KAPITEL ACHT­UND­DREISSIG

Leo Grafinger - zwanzig Jahre früher

I nspektor Leo Grafinger drehte sich in seinem Bett um und zog sich die Decke über den Kopf. Doch der Klingelton wollte nicht aufhören, wurde immer penetranter, und schließlich kapitulierte er.

»Ich muss da rangehen«, stöhnte er und wälzte sich schlaftrunken aus den Kissen. »Vielleicht ist es was Wichtiges. Lasst euch durch mich nicht stören. Ihr könnt ruhig liegen bleiben.«

Es war noch mitten in der Nacht und stockdunkel. Grafinger tappte in Unterhosen zum Telefon im Vorraum.

»Inspektor Grafinger. Was gibts?«

»Wir haben einen anonymen Anruf erhalten. Ein Mädchen ist in den Teufelsspalt gestürzt und verschwunden«, meldete sich die Bereitschaftspolizistin.

»Wann war das?«

»Vielleicht vor zehn Minuten.«

»Wer hat sonst noch Bereitschaft?«, fragte er und strich sich über seinen schwarzen Schnauzer.

»Wachtmeister Huber.«

»Er soll sich bereitmachen. Wir treffen uns in fünfzehn Minuten vor dem Polizeiposten. Und mobilisiere die Bergrettung.« Grafinger legte den Hörer auf die Gabel und schlurfte zurück ins Schlafzimmer. »Ich muss leider weg. Der Teufel hat sich oben beim Spalt ein Mädchen geholt. Macht es euch inzwischen gemütlich, bis ich wieder zurück bin.«

Er beugte sich über das Bett und nahm das gerahmte Foto vom Kopfpolster. Es zeigte ihn mit einer jungen Frau und einem Jungen, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war.

»Es dauert nicht lange. Das verspreche ich euch.« Zärtlich strich er mit den Fingern über das Glas. Dieses Foto war alles, was ihm von seiner Familie geblieben war. Vor einem Jahr war seine Frau Klara mit dem gemeinsamen Kind wandern gewesen. Seit damals hatte er nichts mehr von ihnen gehört, seine kleine Familie war wie vom Erdboden verschwunden.

Die Konsequenz war, dass er jetzt, statt mit Klara, mit einem Bild im Arm einschlafen musste.

Kurze Zeit später stand Grafinger neben seinem Kollegen Huber im Polizeiposten und hörte sich die Aufnahme des Notrufs noch einmal an.

»Man kann nicht erkennen, ob es die Stimme einer Frau oder eines Mannes ist. Könnte der Anruf ein Scherz gewesen sein?«, fragte Huber.

»Nein, dafür klingt die Person viel zu aufgeregt. Wir müssen das überprüfen und brechen sofort zum Teufelsspalt auf. Hast du die Bergrettung alarmiert?«

»Ja, die schicken einen Suchtrupp los.«

»Dann verlieren wir keine Zeit.«

Grafinger gab seinem Kollegen ein Zeichen, und beide verließen das Büro. Sie setzten sich in das Polizeifahrzeug und fuhren los. Am Ende des Forstwegs mussten sie den Wagen zurücklassen und zu Fuß weitermarschieren. Die dünnen Strahlen ihrer Taschenlampen tanzten über Steine und Geröll, als sie die Felsen erreichten. Weit oben bemerkte Grafinger einen Feuerschein, der den Berghang in einen rötlichen Schimmer tauchte.

»Sieht aus wie ein Lagerfeuer«, stellte sein Kollege fest.

»Was soll es denn sonst sein? Junge Leute feiern eben gern bis in die Nacht hinein.«

»Wieso glaubst du, dass es Jugendliche sind?«

»Die Stimme des Notrufs klang jung«, gab Grafinger zur Antwort. Manchmal nervte ihn sein Kollege, der jede Banalität kommentieren musste und keine eigenen Schlüsse zog.

Schweigend stapften sie weiter und erreichten das Lagerfeuer. Jetzt widmete Grafinger seine ganze Aufmerksamkeit der Situation, die er vorfand. Er sah drei Jugendliche um ein fast heruntergebranntes Feuer sitzen. Es waren zwei Jungen und ein Mädchen. Die junge Frau weinte und lehnte ihren Kopf an die Schulter eines jungen Mannes mit wirren schwarzen Haaren. Der andere war blond und saß stocksteif ein wenig abseits.

»Wer von euch hat bei der Polizei angerufen?«, fragte Grafinger den Blonden.

»Das war ich.« Der Angesprochene zückte sein Handy und schwenkte es mit der Hand.

»Wie heißen Sie?« Grafingers Kollege Huber kam mit gezücktem Notizblock auf sie zu.

»Johannes Rohringer.«

»Und Sie sind?«, fragte Huber dann die beiden anderen jungen Leute.

