I n der Vergangenheit hatte mich manchmal das Gefühl beschlichen, dass Adrian und ich etwas verpasst hätten. Und jetzt stand ich plötzlich in der Wohnstube seines Bauernhauses und wusste nicht, ob es die richtige Entscheidung war. Ich betrachtete den großen gemütlichen Raum. Adrian hatte die Wände weiß gekalkt und die Stube mit hellen, abgebeizten Möbeln bestückt. An den Wänden hingen Gemälde, die in sparsamen schwarzen Linien Menschen darstellten. Auf einem der Bilder erkannte ich ein Gesicht, das zur Hälfte hinter einem weißen Vorhang verschwand. Ich ging etwas näher und betrachtete die Leinwand.
»Bin das etwa ich?«
»Ja, ich habe es nach einem Foto von dir gemalt.«
»Du kannst malen?«
»Ach was, ich habs auf die Leinwand projiziert und nachgezeichnet.« Adrian machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich wollte mich damals eben an dich erinnern.«
»Es ist sehr schön geworden«, meinte ich.
»Findest du?« Adrian kam auf mich zu und nahm meine Hände. Zog mich zu sich heran. Ich schloss die Augen, atmete den Duft seines Aftershaves ein, erinnerte mich an den letzten Abend am Teufelsspalt, als wir uns eng umschlungen auf die Suche nach der Ursache des Geräusches machten.
In dieser Nacht hatte sich unser aller Leben verändert. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen, aber wir konnten sie für einen kurzen Moment anhalten. Wieder spürte ich Adrians Lippen auf meinen und erwiderte seinen Kuss. Als er mir den Trenchcoat von den Schultern streifte und den Pullover auszog, fühlte ich mich mit einem Mal wieder unverschämt jung. Ich musste mir eingestehen, dass ich noch immer in ihn verliebt war.
»Wir hätten schon viel früher zueinanderfinden müssen«, murmelte Adrian, als wir verschwitzt im Bett lagen und ich meinen Kopf auf seine Brust legte.
»Genieße den Augenblick«, erwiderte ich und rückte ein wenig von ihm ab. ›Warum nur müssen alle immer der Vergangenheit nachtrauern?‹, dachte ich. Tim war genauso. Wenn wir uns geliebt hatten, dann redete er endlos über die vergeudeten Chancen in seinem Leben. Und bei Adrian war es ähnlich. Aber ich durfte ihn nicht mit Tim vergleichen. »Wir haben uns jetzt gefunden, und das ist gut so«, flüsterte ich und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Mit einem Mal konnte ich mir vorstellen, wieder ganz nach Dunkelsteig zurückzukehren. Gemeinsam mit Adrian seine kleine Honigproduktion weiter auszubauen und ein einfaches Leben zu führen. Weg aus der hektischen Großstadt, zurück in den Ort meiner Kindheit. Doch Dunkelsteig war nach wie vor von einer Tragödie überschattet. Ich wusste, dass ich erst zur Ruhe kommen würde, wenn ich das Geheimnis um Manus Schicksal gelöst hatte.
Mit diesen Gedanken im Kopf lag ich noch lange wach, wälzte mich unruhig hin und her und lauschte Adrians entspanntem Atem. Schließlich versank ich in einen Traum, in dem ich gemeinsam mit Manu in den Teufelsspalt sprang. Wir hielten uns an den Händen, während wir in rasendem Tempo nach unten stürzten, dort, wo eine gelbliche Flamme gierig züngelte und ungeduldig auf uns wartete.
Mit bleiernem Schädel wachte ich auf, tastete auf die Decke neben mir. Adrian war verschwunden. Von draußen hörte ich ein Geräusch. Nackt schwang ich mich aus dem Bett und tappte barfuß nach draußen, wo Adrian am Tresen in der Küche stand und geschäftig hantierte. Ich griff nach meinem Trenchcoat, der noch auf dem Boden lag, und warf ihn mir über die Schultern.
