D as Gespräch mit Manuelas Mutter hatte mich bestärkt, meine Nachforschungen zu intensivieren. Ich musste mit Adrian reden und den gemeinsamen Abend am Spalt nochmals Schritt für Schritt rekonstruieren.
Als ich aus Liesls Hütte trat, sah ich den Pick-up der Friedhofsgärtnerei auf dem Güterweg stehen. Auf der Ladefläche ragten Schaufeln, Krampen und Drahtbesen wie bizarre Kunstwerke in den bleiernen Himmel. Dazwischen lag Zeus, der Hund, und döste. Bei meinem Anblick sprang er auf, begann zu bellen und stellte sich mit den Vorderpfoten auf die Bordwand. Die Gärtnerin Marietta lehnte mit verschränkten Armen am Kühler.
»So bald sieht man sich wieder. Wollen Sie zu Liesl?«, fragte ich.
»Nein, ich warte auf Sie. Meine Frau möchte mit Ihnen reden.« Marietta öffnete die Beifahrertür. »Ich bringe Sie zu ihr. Steigen Sie bitte ein.«
»Warum so mysteriös? Kann sie nicht selbst hierherkommen?« Die Situation kam mir bizarr vor, aber natürlich war ich neugierig, wer mich treffen wollte. Also nahm ich auf der durchhängenden Sitzbank Platz.
»Nein, leider. Sie ist im Moment sehr beschäftigt.« Marietta startete den Pick-up und fuhr in halsbrecherischem Tempo den Güterweg hinunter in den Ort. Von hier oben sah Dunkelsteig aus wie ein Spielzeugdorf. Die Kirche stand auf einer leichten Anhöhe, und dahinter erhob sich drohend eine Felswand. Neben der Kirche gab es noch das Wirtshaus, einen kleinen Supermarkt, das moderne Amtshaus, in dem Bürgermeisterin und Polizei residierten, und die Endstation der Lokalbahn.
Vor dem Wirtshaus hielt Marietta den Wagen mit laufendem Motor an. »Wir sind angekommen. Drinnen erwartet man Sie bereits.«
»Begleiten Sie mich nicht?«, fragte ich Marietta, die keinerlei Anstalten machte auszusteigen.
»Ich muss wieder zur Arbeit.« Marietta gab Gas und verschwand.
Nachdenklich ging ich in die Gaststube, wo die üblichen Gäste ihre freien Stunden verbrachten. Nichts hatte sich in den letzten zwanzig Jahren verändert. Noch immer saßen die Männer in Trachtenjoppen am Stammtisch und stierten schweigend in ihre Biergläser. An einem anderen Tisch wurde lautstark tarockiert, ganz wie in meiner Jugend. Aber im Gegensatz zu früher gab es jetzt auch einen Frauenstammtisch, an dem ebenfalls Karten gespielt wurde.
Als mich die Wirtin Traudi erblickte, winkte sie mir zu und kam hinter dem Tresen hervor. »Felicitas, wie großstädtisch du aussiehst.« Traudi deutete auf meinen Trenchcoat und befühlte den Stoff. »Das ist Viskose, darum fällt er so weich«, meinte sie mit Kennermiene. »Ich frage nach, ob die Besprechung schon vorbei ist.« Traudi ging auf die Tür des Stüberls zu und klopfte. Sie wartete kurz, öffnete dann und schlich gebückt hinein. »Warte hier«, flüsterte sie mir zu.
Mittlerweile ging mir diese Geheimnistuerei auf die Nerven und ich war kurz davor, einfach zu verschwinden. Doch dann erschien die Wirtin in Begleitung eines Mannes im Anzug wieder aus dem Separee.
»Sie wollen mich sprechen?«, fragte ich den Mann. Ich hatte ihn noch nie gesehen.
