I n einem Schockzustand ist der Kopf wie leergespült, man ist unfähig, sich zu rühren. Alles, was ringsherum passiert, ist wie ein Film, der abläuft, aber in dessen Handlung man nicht eingreifen kann. So fühlte ich mich, als ich erschöpft auf dem Bett lag. Ich sah, wie Tim aus dem Zimmer ging und die Tür versperrte. Ich versuchte aufzustehen, ihn daran zu hindern, wollte ihm hinterherrufen, aber ich brachte kein Wort heraus und konnte mich nicht bewegen. Tim trampelte die Treppe hinunter, schlug die Haustür hinter sich zu und startete den Wagen. Als das Motorengeräusch verklungen war, ebbte die Paralyse in meinem Kopf langsam ab, und ich konnte reagieren. In einem ersten Impuls lief ich zur Tür und rüttelte vergebens an der Klinke. Verzweifelt schlug ich mit den Fäusten gegen das massive Holz, merkte aber schnell, dass es zwecklos war.
›Ich muss verschwinden!‹ Nur dieser eine Gedanke rotierte in meinem Kopf. Dann drehte ich mich verzweifelt zum Fenster, riss es auf und blickte nach unten. Mein Zimmer lag im ersten Stock. Wenn ich hinuntersprang, würde ich mir alle Knochen brechen. Also was tun? Suchend blickte ich umher, entdeckte das Abflussrohr der Dachrinne, das bis auf den Boden reichte. Von meinem Fenster aus war es gut einen Meter bis zu dem Rohr.
»Versuch es! Sei kein Feigling«, machte ich mir selbst Mut. Vorsichtig kletterte ich auf das Fensterbrett und beugte mich nach draußen. Aber das Rohr war zu weit entfernt, ich konnte es mit der Hand nicht erreichen. Langsam rutschte ich bis an den äußersten Rand des Fensterbretts. Dann stand ich vorsichtig auf. Wie ein Akrobat balancierte ich auf dem Fenstersims. Versuchte, das Gleichgewicht zu halten, um nicht abzustürzen. Dann holte ich tief Luft und streckte meinen Arm an der Hausmauer entlang. Erwischte das Regenrohr mit der Hand. Tastete mit den Fingern über das Blech, bis ich einen sicheren Halt gefunden hatte. Dann stieß ich mich mit den Füßen vom Sims ab, hing für den Bruchteil einer Sekunde in der Luft, ehe ich auch mit der zweiten Hand das Rohr zu fassen bekam. Der Schwung war so stark, dass ich abrutschte und mir die Hände aufschürfte.
Doch dann fand ich wieder Halt und kletterte an der Rinne nach unten. Als ich festen Boden unter den Füßen hatte, überlegte ich, was ich jetzt tun sollte. Tim war in der Zwischenzeit mit seiner kranken Planung beschäftigt, ich musste mich später um ihn kümmern. Ich hatte Manu am Grabstein versprochen, endlich die Wahrheit über ihr Verschwinden aufzudecken, deshalb konzentrierte ich mich auf meinen ursprünglichen Plan.
Ich zog das Foto aus meiner Hosentasche, das ich in Adrians Haus gefunden und mitgenommen hatte.
›Also hatte ich recht‹, dachte ich. ›Jemand ist um das Feuer geschlichen und hat uns beobachtet.‹ Jetzt erkannte ich die Person auf der Aufnahme und wusste, dass ich der Lösung ein gutes Stück näherkam, wenn ich mit ihr reden würde.
Zum Glück war die Haustür nicht abgesperrt, und so konnte ich ungehindert eintreten. Ich schlüpfte in Mutters Wanderschuhe und zog auch ihre Daunenjacke an. Dann machte ich mich auf den Weg. Es wehte ein warmer Föhnwind, der schlechtes Wetter ankündigte, und zum ersten Mal seit meiner Ankunft schwitzte ich beim Gehen. Ich orientierte mich an den Randsteinen und kam schnell voran. Mehrmals blieb ich stehen und vergewisserte mich, nicht in die falsche Richtung zu laufen. Mit einem Mal bemerkte ich ein helles Leuchten auf einer Lichtung weit vorne. Ich konnte mir zunächst keinen Reim darauf machen, doch als ich näherkam, sah ich, dass ein Feuer wütete.
Die kleine Jagdhütte stand in Flammen! Ich rannte los, erblickte den Schein der Feuerzungen durch die Fenster. Als ich die Hütte erreichte, zerbarst mit einem lauten Knall eine Scheibe, und eine Flamme schoss nach draußen. Gierig erfassten die Feuerzungen die aus Knochen gefertigten Windspiele und Traumfänger und verbrannten sie zu Asche.