»Hey.« Ich legte meine Wange auf seinen nackten Rücken. »Wieso bist du schon wach?«
»Ich konnte nicht mehr schlafen.« Adrian drehte sich zu mir und sah mich lange an. Ich versuchte, in sein Inneres zu blicken. Doch es gelang mir nicht, das Schwarz seiner Augen verlor sich im Nichts.
»Wenn du möchtest, dann fahre ich ins Dorf und hole uns frische Semmeln zum Frühstück.« Er wandte den Blick von mir ab und küsste mich stattdessen. Wieder spürte ich das Kribbeln im Bauch und strich mit meinen Fingern über seine Brust.
»Später.« Diesmal übernahm ich das Kommando und dirigierte ihn zum Küchentisch. Verdrängte die Gedanken tief in mein Unterbewusstsein und ließ mich nur von meinen Gefühlen leiten. Als wir nach einem ekstatischen Liebesspiel wieder aus der Tiefe des Ozeans auftauchten, fühlte ich mich glücklich wie schon lange nicht mehr. Hatte ich tatsächlich das Leben gefunden, das ich mir insgeheim wünschte?
Plötzlich wandte sich Adrian von mir ab und schnappte sich den Schlüssel auf dem Esstisch. »Bin gleich wieder zurück.«
»Wie? Wohin gehst du?«
»Einkaufen, das habe ich doch gesagt.« Er schlüpfte in Hose und Pullover und strich sich die Haare zurück. »Bin schnell wieder da«, meinte er sanft und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Mit einer Kaffeetasse in der Hand lehnte ich am Türpfosten und sah seinem Wagen nach, der langsam den gewundenen Weg nach unten ins Dorf fuhr. Schließlich drehte ich um und ging zurück ins Haus. Vor einem Regal mit Schallplatten blieb ich stehen. Interessiert blätterte ich die Alben durch. Er hatte einen breit gefächerten Musikgeschmack. Eine LP stand ein wenig heraus, so als wäre sie gerade benutzt worden. Es war die Millennium-Songs , Lieder von der Jahrtausendwende. Die gleiche LP hatte Manu von ihrer Mutter zum Geburtstag bekommen. Ich zog sie aus dem Regal und ging damit zum Plattenspieler. Als ich die Vinylscheibe aus der Hülle zog, fiel ein Umschlag auf den Boden. Ich bückte mich und hob ihn auf. Auf der Vorderseite stand »Manu« in Adrians Handschrift. Automatisch öffnete ich den Umschlag und zog einen Stoß Fotos heraus.
Wie benommen starrte ich auf die Aufnahmen. Es waren Bilder unseres letzten Abends beim Teufelsspalt. Wieso hatte Adrian gesagt, er hätte sie weggeworfen? Warum hatte er mich belogen? Wer spielte hier noch ein falsches Spiel?
Hastig blätterte ich die Aufnahmen durch. Manu und ich, als ich ihr das Freundschaftsband um das Handgelenk knüpfte. Johannes und Adrian beim Holz sammeln. Dann wir alle vier, ein Foto mit Selbstauslöser gemacht. Auch das lodernde Lagerfeuer war auf einer Aufnahme. Ich wollte es schon zurücklegen, da stutzte ich. Hinter dem Feuer entdeckte ich eine zusammengekauerte Gestalt. Anders als auf meiner verwackelten Aufnahme war sie deutlich zu erkennen. Mit einem Mal begann ich zu zittern, und das Foto wäre mir beinahe aus der Hand gefallen. Ich spürte, wie mir der eiskalte Schweiß den Rücken hinunterlief.
»Das darf doch nicht wahr sein«, murmelte ich halblaut. Wie warnende Blitze irrlichterten mit einem Mal Markus‘ Worte durch meine düsteren Gedanken: Pass auf, dass nicht du das nächste Opfer wirst.