KAPITEL ZWEI­UND­FÜNFZIG

Manuela - zwanzig Jahre früher

S chatten tanzten die Felswände am Teufelsspalt entlang und wurden vom Lagerfeuer rot gefärbt. Der Himmel schimmerte violett, und das Licht war noch dämmrig an diesem besonderen Abend. Manuela saß gemeinsam mit ihrer Freundin vor den prasselnden Flammen und rauchte eine Zigarette. Plötzlich hob sie den Kopf und lauschte.

»Hast du das auch gehört?«, fragte sie Felicitas.

»Nein, was denn?«

»Doch, da hat jemand meinen Namen geflüstert«, beharrte Manuela. Sie schnippte ihre Zigarette in die Glut und stand auf. »Da vorne ist es gewesen.«

»Das ist eine Halluzination. Ich sehe jetzt auch überall Bergziegen«, kicherte Felicitas.

»Da, schon wieder! Feli, hast du was mit den Ohren? Das musst du doch mitbekommen.«

»Quatsch! Komm, hier ist noch Wodka.« Felicitas streckte Manuela die Flasche entgegen.

»Gib her.« Manuela griff danach und setzte sie an ihren Mund. Sie nahm einen kräftigen Schluck, wischte sich dann mit dem Handrücken über die Lippen und stellte die Flasche auf den Boden. »Ich schau mal nach, wo die Stimme herkommt.« Manuela warf ihre blonden Haare zurück und schwankte gefährlich nahe am Feuer entlang.

»Manu, bleib lieber hier. Du bist völlig betrunken!«, rief ihr Felicitas hinterher.

»Blödsinn. Ich muss wissen, ob da jemand ist!«

Die Felsen erhoben sich drohend in die finstere Nacht. Der Feuerschein erhellte sie schwach, und Manuela konnte sich ein wenig orientieren. Weiter vorne erkannte sie den dunklen Spalt, über dem schwarzer Rauch hing. Es hatte den Eindruck, als würde der Qualm direkt daraus hochsteigen.

»Das ist die Hölle«, flüsterte Manuela und blieb stehen. Plötzlich hörte sie wieder die Stimme leise »Manu! Komm zu mir!« rufen.

»Wo bist du?« Manuela drehte den Kopf hin und her. Da entdeckte sie bei einem Felsen einen Schatten und taumelte darauf zu. »Wer bist du?«, fragte sie. Sie kniff die Augen zusammen, um scharf zu sehen. »Hey, was macht ihr denn da.« Mit offenem Mund stand Manuela vor Johannes und Adrian, die sich gerade küssten.

Als sie die Stimme ihrer Freundin hörten, erstarrten beide und lösten sich blitzschnell voneinander.

»Habt ihr meinen Namen gerufen?«

»Äh, nein«, stotterte Johannes verlegen.

»Wir haben nichts gehört. Es ist nicht so, wie es vielleicht den Anschein hat.« Adrian wischte sich verlegen mit dem Handrücken über den Mund. »Ich habs probiert, aber ich mach mir einfach nichts aus Männern. Das musst du mir glauben.«

»Ist schon okay, Addi. Aber bei Joe ist es anders, oder? Habe ich mir schon gedacht.« Manuela lachte laut los. »Du bist schwul! Mann, wie cool ist das denn. Weiß das dein Vater?«

»Manu!«, rief Johannes verzweifelt. »Ich bitte dich. Sag kein Wort zu niemandem. Wenn das meinem Vater zu Ohren kommt, schlägt er mich tot.«

»Mal sehen. Vielleicht erzähle ich es ihm.« Manuela zwinkerte Johannes zu und entfernte sich schwankend.

Planlos irrte sie zwischen den Felsen umher, hatte mit einem Mal die Orientierung verloren. Plötzlich hörte sie wieder diese verführerische Stimme, diesmal ganz in der Nähe. »Manu! Hier bin ich!«

»Wo bist du?« Manuela drehte sich im Kreis. Sie spürte, dass ihr übel wurde. Warum nur hatte sie so viele Pillen geschluckt und dazu Wodka getrunken? Das machte sich jetzt bemerkbar. Ihre Augen tränten. Die Umgebung veränderte sich, wurde unscharf. Verwirrt taumelte sie umher und prallte hart gegen einen Felsen. Blut schoss aus ihrer Nase, tropfte auf ihren Pullover. Mit dem Handrücken strich sie über ihren schmerzenden Nasenrücken. Sah das viele Blut auf ihren Fingern. Schüttelte sich vor Ekel. Immer mehr Blut tropfte auf den Pullover. Sie begann zu zittern. In ihrem Hinterkopf schrillten die Alarmglocken. Ihr Herz raste. ›Ich muss zurück zum Feuer‹, dachte sie panisch. Doch der Feuerschein war weit entfernt. Unerreichbar in ihrem Zustand. Wieder knallte sie gegen einen Stein. Schürfte sich den Ellbogen auf.

