D ie Morgensonne schien mir ins Gesicht, als ich Adrians Hof hastig verließ. Ich knüpfte meinen Trenchcoat zu und stellte den Kragen auf. Trotzdem fröstelte es mich. Vergeblich schlang ich die Arme um meinen Körper, um mich gegen die innere Kälte zu schützen.
»Warum nur passiert immer mir so etwas«, murmelte ich laut und klopfte mir mit der Faust gegen die Stirn. »Was hat das alles zu bedeuten?« Die Euphorie, die mich nach unserer leidenschaftlichen Nacht beflügelt hatte, war wie weggeblasen. Alles, was ich mir in diesem Moment wünschte, war, Adrians Geruch von meiner Haut zu entfernen. Jede kleinste Erinnerung an letzte Nacht musste verschwinden. ›Zuerst duschen und frische Kleider anziehen, dann kümmere ich mich um das Foto.‹ In genau dieser Reihenfolge wollte ich vorgehen. Dieser Plan brachte Struktur in mein chaotisches Denken.
»Wie ein Teenager habe ich mich verführen lassen«, haderte ich. Je weiter ich mich von Adrians Haus entfernte, desto klarer sah ich das Bild vor Augen. Mit seinem Charme hatte er mich eingefangen, damit ich keine weiteren Nachforschungen anstellen würde.
In der Ferne erblickte ich bereits Mutters Haus, und neben dem Gartenzaun parkte ein Wagen mit Berliner Kennzeichen.
›Merkwürdig‹, dachte ich, näherte mich und öffnete die Tür. Von drinnen hörte ich Stimmengemurmel. »Mutter, ich bin wieder da. Hast du Besuch?«, fragte ich und trat in die Küche. »Ich bin gleich wieder weg und …«
Schlagartig verstummte ich und blieb wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen. Der Mann, der mit dem Rücken zu mir am Tisch saß, drehte sich um. Er hatte schwarze Locken und einen Dreitagebart. Auf den ersten Blick wirkte er wie die etwas jüngere Ausgabe von Adrian. Es war mein Mann, Tim.
»Felicitas, endlich bist du da!« Er stand auf und drückte mich überschwänglich an sich. Ich hielt die Luft an und machte mich steif wie ein Brett. ›Was für ein Albtraum, hört denn das nie auf?‹, dachte ich verzweifelt.
»Was machst du hier?« Meine Stimme war nur ein heiseres Würgen. Am liebsten hätte ich ihn zurückgestoßen und wäre geflüchtet. Aber wohin? Es gab in diesem Ort niemanden mehr, dem ich vertrauen konnte.
»Jetzt enttäuschst du mich aber. Wir haben doch vereinbart, dass wir uns hier bei deiner Mutter treffen, um etwas Wichtiges zu besprechen.« Tim zwinkerte meiner Mutter vertraulich zu. »Hübsch siehst du aus«, meinte er dann anerkennend. »Die Landluft scheint dir gutzutun.«
›Nein, es war deine Abwesenheit, die sich positiv auf mein Aussehen auswirkte‹, dachte ich und schwieg. Dabei lächelte ich ihm gequält ins Gesicht.
»Felicitas, freust du dich denn gar nicht? Komm, setz dich zu uns.« Mutter winkte mich zu sich auf die Bank, und wie unter Hypnose folgte ich ihrer Aufforderung. »Du hast mir ja ganz schön einen Bären aufgebunden.«
»Wie bitte?« Mühsam presste ich die Worte heraus, denn ich stand noch immer unter Schock.
»Tim und du – ihr seid gar nicht getrennt«, plapperte sie weiter. »Im Gegenteil. Ihr möchtet euer Eheversprechen hier in Dunkelsteig erneuern.«
»Was?« Noch immer war ich nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Tim hatte mich überrumpelt. Und jetzt diese bizarre Idee mit dem Eheversprechen.
»Ich weiß, es sollte eine Überraschung sein, aber dein Mann war so glücklich und hat es am Telefon ausgeplaudert. Nicht wahr, Tim?« Mutter beugte sich über den Tisch und tätschelte seine Hand. »Ich bin ja so glücklich, dass wir uns endlich kennenlernen.«
»Auch ich finde es schön, wir sind eine richtige Familie. Und jetzt weiß ich, woher Felicitas ihr gutes Aussehen hat. Natürlich von dir«, sülzte er.
