mittelfinger entgegen.
»Jetzt zeigst du dein wahres Ich«, lachte Johannes und drückte auf den Auslöser.
»Addi soll sich entschuldigen.« Manuela bückte sich und hob vorsichtig die Kippe auf, so als würde sie einen Goldschatz bergen.
»Jetzt mach doch kein Theater.« Adrian rollte genervt die Augen. »Wofür soll ich mich denn entschuldigen?«
»Ich habe die Kippe für dich geküsst, und du wirfst sie einfach weg. Das ist scheiße!«
In diesem Moment ertönte eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher: »Zug fährt ein.«
»Manu, komm sofort hoch!« Felicitas trat an den Rand des Bahnsteigs und streckte ihrer Freundin die Hand entgegen. »Der Zug fährt jeden Moment ein.«
»Ich warte auf eine Entschuldigung.« Wie ein trotziges Kind verschränkte Manuela die Arme vor der Brust und hockte sich zwischen die Gleise. Ihr ebenmäßiges Gesicht verdüsterte sich, und eine pulsierende Ader zerteilte ihre glatte Stirn. »Ich gehe nicht eher, bis Addi um Verzeihung bittet.«
Ein greller Pfiff verschluckte ihre letzten Worte, und die Lokomotive tauchte am Ende des Bahnsteigs auf, wurde groß und immer größer.
»Manu, du wirst sterben!«, rief Felicitas außer sich vor Angst. »Sag doch endlich, dass es dir leidtut, du Arschloch!«, schrie sie in höchster Panik Adrian an, der genauso wie Johannes noch immer schweigend danebenstand.
»Entschuldige«, presste er hervor und wandte sich brüsk ab.
Sofort griff Manuela nach der Hand von Felicitas und schwang sich mühelos auf den Bahnsteig. Die Zornader auf ihrer Stirn verschwand, und sie lächelte, als wäre nichts geschehen.
Johannes legte Adrian die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm leise ins Ohr: »Mach dir nichts draus. Manchmal ist Manu einfach komplett durch den Wind.«