»Ragnis, bist du da drinnen?«, rief ich, aber die einzige Antwort war das Knistern der Flammen. Schützend hob ich die Hand vor Mund und Nase, versuchte, die Tür zu öffnen, aber die Klinke war bereits zu heiß. Kurzentschlossen trat ich mit dem Fuß dagegen, und das angekohlte Holz splitterte. Eine beißende Rauchwolke stieg mir entgegen, als ich den Raum betrat. Die Cannabispflanzen in den Töpfen brannten lichterloh, und das Feuer breitete sich schnell weiter aus. Feuerzungen rasten über den Boden, entzündeten das Sofa, den Schreibtisch und die restlichen Habseligkeiten von Ragnis. In Windeseile scannte ich den Raum, konnte aber die junge Frau nirgends entdecken. Rings um mich züngelten Flammen und versengten meine Kleidung. Ich musste umkehren, denn es wurde immer gefährlicher. Geduckt lief ich zum Eingang, doch in diesem Moment stürzte ein brennender Dachbalken direkt vor die Tür. Mein Fluchtweg war versperrt.
»Verdammt!«, fluchte ich und versuchte, den glosenden Balken mit den Füßen wegzutreten. Aber das Holz war schwer und ließ sich nicht bewegen. Adrenalin rauschte durch meinen Körper, schwemmte die Panik weg, die mich erfasste und mir die Kehle zuschnürte. Plötzlich fing meine Daunenjacke Feuer. Mit der Hand versuchte ich die Flammen auszuschlagen, aber es war zwecklos. Ich riss mir die Jacke vom Körper und spürte mit einem Mal die enorme Hitze, die durch meinen Pullover bis auf die Haut drang und sie zum Glühen brachte. Beißender Rauch hüllte mich ein. Ein weiterer glühender Dachbalken krachte vor meine Füße, und die Funken stoben hoch. Sie versengten meine Jeans, drangen wie spitze Nadeln bis auf die Haut. Ich schwankte vor und zurück, drehte mich hilflos im Kreis, eingeschlossen in diesem Flammeninferno. Mit einem Mal traf mich die Gewissheit wie ein Faustschlag: Du wirst hier sterben!
Noch einmal mobilisierte ich all meine Kräfte und stand schwankend auf. Ich machte zwei unbeholfene Schritte Richtung Tür, doch dann wurde mir mit einem Mal schwarz vor Augen. Ehe ich zu Boden sank, spürte ich plötzlich zwei Arme, die mich unter den Achseln fassten. Dann wurde ich hochgehoben und durch das funkensprühende Flammeninferno nach draußen getragen. Als ich die Augen aufschlug, lag ich auf dem feuchten Waldboden, und vereinzelte Sonnenstrahlen blinzelten auf mein Gesicht herab. Ächzend richtete ich mich auf und blickte umher. Vor mir sah ich die brennende Jagdhütte, die gerade in sich zusammenstürzte.
»Das war knapp, Felicitas«, hörte ich eine Stimme an meinem Ohr. Ich wirbelte herum und sah in das besorgte Gesicht von Grafinger.
»Danke, du hast mir das Leben gerettet«, krächzte ich und musste husten.
»Du hast Glück gehabt, dass ich rechtzeitig gekommen bin«, erwiderte er und strich sich den weißen Schnauzbart. »Wo ist Ragnis?«
»Ich weiß es nicht. Ragnis war nicht in der Hütte. Als ich eintraf, stand schon alles in Flammen.«
»Ich alarmiere die Feuerwehr.« Grafinger zog sein Handy aus dem Anorak und wählte den Notruf.
»Was machst du eigentlich hier?«, fragte ich, nachdem er das Gespräch beendet hatte.
»Ich wollte mit Ragnis reden. Aber jemand hat wahrscheinlich Feuer gelegt, um das zu verhindern. Es gibt auch frische Reifenspuren hinterm Haus. Ich werde einen Abdruck machen lassen. Schaut aus wie von einem Geländewagen.«
»Dann ist Ragnis in Gefahr, wir müssen sie finden! Hoffentlich hat sie sich nicht vor Angst in der Hütte versteckt und ist verbrannt.« Ich setzte mich auf, die Anspannung ließ nach, und ich begann zu zittern.