»Nein, ich bin nur der Architekt. Sie werden in der Stube erwartet.«
Einladend hielt mir Traudi die Tür auf und ich trat ein. Die Tische im Stüberl waren alle für eine Besprechung zusammengeschoben. Am oberen Ende thronte Dora unter einem naiven Gemälde, das Dunkelsteig darstellte. Dora trug eine schwarze Lederjacke, und ihr kurzes platinblondes Haar leuchtete im Licht der Hirschgeweihlampen.
»Danke, dass du dir Zeit genommen hast, Felicitas.« Freundlich lächelnd kam sie auf mich zu und umarmte mich.
»Darfs noch was sein, Frau Bürgermeister?« Die Wirtin stand mit gesenktem Kopf in der Tür.
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Dora mich.
»Nein«, winkte ich ab.
»Das wäre alles, Traudi.« Mit einer huldvollen Geste entließ Dora die Wirtin und wandte sich wieder mir zu. »Setz dich doch, Feli«, forderte sie mich auf und nahm wieder unter dem Gemälde Platz. »Ist Marietta wieder zu schnell gefahren? Ich sage ihr immer: Drück nicht so aufs Gas. Eines Tages wird es dich noch überschlagen. Die Steilkurven sind tückisch, besonders wenn gefrierender Nebel fällt. Aber sie hört nicht auf mich.«
»Marietta, die Friedhofsgärtnerin, ist also deine Geliebte, sehe ich das richtig?«
»Sie ist meine Frau. Wir führen eine normale Ehe wie alle anderen.«
»Ach deswegen erwähnt sie immer ihre Frau «, konstatierte ich.
»Gibt es ein Problem damit?«
»Das hast du mich schon beim Leichenschmaus gefragt, und meine Antwort ist dieselbe: Nein, ich habe damit überhaupt kein Problem.«
»Alles klar. Du wunderst dich sicher, warum ich dich so heimlich hergebeten habe, um mit dir zu sprechen.«
»Na ja, so geheim ist unser Treffen auch nicht. Mich hat vorhin beim Kommen ein Mann begrüßt, der wusste, dass du mit mir reden willst. Er sagte, er sei Architekt.«
»Das Ganze hat mit dem großen Projekt zu tun, an dem ich und mein Team seit Längerem arbeiten.« Dora erhob sich und trat an ein Beistelltischchen, auf dem das Pappmodell eines hypermodernen Hotelkomplexes stand. »Sieh dir das an! Dieses Modell ist ein Wellnesshotel. Es ist der erste Schritt meines Zukunftsplans, der Dunkelsteig in ein Öko-Dorf verwandeln wird. Es gibt doch den aufgelassenen Heilstollen am Ende des Tals.«
»Ich kenne den Stollen. Der Grund gehört Johannes’ Vater. Hat der auch schon wieder seine Finger mit drinnen?«
»Wir haben seine volle Unterstützung, und seine Bank kümmert sich gemeinsam mit Investoren um die nötige Finanzierung. Alle erforderlichen Unterlagen habe ich bereits bei der Landesregierung eingereicht, und der Bau wurde bewilligt. Außerdem habe ich um eine Ortsumbenennung angesucht. Dunkelsteig soll in Zukunft Sonnensteig heißen.«
»Der Name ist ziemlich gewagt bei den wenigen Sonnenstunden, die der Ort im Jahr abbekommt.«
»Ach geh, das ist nur Marketing. Stell dir vor, der Mann vorhin war der Chef des bekannten Architekturbüros Luxos in München. Du siehst, ich habe Großes vor mit Dunkelsteig.«
Es klopfte verhalten an der Tür, und die Wirtin trat ein. »Soll ich das Mittagsmenü jetzt auftischen, Frau Bürgermeister?«
»Gerne Traudi, bitte zweimal. Felicitas ist mein Gast.«
Ich wartete, bis die Wirtin den Raum verlassen hatte, ehe ich die Frage stellte, die mir die ganze Zeit auf der Zunge lag: »Was habe ich mit all dem zu tun, Dora?«
»Du bist doch Journalistin in Berlin.« Sie spreizte die Finger auf der Tischplatte und sah mich von unten herauf an. »Dass du nach all den Jahren hier in Dunkelsteig auftauchst, ist kein Zufall.«
»Natürlich nicht. Ich bin zum Begräbnis meines Vaters hergekommen.«
»Das ist nicht der wahre Grund. Du hast deinen Vater gehasst«, antwortete sie.
