KAPITEL VIER­UND­DREISSIG

Manuela - zwanzig Jahre früher

D as Tagebuch war ein geheimer Ort, in dem Fantasie und Realität sich vermischten. Das Papier ließ sich geduldig mit Liebe und Hass füllen. Es war der private Beichtstuhl für Manuela, hier konnte sie ihr Inneres offenbaren. Denn ihr Innenleben war anders als die Figur, die sie im Leben darstellte.

Nach außen gab sich Manuela stark und selbstbewusst, doch in Wirklichkeit war sie von Selbstzweifeln geplagt. Das Date mit Fred war die erste Verabredung seit langer Zeit, die ihr wirklich etwas bedeutete. Es gab zwar noch jemand anderen, für den Manuela schwärmte, aber diese Person war gefährlich, und sie versuchte ihn deswegen zu vergessen. Deshalb nahm sie sich auch Zeit, dieses heutige Treffen in ihrem Tagebuch bis ins kleinste Detail vorwegzuträumen. Als sie mit dem Schreiben ihrer Gedanken fertig war, begann der aufregendste Teil, denn jetzt musste sie sich hübsch machen. Fred wollte mit ihr ins Kino nach Schwarzach fahren. Er war Werkstattleiter in einem Installationsbetrieb und hatte ein eigenes Auto. Sie lernten sich bei ihr zu Hause kennen, als es einen Rohrbruch gab. Fred war beeindruckt von dem modernen Betonbau, den internationalen Kunstzeitschriften, die auf dem Glastisch lagen. Vor allem aber war er von Manuela beeindruckt. Sie plauderten ununterbrochen, während Fred die Rohrleitungen im Keller austauschte. Schließlich verabredeten sie sich, ins Kino zu gehen. Nicht einmal ihrer besten Freundin Felicitas hatte sie davon erzählt. Es war ihr Geheimnis.

Manuela war mit ihrem Outfit zufrieden: Sie trug Jeans, Buffalo Boots, eine silberbeschichtete Lederjacke, und ihr langes blondes Haar glänzte seidig. Alles, was noch fehlte, war ein wenig Lippenstift.

Gerade als sie dabei war, den Schwung ihres Mundes mit zartroter Farbe zu unterstreichen, ging die Tür auf und ihre Mutter stand im Rahmen. Wie immer hatte Liesl ihren farbbekleckerten Overall an und rauchte filterlose Zigaretten.

»Du gehst aus?«, fragte sie und schickte einen Rauchring an die Decke.

»Das sieht man doch, Liesl.« Manuela nannte ihre Mutter immer nur beim Vornamen, da diese das Wort Mama ablehnte. Sie hasste es, mitten in ihren Vorbereitungen unterbrochen zu werden. Jetzt musste sie mit ihrer Mutter reden und konnte sich nicht ihren Tagträumen hingeben.

»Muss ja ein besonderes Treffen sein, wenn du dich so übertrieben herrichtest. Im Dorfwirtshaus wirst du damit sicher nicht aufkreuzen.«

»Natürlich nicht. Ich fahre ins Kino nach Schwarzach.«

»Was läuft denn?«

»Mission Impossible 2 mit Tom Cruise.«

»So was gefällt dir?« Liesl verzog angeekelt den Mund. »Ich hoffte eigentlich, dass meine Tochter ein wenig intellektuellere Kost bevorzugt. Und wie heißt dein Auserwählter? Ist es Adrian? Nein, der würde sich niemals einen primitiven Actionfilm ansehen.«

»Es ist Fred.«

»Fred? Doch nicht etwa der Typ, der bei uns den Wasserschaden behoben hat.«

»Genau der.«

»O Gott Kind, der ist doch nichts für dich. Für Fred bist du noch viel zu grün hinter den Ohren.« Auf der Suche nach einem Aschenbecher drehte sich Liesl im Kreis. Schließlich fand sie eine Blumenvase, in der sie ihre Kippe versenkte.