Grafinger zog seinen Anorak aus und legte ihn mir fürsorglich um die Schultern. Dann nahm er einen Flachmann aus der Seitentasche seiner Combathose und hielt ihn mir auffordernd entgegen. »Der wärmt dich auf.«
»Danke.« Ich nahm einen großen Schluck, und der Schnaps rann feurig meine Kehle hinunter. »Ragnis hat uns vor zwanzig Jahren beim Lagerfeuer beobachtet.«
»Du hast also dasselbe wie ich gedacht«, meinte Grafinger. »Ich erinnerte mich wieder an einen Vorfall in der Nacht von Manuelas Verschwinden. Jemand aus dem Dorf ist ganz aufgeregt zum Polizeiposten gekommen und hat angegeben, dass die kleine Ragnis aus dem Wald, der zum Spalt führt, runtergelaufen ist. Die Kollegin hat das auch aufgenommen und mit der Mutter telefoniert. Aber die hat damals ausgesagt, dass sie mit der Kleinen die ganze Nacht im selben Bett geschlafen hat. Deshalb sind wir der Sache nicht weiter nachgegangen.« Grafinger nahm einen Schluck aus dem Flachmann. »Der Schatten auf dem unscharfen Foto könnte Ragnis gewesen sein, dachte ich. Deshalb bin ich hier.«
»Deine Vermutung war richtig. Ich habe ein Foto gefunden, auf dem sie ganz deutlich zu erkennen.«
»Woher hast du das?«
»Ich habs bei Adrian gefunden. Er hatte es zwischen seinen Schallplatten versteckt und vor mir verschwiegen.« Ich langte in die Tasche meiner Jeans und holte das Foto hervor. Es war an den Ecken durch das Feuer leicht angesengt, aber der Rest war unbeschadet.
»Ich erkenne zwar nur das Gesicht eines kleinen Mädchens. Aber das könnte durchaus Ragnis sein.« Grafinger strich sich nachdenklich den Schnauzbart. »Das ist leider kein Beweis.«
»Ragnis hat ein Muttermal an der Oberlippe. Und dieses Mädchen auf dem Foto ebenfalls.«
Von fern hörte ich jetzt Sirenen, und gleich darauf tauchten zwei Feuerwehrwagen auf. Die Männer sprangen von den Fahrzeugen, rollten professionell ihre Schläuche auf und begannen mit dem Löschen. Immer wieder loderten kleine Flammenherde in die Höhe, doch bald hatte die Feuerwehr den Brand unter Kontrolle.
»Überprüft, ob das Brandstiftung war«, sagte Grafinger zu dem Leiter der Einheit.
»Ich dachte, du bist in Pension, Leo?«, meinte dieser.
»Aber mein Hirn ist noch nicht in Rente«, konterte Grafinger schlagfertig.
»Wenn es Brandstiftung war, dann wissen wir, dass Ragnis damals etwas beobachtet hat.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte ich.
»Warum sonst hätte sich der Täter die Mühe machen und die Hütte niederbrennen sollen? Ich sehe mir mal an, was das Feuer übrig gelassen hat.« Grafinger ging zu den kokelnden Überresten. Gemeinsam mit dem Einsatzleiter kletterte er über die verkohlten Balken und sah sich genau um. Als er zurückkam, machte er eine besorgte Miene und hockte sich zu mir.
»Keine Spur von Ragnis. Zum Glück ist sie nicht da drin gewesen.«
»Wir müssen sie unbedingt finden.«
»Natürlich, aber das kannst du ruhig der Polizei überlassen.« Grafinger stand auf und blickte mich an. »Zunächst bringe ich dich ins Dorf zu Karl. Der soll dich gründlich durchchecken.«
»Nein, mir geht es gut«, winkte ich ab und erhob mich schwankend. Mit dem Handrücken wischte ich mir den Ruß aus dem Gesicht. »Ich will jetzt wissen, warum Adrian wegen der Fotos gelogen hat.«
»In deinem Zustand?« Grafinger maß mich mit einem zweifelnden Blick, doch ich ließ mich davon nicht beirren.
»Ich bin fit.«
»Na dann los. Auf deine Verantwortung«, gab er schließlich nach. Schweigend passierten wir die Feuerwehrwagen, vor denen die Männer standen und über den Brand redeten.
»Du könntest recht haben, Leo.« Der Einsatzleiter drehte sich zu uns. »Das Feuer ist an zwei Stellen ausgebrochen. Das sieht mir verdammt nach Brandstiftung aus.«
Das Adrenalin schoss durch meine Venen, als ich diese Bemerkung hörte. Manu war also keinem Unfall zum Opfer gefallen.