KAPITEL ZWEI­UND­VIERZIG

A uf der Fahrt zu Johannes’ Haus schwieg ich und hing meinen Gedanken nach. ›Kann ich Adrian tatsächlich noch vertrauen? Ist es wirklich Zufall gewesen, dass er ausgerechnet heute Honig zu Mutter bringen wollte?‹

»Du zweifelst an mir und unserer Freundschaft, stimmts?«, fragte Adrian plötzlich.

»Kannst du Gedanken lesen?«

»Es ist nur so ein Gefühl, und ich bemerke die Unsicherheit in deiner Mimik. Ich kam tatsächlich wegen dem Honig zu deiner Mutter. Du kannst mir vertrauen, wir stehen auf derselben Seite.«

»Tut mir leid.« Spontan griff ich nach seiner Hand und drückte sie fest. »Das ist die verdammte Paranoia, die mich langsam zermürbt.«

»Vielleicht möchte jemand genau das erreichen.« Adrian bremste den Wagen ab und fuhr die schmale, mit rot und gelb leuchtenden Bäumen gesäumte Straße entlang. Ohne die Geschwindigkeit zu verlangsamen, fuhr er durch das geöffnete Tor und blieb auf dem Weg stehen.

Als wir aus dem Wagen stiegen, kam uns auch schon Johannes entgegen. »Was verschafft mir diese Ehre am frühen Morgen? Kommt doch rein in meine bescheidene Hütte!« Er wirkte aufgekratzt, machte eine einladende Handbewegung und ging vor uns ins Haus. Wir schritten in ein großzügiges Wohnzimmer, das von einem bauchigen Kachelofen dominiert wurde. An den Wänden hingen Bilder, die Jagdszenen darstellten. Die Bauernmöbel, die ich von früher kannte, waren mit weißen Tüchern verdeckt. Durch die geöffneten Türen, die hinaus auf eine leere Terrasse führten, drang diffuses Licht. Hinter einem kleinen Stück Garten ragte sofort eine Felswand in den Himmel und versperrte die Sicht. Unwillkürlich musste ich schlucken und unterdrückte ein beklemmendes Gefühl.

»Diese Aussicht ist nicht jedermanns Sache«, meinte Johannes, der meinen Blick bemerkt hatte. »Aber meinem Vater gefiel es. Er mochte dieses kerkerähnliche Gefühl. Früher wollte ich die Felswand hochklettern und dann direkt auf die Terrasse springen. Und meine Eltern beim Essen verschrecken. Ich stellte mir vor, wie das weiße Rüschenkleid meiner Mutter mit Tomatensoße bespritzt wurde und Vaters kostbare Rotweinkaraffe auf den Fliesen zersprang. Dieser Wunsch blieb natürlich in meiner Fantasie, denn im wirklichen Leben war ich immer zu feige zum Springen.« Johannes stockte mit einem Mal. »Warum erzähle ich euch das eigentlich?«, murmelte er.

Wir blickten uns kurz an und schwiegen betreten.

»Als Jugendliche hatten wir doch alle diese Fantasien«, durchbrach ich die unangenehme Stille. »Aber mittlerweile sind wir erwachsen geworden.«

»Wir sind hier, weil wir die Digitalkamera suchen, mit der du damals fotografiert hast«, kam Adrian auf den Punkt.

»Machst du Witze? Ihr interessiert euch für eine uralte Kamera?« Johannes schüttelte belustigt den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich die noch habe. Wann soll denn das gewesen sein?«

»In der Zeit vor Manus Verschwinden. Du hast doch damals viele Fotos als Erinnerung an sie ausgedruckt. Erinnerst du dich?«

»Ja, natürlich weiß ich das noch. Ich habe euch die Bilder vorbeigebracht.«

»Auch das hier?« Ich zeigte Johannes die verwackelte Aufnahme.

»Sicher, aber das war ein Versehen, denn ich habe euch nur die besseren Fotos gegeben. Nicht unsere psychedelischen Aufnahmen.«

»Und die Kamera, was hast du mit der gemacht? Vielleicht sind da noch andere Aufnahmen von damals gespeichert«, sagte Adrian gespannt.

»Die hatte ich irgendwo in meinem Zimmer verstaut. Ich weiß nur nicht mehr, wo. Das ist alles schon so lange her. Vielleicht haben meine Eltern sie aussortiert. Schließlich habe ich den Raum jahrelang nicht bewohnt.«

»Warum lebst du eigentlich wieder hier?«, fragte Adrian.

»Ich habe einige Tage Urlaub genommen«, erwiderte Johannes ausweichend. »Muss über ein paar Dinge nachdenken.«

»Zum Beispiel, ob es eine gute Idee war, auf mich zu schießen?«, warf ich spitz ein.