Ich beobachtete dieses Theater mit wachsendem Entsetzen und hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst, hielt mich aber zurück.
»Lass uns die nächsten Tage nach Schwarzach fahren und ein Brautkleid für dich aussuchen«, redete Erika weiter. »Du kannst zum Glück noch kirchlich heiraten.«
»Wovon sprecht ihr eigentlich? Wieso soll ich kirchlich heiraten?« Langsam löste ich mich aus meiner Erstarrung. Ich holte tief Luft und blickte von Tim zu Mutter. Aber ich hatte den Eindruck, als würden beide meine Anwesenheit komplett ignorieren.
»Ich habe schon mit dem Pfarrer gesprochen.« Tim strahlte über das ganze Gesicht. »Er würde sich freuen, die Trauung vorzunehmen. Schließlich kennt er Felicitas schon, seit sie ein kleines Mädchen war.«
»Sie hat von ihm die Erstkommunion erhalten. Schade, dass Franz das nicht mehr erleben kann«, antwortete Mutter mit Tränen in den Augen. »Erinnerst du dich noch an die schöne Feier?«
»Vater hat meine Erstkommunionskerze zerhackt.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und blickte sie traurig an. »Weil ich während der Messe falsch gesungen habe.«
»Papperlapapp. Das bildest du dir bloß ein.« Mutter lächelte meine Bemerkung weg. Sie betrachtete mich mitleidig, als wäre ich schwachsinnig. »Freu dich doch, dass du in Weiß heiraten kannst.«
»Aber wir sind doch schon verheiratet«, krächzte ich. »Und wir wollen uns …« Ich war im Begriff, gerade »scheiden lassen« auszusprechen, als Tim mir ins Wort fiel.
»Aber nicht kirchlich. Das ist ganz etwas anderes. Der Bund fürs Leben muss vor Gott geschlossen werden. Und zwar unauflöslich. Nicht wahr, Erika?«
»Bis der Tod euch scheidet«, ergänzte Mutter. Sie zog ein geblümtes Taschentuch aus ihrer Schürze und schnäuzte sich vor Rührung.
›Vorher bringe ich dich um‹, dachte ich. ›Tief durchatmen. Denk an was Schönes …‹ Die Nacht mit Adrian kam mir in den Sinn, und ich spürte einen Stich in meinem Herzen. Das Zusammensein mit ihm war schön gewesen, aber meine Entdeckung hatte dieses Gefühl vernichtet. Hatte ich mich wirklich in Adrian getäuscht? Stopp, bremste ich mich. Jetzt ging es um Tim. Ich musste auf der Stelle reinen Tisch machen.
»Komm mit rauf auf mein Zimmer!«, sagte ich zu ihm bestimmt und erhob mich. »Entschuldige Mutter, aber wir haben noch so einiges zu besprechen.«
»Das verstehe ich doch, mein Kind. Lasst euch nicht stören. Ich muss sowieso zum Pfarrer und zur Wirtin, alles für den großen Tag organisieren.«
»Das hat noch Zeit«, warf ich ein, doch wieder unterbrach mich Tim.
»Eine gute Idee, Erika. Man muss mit der Planung rechtzeitig beginnen. Das werde ich auch zu den Gästen in meinem zukünftigen Lokal sagen, wenn sie es für eine Feier buchen.«
»Kommst du endlich!«, sagte ich mit finsterer Miene.
Schweren Schrittes stieg ich die Treppe hoch. Tim redete ununterbrochen auf mich ein, und es fühlte sich an, als würden seine Worte alle Energie aus meinem Körper saugen.
»Was erzählst du von einem eigenen Lokal? Du bist schon seit ewigen Zeiten arbeitslos«, zischte ich auf dem Weg zu meinem Zimmer.
»Aber ich habe eine tolle Bar in Aussicht. Der Betrag für die Ablöse beträgt nur 10.000 Euro. Ein Schnäppchen.«
»Und woher willst du das Geld dafür nehmen?« Ich blieb stehen und musterte Tim. ›Ist der wahnsinnig geworden?‹
»Na von dir.«
»Ich habe nichts mehr.«
»Aber dein Konto ist voll«, widersprach Tim.