»Ich heiße Felicitas Laudon.«

»Und ich bin Adrian Brandner.«

»Erzählen Sie uns bitte, was passiert ist.« Grafinger hockte sich vor die Jugendlichen und strich sich den Schnurrbart.

»Manu ist in den Teufelsspalt gestürzt«, erwiderte Felicitas mit stockender Stimme.

»Manu wer? Wie heißt das Mädchen mit vollem Namen?«, fragte der Inspektor nach.

»Manuela Köstlinger.«

»Köstlinger? Ist sie die Tochter der Malerin?« Vor Grafingers geistigem Auge klappte das Bild eines blonden, hübschen Mädchens auf.

»Ja, und sie ist sicher tot«, schniefte Felicitas.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe sie schreien gehört. Dann war plötzlich Stille.« Felicitas wurde von einem Weinkrampf geschüttelt und krallte ihre Finger in Adrians Arm.

»Und Sie? Haben Sie auch Schreie gehört?« Grafinger sah Adrian eindringlich an.

»Ja, einen Schrei. Dann war plötzlich Stille.«

»Wie ist das mit Ihnen?« Grafinger richtete die Frage an Johannes, der mit weit aufgerissenen Augen in die Flammen starrte. »Was haben Sie gehört?«

»Das Gleiche, einen kurzen Schrei. Dann war plötzlich Stille.«

›Dreimal dieselbe Antwort. Dreimal der gleiche Satz: Dann war plötzlich Stille. Die haben ihre Aussage aufeinander abgestimmt‹, dachte Grafinger. ›Aber warum?‹

Jetzt bemerkte er, dass Felicitas blutige Flecke auf ihrem T-Shirt hatte.

»Was haben Sie da?« Grafinger deutete darauf.

»Das ist Blut. Ich bin gestürzt und habe mir den Kopf aufgeschlagen.« Felicitas deutete auf eine kleine Platzwunde an ihrer Schläfe.

»Und den Pulli haben wir beim Spalt gefunden.« Johannes hatte sich aus seiner Starre erholt und hielt Grafinger einen hellen Pullover hin, der mit dunklem Blut vollgesogen war. »Er gehört Manu.«

»Geben Sie her.« Grafinger winkte Huber zu sich, der sofort eine durchsichtige Plastiktüte aus seiner Uniformjacke zog und den Pullover hineinsteckte. »Der kommt zur Spurensicherung.«

»Geht klar, Chef.«

»Was ist mit eurer Freundin Manuela geschehen? Warum ist sie abgestürzt?« Grafinger wandte sich wieder den drei Jugendlichen zu.

»Manu wollte Holz für das Feuer suchen und ist vielleicht im Dunkeln gestürzt«, erklärte Adrian. »Es war sicher ein Unfall.«

»Genau, wir hatten kaum noch Holz für unser Lagerfeuer. Es war ein Unfall«, echoten Felicitas und Johannes und nickten zustimmend.

»Mitten in der Nacht geht Manuela allein Holz sammeln – in diesem unwegsamen Gelände?« Grafinger runzelte zweifelnd die Stirn. »Keiner von euch hat sie begleitet? Warum nicht?«

»Wir waren alle ziemlich betrunken und konnten kaum aufrecht stehen«, rechtfertigte sich Adrian zerknirscht.

»Und Manu war nüchtern?«

»Nein, sie hat auch getrunken, so wie wir.«

»Aber eure Freundin wollte unbedingt Holz sammeln, obwohl sie so betrunken war?«, schoss Grafinger sofort die nächste Frage hinterher.

»Ja. Manu war eben exzentrisch«, antworteten die drei Jugendlichen gleichzeitig.

»Wenn Manu sich etwas in den Kopf setzte, dann war sie davon nicht mehr abzubringen«, ergänzte Johannes.

»Gut. Das wärs vorerst. Mein Kollege wird eure Aussagen aufnehmen.« Grafinger erhob sich und stieg zu den Einsatzkräften der Bergrettung hoch. Die Männer waren gerade dabei, sich mit dicken Seilen in den Spalt abzuseilen, um nach dem vermissten Mädchen zu suchen.

»Wenn ihr sie findet, dann bergt sie ganz vorsichtig, damit keine Spuren verloren gehen«, instruierte er den Einsatzleiter.

»Glaubst du, die jungen Leute haben etwas mit ihrem Absturz zu tun?«

»Kann ich noch nicht beurteilen.« Grafinger zuckte mit den Schultern. »In jedem Fall will ich auf Nummer sicher gehen.« Er ließ den Strahl seiner Taschenlampe über den Boden gleiten. Auf mehreren Steinen sah er dunkle Flecke. Er bückte sich und leuchtete darauf. »Blut«, murmelte Grafinger, nachdem er die Spuren eingehend betrachtet hatte. »Das war kein Unfall. Die drei haben was zu verbergen.«