»Sprich nicht mit mir, als wäre ich ein kleines Kind.«

»Ich meine es doch nur gut. Fred ist auf Eroberungen aus. Der hat nichts für die Liebe übrig.«

»Woher willst du das denn wissen? Du kennst ihn doch gar nicht!«

»Wer sagt denn das?« Liesl steckte die Hände in die Taschen ihres Overalls und blickte ihre Tochter herausfordernd an. »Natürlich kenne ich ihn. Er besucht mich, wenn du mit deiner Clique um die Häuser ziehst.«

»Du lügst doch! Was soll er denn von dir wollen? Schau dich doch mal im Spiegel an, wie alt du bist«, fauchte Manuela. »Du könntest seine Mutter sein.« Irgendwie entglitt ihr die Situation. Sie wollte mit Liesl nicht streiten. Sie nicht beleidigen. Das hatte sie oft genug erlebt. Es war ein ständiges Streiten zwischen den Eltern gewesen. Ihr Vater war ein begabter Holzschnitzer, der aber mit der viel erfolgreicheren Karriere seiner Frau nicht klarkam. Die beiden bekriegten sich so lange, bis ihr Vater schließlich den Ort verließ und sich nie wieder meldete.

»So, du findest mich also zu alt.« Die Stimme von Liesl klang gekränkt, und Manuela wusste, dass sie zu weit gegangen war. Eine Entschuldigung lag ihr auf der Zunge, doch Liesl kam ihr zuvor.

»Ich zeige dir jetzt etwas.« Liesl packte ihre Tochter am Arm und zog sie aus dem Zimmer.

»Lass mich! Ich bin kein kleines Kind mehr.« Manuela riss sich los und blieb in dem großzügigen Wohnzimmer stehen. »Was ist denn plötzlich in dich gefahren?«

»Wir sollten nicht streiten, Manuela.« Liesl beruhigte sich wieder und redete sachlich mit ihrer Tochter. »Ich wollte dir nur erklären, dass Fred nicht der richtige Typ für dich ist.«

»Ich habe jetzt keine Zeit für dein Gelaber. Mein Freund Fred wartet unten in Dunkelsteig auf mich. Vielleicht solltest du dir auch mal einen Lover zulegen, der es dir richtig besorgt.« Verdammt, schon wieder hatte sie eine Grenze überschritten. Sie sah kurz eine traurige Wut in den Augen ihrer Mutter aufblitzen.

»Gut, du willst es nicht anders.« Liesl packte Manuela wieder am Arm, schritt mit ihr durch den gläsernen Gang, der das Haus mit dem Atelier verband. Widerstandslos ließ sich Manuela mitziehen. Die Berge, die schwarz und drohend in die Höhe ragten, sperrten das Licht aus, und der Gang wirkte plötzlich wie ein Tunnel. Liesl zog die eiserne Schiebetür des Ateliers auf und trat ein.

»Und jetzt? Ich kenne dein Arbeitszimmer.« Mit verschränkten Armen blieb Manuela vor ihrer Mutter stehen.

Das Atelier war sehr hoch und hatte Fenster an der Decke, durch die fahles Licht in den Raum strömte. An den Wänden lehnten halb fertige Bilder, denn Liesl arbeitete immer an mehreren Gemälden gleichzeitig. Das Zentrum des riesigen Raums bildete ein kleines Holzpodest, auf dem eine abgewetzte Chaiselongue platziert war, die Liesl auf dem Wiener Flohmarkt gekauft hatte. In einiger Entfernung davon befand sich ihre Staffelei mit einer verhüllten Leinwand.

»Was hat das alles mit Fred zu tun?« Mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck schlenderte Manuela an den halb fertigen Gemälden entlang. »Kauft er dir ein Bild ab, um es mir zu schenken?«, fragte sie dann spitz.

»Das glaube ich kaum.« Liesl trat auf die Staffelei zu und zögerte einen kurzen Moment. Dann riss sie mit einem Ruck das Tuch von der Leinwand.

Manuela erstarrte. Auf dem Bild war ein nackter, wohlgeformter Mann zu sehen, der auf der Chaiselongue lümmelte und den Betrachter mit laszivem Gesichtsausdruck musterte.

»Du siehst ja jetzt selbst, dass ich Fred kenne. Und zwar sehr gut, wenn du verstehst, was ich meine«, entgegnete Liesl triumphierend.

Manuela starrte auf das Bild, dann auf ihre Mutter. In ihrem Kopf lief ein Film ab, den sie nicht sehen wollte. Sie schluckte, und ihr Selbstbewusstsein stürzte zusammen wie ein Kartenhaus. Sie sagte kein Wort, sondern drehte sich um und lief aus dem Atelier. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihre Mutter sie weinen sah.