»Woher willst du das wissen?« Ich spürte, wie meine Knie weich wurden und kalter Schweiß meinen Rücken hinunterlief. Wie in Trance öffnete ich die Tür zu meinem Zimmer und wartete, bis Tim eingetreten war. Dann fragte ich ihn: »Hast du etwa mein Konto gehackt?«
»Keine Angst, aber ich kenne dein Passwort. Habe dir mal heimlich beim Einloggen über die Schulter geschaut. Und du lässt deine TAN-Liste einfach auf dem Schreibtisch herumliegen.«
»Und hebst du Geld von meinem Konto ab?«
»Mach dir keinen Stress, Baby.« Tim knipste sein Bubenlächeln an. »Nur das Geld für den Mietwagen.«
»Nenn mich nicht Baby!«, zischte ich. »Du weißt, ich hasse Kosenamen.« Meine Wut hatte auch etwas Gutes an sich, denn ich fand zu meiner alten Stärke zurück.
»Okay. Dann eben Felicitas. Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?«
»Nein! Und das mit der kirchlichen Hochzeit kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Noch einmal für dich zum Mitschreiben: Wir lassen uns scheiden.«
»Bleib doch ruhig! Ich verstehe, dass du unter Stress stehst. Das geht vielen Kriminellen so, die an den Ort ihres Verbrechens zurückkehren.«
»Wovon redest du? Bist du jetzt komplett übergeschnappt?«
»Du begreifst schon, was ich meine. Es geht um die Geschichte mit deiner Freundin Manuela. Aber ich halte immer zu dir. In guten wie in schlechten Zeiten.« Tim kam auf mich zu und streichelte meine Wange.
»Rühr mich nicht an!« Wütend stieß ich seine Hand weg. »Zwischen uns ist es aus. Ein für alle Mal.«
»Ich habe mich gestern im Wirtshaus mit einem pensionierten Polizisten über den Fall unterhalten. Er verdächtigt dich und deinen Liebhaber.«
»Du hast du mit Inspektor Grafinger gesprochen?« ›Du kannst niemandem vertrauen. Nicht einmal der Person, die dir diesen Rat gegeben hat‹, dachte ich bitter und setzte mich auf das Bett.
»Genau, das ist sein Name. Er hat mir von seinen Zweifeln berichtet.«
»Das darf er doch gar nicht«, fuhr ich dazwischen. »Außerdem geht dich diese ganze Angelegenheit nichts an.«
»Doch, das tut sie. Wenn man vorhat, hier zu leben, dann möchte man wissen, was in der Vergangenheit in dem Ort passiert ist.«
»Du lebst aber nicht hier. Verschwinde wieder nach Berlin zu deiner Bar und lass mich endlich in Ruhe.«
»Irrtum, Baby. Die Bar werde ich in Dunkelsteig eröffnen. Ich habe schon mit Dora, der Bürgermeisterin, gesprochen. Sie findet das toll, besonders im Hinblick auf die Neupositionierung des Ortes als Wellnessdorf.«
»Du lügst!« Meine mühsam wiedergewonnene Energie sackte in sich zusammen wie ein Ballon, dem alle Luft entweicht. Kraftlos sank ich auf das Bett. Vor meinem geistigen Auge entfaltete sich ein Horrorszenario. Tim als Barbesitzer in Dunkelsteig und ich als seine Frau, die ihm auf ewige Zeiten ausgeliefert war.
»Das ist die Wahrheit.« Tim stand breitbeinig mit verschränkten Armen vor mir und betrachtete mich mit einem mitleidigen Blick. »Ruh dich aus, Baby. Ich habe noch einiges zu erledigen.«
Ich antwortete nicht, sondern starrte auf einen braunen Fleck an der Decke, wo Wasser durch das Dach eingedrungen war. Dann hörte ich, wie Tim durchs Zimmer ging, die Tür öffnete, hinter sich schloss und zusperrte. Ich war gefangen im Verlies meiner Vergangenheit ohne Aussicht auf Freiheit.