»Das war ein unglücklicher Zufall, und es tut mir wirklich leid«, rechtfertige sich Johannes. »Was muss sie auch im Wald rumschleichen?«, meinte er dann zu Adrian.

»Es ist ja Gott sei Dank nichts passiert«, unterbrach ich ihn. »Können wir deine Kamera jetzt suchen? Wohnst du wieder in deinem alten Zimmer im ersten Stock?«

»Na klar, aber ich habe nicht aufgeräumt.« Johannes knetete verlegen seine Finger. »Am besten, ich sehe selbst nach.«

»Ach was, uns stört deine Unordnung nicht«, entschied ich und startete sofort los. Adrian folgte mir auf dem Fuß.

»Ihr könnt doch nicht in meine Privatsphäre eindringen«, beschwerte sich Johannes, der uns hinterherlief.

»Mach keine Szene«, meinte Adrian. »Du wirst schon keine Leiche herumliegen haben, oder?«

»Sehr witzig.«

Wir durchquerten einen weiteren Raum, in dem alle Möbel an die Wände gerückt und ebenfalls mit weißen Tüchern verdeckt waren. Ausgestopfte Hirschköpfe an den Wänden blickten uns mit toten Augen an. Über eine Treppe gelangten wir in Johannes’ Reich. Es war ein rechteckiger Raum, von dem aus man einen Blick auf Dunkelsteig und den Hang auf der anderen Seite hatte. Vor dem Fenster stand ein Fernrohr. Als ich einen schnellen Blick hindurchwarf, stellte ich fest, dass ich direkt auf das Haus meiner Mutter sehen konnte. Ich hatte mit meiner Vermutung also doch recht gehabt.

»Beobachtest du mich dadurch?«, fragte ich ihn. »Warum tust du das?«

»Ich mach mir Sorgen um dich und möchte wissen, was du so treibst«, erwiderte er achselzuckend. »Schließlich haben wir uns zwanzig Jahre nicht gesehen.«

»Joe, du bist ein Stalker«, konstatierte Adrian trocken.

»Nein, ich bin nur ehrlich.« Johannes öffnete die Schranktür, hockte sich hin und kramte im Inneren herum. Schließlich zog er einen Karton hervor und öffnete ihn. »Da haben wir ja das gute Stück.« Es war ein silbernes, längliches Modell mit einem Lanyard, das man sich um den Hals hängen konnte.

»Gib sie mir.« Ich nahm die Nikon Johannes aus der Hand und betätigte den Mechanismus. Aber nichts passierte. »Da ist kein Chip mehr drinnen«, sagte ich enttäuscht. »Wo kann er nur sein?«

»Ich habe keine Ahnung.« Johannes wollte gerade die Schranktür wieder zudrücken, da entdeckte ich ein rotes Ballkleid, das an einem Bügel an der Tür hing.

»Deshalb wohnst du also tageweise hier, du hast heimlich eine Freundin«, mutmaßte ich und musterte das Kleid. Es wirkte übertrieben und war mit schillernden Pailletten verziert. Die passenden Stöckelschuhe standen darunter. Auch sie waren mit silbernen Pailletten verziert und ungewöhnlich groß. Alles an diesem Outfit machte einen merkwürdigen Eindruck auf mich.

»Ja, du hast recht. Die Schuhe und das Kleid sind meiner Freundin. Sie kleidet sich zum Abendessen gerne elegant«, murmelte Johannes und blickte verlegen zu Boden.

»Hier im Ort gibt es aber nicht viele Gelegenheiten, sich schick herzurichten«, erwiderte ich. »Wenn du den Chip doch noch findest, dann melde dich bitte.«

»Was ist mit den restlichen Fotos? Du hast gesagt, du hättest damals alle ausgedruckt?«, fragte Adrian.

»Die anderen Fotos?« Johannes legte den Kopf in den Nacken und dachte nach. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Wir hatten kurz nach Manus Verschwinden einen Einbruch, dabei wurden auch die Fotos gestohlen.«

»Davon hast du nie etwas erzählt«, wunderte ich mich.

»Das ging wahrscheinlich in der ganzen Aufregung um Manu unter.« Johannes zuckte bedauernd mit den Schultern. »Kann ich sonst noch etwas für euch tun?«

»Nein, das war schon alles«, antwortete ich und ging mit Adrian wieder nach unten. Wir verabschiedeten uns von Johannes und fuhren zurück nach Dunkelsteig.

»Kommst du noch mit zu mir?« Adrian verlangsamte den Wagen bei meiner Auffahrt und blickte mich von der Seite fragend an. »Dann können wir besprechen, was wir jetzt unternehmen, und überlegen, wer diese Gestalt im Schatten gewesen sein könnte.«

Ich nickte stumm und knetete meine Hände. Die Atmosphäre im Wagen hatte sich verändert. Es lag eine knisternde Spannung in der Luft. Jetzt war die Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen. Alles war wieder möglich.