»Feli, hilf mir bitte!«, rief sie mit schwerer Zunge, doch alles, was sie hörte, war diese wispernde Stimme, die in einem fort »Manu! Wir gehören für immer zusammen!«, zischte.

»Sei endlich still!« Manuela hielt sich beide Hände über die Ohren, taumelte weiter. Plötzlich sah sie einen schwarzen Schatten an einem Baumstumpf lehnen.

»Manu, endlich haben wir uns gefunden.« Die Gestalt löste sich aus der Dunkelheit und kam auf Manuela zu. »Wie siehst du denn aus. Hast du dich verletzt? Komm, ich helfe dir. Zieh den Pullover aus, er ist ja ganz schmutzig.«

Manuela war zu keiner Gegenwehr fähig, als ihr zwei Hände den Pulli auszogen und das T-Shirt hochschoben.

»Was für schöne Brüste du doch hast.« Es war ein Flüstern, das von ganz weit kam. Eiskalte Hände strichen über ihren Busen, und ein Schauer durchzuckte Manuela. Noch immer war ihr Blick unscharf, und sie konnte die Person vor sich nicht erkennen. Alles zerfloss vor ihrem Gesichtsfeld, löste sich in einem schwarzen Nichts auf. Lippen pressten sich auf ihren Mund. Überschütteten sie mit feuchten Küssen. Wieder spürte sie die kalten Finger auf ihrer Haut, und plötzlich kam ihr alles hoch. Sie drehte sich schnell zur Seite und musste sich übergeben. Keuchend richtete sie sich dann wieder auf und stützte sich an dem fremden Arm auf. Eine eiskalte Hand strich über ihren Hintern und drückte ihn. Eine Welle des Ekels schwappte über Manuela.

»Nimm deine Finger sofort von mir! Du ekelst mich an!«, zischte sie und stieß die gierigen Hände weg. Umständlich versuchte sie, das T-Shirt über ihren Busen zu ziehen, schaffte es aber nicht. »Feli, wo bist du? Ich kann nicht mehr«, lallte sie in das nachtschwarze Dunkel. Doch niemand antwortete ihr. »Verschwinde!«, fauchte sie und spuckte auf den Boden. Noch immer schmeckte sie die ekeligen Küsse auf ihrem Mund und musste sich erneut übergeben.

Schwankend steuerte Manuela auf den Feuerschein zu, wollte ihrer Freundin erzählen, was sie soeben erlebt hatte. Doch mit einem Mal wurde sie von hinten gepackt und hochgehoben. Sie schlug mit den Armen durch die Luft, verhakte sich an einem Knopf und riss sich dabei das Freundschaftsarmband vom Gelenk.

»Was soll das?«, lallte sie und versuchte, sich loszureißen. »Lass mich sofort los!«

»Wir statten jetzt dem Teufel einen Besuch ab.«

»Helft mir!«, krächzte Manuela und versuchte vergeblich, sich zu befreien.

»Wenn ich dich nicht haben kann, dann sollst du auch niemand anderem gehören!«, zischte die Stimme und stieß Manuela über den Rand der Spalte. Reflexartig packte sie eine Wurzel, die sich zwischen den Felsen durchgegraben hatte. Mit beiden Händen hielt sie sich verbissen daran fest, kleine Steine rieselten in ihr Gesicht und verhakten sich in ihrem blonden Haar. Manuela war noch nicht bereit zu sterben, nicht an diesem Tag, der so schön begonnen hatte. Sie hatte so viele Pläne, und die Welt stand ihr offen. Doch jetzt war sie in eine Sackgasse geraten, an deren Ende der Tod lauerte. Unendlich langsam drehte sich die Wurzel aus dem Erdreich und rutschte mit ihr wieder ein Stück abwärts.

»Hilfe! Hilfe!« Manuela nahm all ihre Kraft zusammen und kämpfte um ihr Leben. Doch ihre Schreie verhallten ungehört, segelten in den Spalt und verebbten auf dem schwarzen Grund.