»Ach, und was ist der wahre Grund für mein Erscheinen?«, fragte ich sarkastisch.
»Du schreibst über Dunkelsteig und den Teufelsspalt. Alle zwanzig Jahre verschwindet ein Mensch. Damals verschwand Manuela. Jetzt ist es bald wieder so weit. Nur deshalb bist du hier, um darüber zu schreiben.«
»Manuela ist im Sommer verschwunden, jetzt haben wir bereits Herbst«, warf ich ein, denn diese ständigen Unterstellungen gingen mir gehörig auf die Nerven.
»Egal, es sind zwanzig Jahre vergangen«, ließ sich Dora nicht beirren.
»Über dieses schreckliche Unglück wollte ich nie einen Artikel verfassen.«
»Ich glaube dir kein Wort. Willst du wirklich alles wieder aufwärmen, Dunkelsteig in den Dreck ziehen? Alles zerstören, was wir uns hier mühsam über die Jahre aufgebaut haben? Und jetzt sabotierst du auch noch mein Projekt.« Dora redete sich in Rage und trommelte mit den Fingerspitzen immer fester auf die Tischplatte.
»Dora, ich bitte dich! Die Wahrheit zerstört doch nichts.«
»Doch, das tut sie. Die Touristen reisen nicht für Wellnessferien in einen Ort, wo Menschen spurlos verschwinden. Wie naiv bist du eigentlich? Es gibt bereits erste Anfragen von Interessenten in den sozialen Netzwerken, die von dem Projekt gehört haben. Influencer wurden schon auf uns aufmerksam.«
»Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, dass ich über Dunkelsteig einen Artikel verfassen könnte?«
»Johannes hat mich angerufen. Du lässt nicht locker, löcherst ihn mit Fragen, was damals geschah, verfolgst ihn bis in sein Jagdrevier. Wieso machst du das?«
»Ich habe mit ihm nur über die Ereignisse von damals gesprochen, mehr nicht. Das war ohne jeden Hintergedanken.« Das stimmte so nicht, aber das brauchte Dora nicht zu wissen. »Natürlich habe ich auch meine Freunde von früher besucht, Addi zum Beispiel.«
»Vergiss Adrian.« Dora winkte ab. »Unser lieber Bienenzüchter. Hat auf dem Schauspielkonservatorium in Wien plötzlich die Stimme verloren und ist wieder hierher zurückgekehrt.
»Wirklich? Mir hat er erzählt, Wien und die Schauspielerei wären ihm zu oberflächlich.«
»Ist doch egal«, winkte Dora genervt ab. »Tatsache ist, Adrian kümmert sich wenigstens nicht um die Vergangenheit. Im Gegensatz zu dir.«
»Mir reichts jetzt, Dora!« Energisch erhob ich mich von meinem Stuhl. »Ich arbeite das Drama von damals auf. Daran wirst auch du mich nicht hindern.«
»Du denkst immer nur an dich! Ich warne dich, treib es nicht zu weit, Felicitas! Sonst geht der Fluch der Teufelsspalte vielleicht doch noch in Erfüllung und schadet unserem Dorf.«
»Und was ist mit Manu? Könnt ihr alle die Sache mit ihr als Unfall abtun? Du kannst das nicht nachvollziehen. Aber Manu war meine beste Freundin!« Ich spürte, wie ich langsam wütend wurde. War das immer so? Kaum starb jemand, schon vergaßen ihn die anderen.
»Das stimmt so nicht. Ich mochte Manu auch sehr gern. Ich wusste zum Beispiel, dass sie Akrobatin beim Cirque du Soleil werden wollte.«
»Das hat sie dir erzählt?«
»Nicht nur das. Manu hat mir das Seiltanzen beigebracht.«