KAPITEL SECHS­UND­FÜNFZIG

D er Polizeiposten von Dunkelsteig war im Amtshaus untergebracht und bestand aus zwei Räumen und einer Ausnüchterungszelle. Im vorderen Zimmer gab es einen Tresen, und dahinter saß der einzige Polizist, den es in dem Ort noch gab. Den hinteren Raum hatten zwei Beamte aus Schwarzach in Beschlag genommen. Diese beiden waren es auch, die mich in der Kapelle verhaftet und hergebracht hatten.

»Warum haben Sie mich vor allen Leuten festgenommen?«, fragte ich aufgebracht, als wir an einem Tisch in der Mitte des Raums Platz nahmen.

»Gedulden Sie sich.« Der Mann, auf dessen Uniformjacke Benno Mayer stand, klappte seinen Laptop auf und begann zu tippen. »Zunächst muss ich die Angaben zu Ihrer Person notieren«, meinte er und fragte mich nach Namen, Geburtsdatum und dergleichen. Während er alles emsig in seinen Computer tippte, saß seine Kollegin Verena Steiner mit eisiger Miene neben ihm. Sie blickte mich unverwandt an, so als würde sie ein mögliches Verbrechen an meinem Gesicht ablesen können. Auf mich wirkte sie wie ein Eisblock mit ihren straff zu einem Zopf festgezurrten blonden Haaren.

»Was wirft man mir vor?«, fragte ich, als Mayer mit der Aufnahme meiner Personalien fertig war. »Es muss einen hinreichenden Tatverdacht geben, wenn ich festgenommen werde. Und den würde ich gerne kennen«, brauste ich auf. ›Brems dich ein, Felicitas‹, ermahnte ich mich. ›Es hat keinen Sinn, wütend zu werden. Damit hilfst du dir nicht, im Gegenteil.‹

»Man wirft Ihnen vor, am Tod von Tim Banko schuld zu sein«, antwortete Verena Steiner nach einer längeren Pause.

»Das ist doch kompletter Blödsinn. Es war ein Unfall!«

»Sie wollten es wie einen Unfall aussehen lassen«, mischte sich jetzt Mayer ein.

»Was für einen Grund hätte ich denn, meinen Mann in die Tiefe zu stoßen?«

»Wut und Frust? Da gibt es viele Motive.« Verena Steiner zuckte mit den Schultern. »Fakt ist, dass Sie Ihrem Mann den Tod gewünscht haben.«

»Wie kommen Sie denn darauf?« Ich setzte mich aufrecht und blickte zwischen den beiden Polizisten hin und her. »Wir haben vielleicht manchmal gestritten, aber mehr auch nicht. Sie haben überhaupt keine Beweise für eine derartige Anschuldigung.«

»O doch, die haben wir«, meinte Verena Steiner gelassen.

»Die interessieren mich jetzt aber brennend.« Ich zog die Augenbrauen hoch, denn ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, welches belastende Material es geben könnte. »Bitte, dann präsentieren Sie mir endlich diese sogenannten Beweise.«

Steiner verzog keine Miene. Sie zog einen Plastikbeutel aus ihren Unterlagen und legte ihn auf den Tisch. Ich warf einen schnellen Blick darauf. In dem Beutel befand sich ein Handy. Abwartend blickte sie mich an.

»Ein Telefon, na und?«

»Es ist das Smartphone Ihres Mannes. Wir haben es beim Teufelsspalt gefunden«, ergänzte Mayer, der bisher die meiste Zeit geschwiegen hatte.

»Ja und? Er wird es verloren haben. Tim hat immer damit herumgespielt.« Ich konnte nicht erwähnen, dass Tim das Handy wahrscheinlich während seines Kampfes mit Johannes verloren hatte. Ich hatte Johannes versprochen, nichts davon zu sagen. Es war wie vor zwanzig Jahren, immer wieder war es Johannes, der Probleme mit der Wahrheit hatte.

»Das kann durchaus sein. Aber darum geht es im Augenblick auch gar nicht. Sondern mehr um den Inhalt.« Verena Steiner öffnete die Plastiktüte und nahm das Handy heraus. »Unsere Techniker haben die Daten analysiert. Es gibt da interessante WhatsApp-Dialoge zwischen ihm und Ihnen. Ich zitiere: Du würdest mich doch sicher auch gern in den Teufelsspalt stürzen . – Gute Idee. Manchmal wünsche ich mir, dass du wie Manu verschwindest

»Das ist völlig aus dem Zusammenhang gerissen!« Ich holte tief Luft, ehe ich weiterredete. »Tim hat mich oft um Hilfe gebeten, als wir schon getrennt lebten. Er war labil, und die Trennung machte ihm zu schaffen. Er hatte sogar Selbstmordgedanken. Diesbezüglich gibt es jede Menge WhatsApp-Dialoge zwischen uns.«

»Ist es normal, dass man sich trennt und trotzdem fast täglich Nachrichten miteinander austauscht?« Mayer machte ein zweifelndes Gesicht.

»Ich konnte ihn doch nicht mit seinen Depressionen alleine lassen. Deshalb haben wir vereinbart, abends zu chatten. Ich wollte eben einen zivilisierten Umgang auch nach der Trennung.«

»Zivilisierter Umgang? Warum sind Sie dann nach einem Streit in die Pension Sternhof geflüchtet?« Steiner blickte mich mit ihren kalten Augen direkt an.

»Äh, mein Mann wollte das alles nicht wahrhaben«, sagte ich und strich mir mit einer nervösen Geste die Haare zurück. »Er bildete sich ein, dass wir wieder zusammenkommen. In seinem Kopf hatte er die fixe Idee einer kirchlichen Trauung. Ich habe ihn zur Rede gestellt, aber er war stur und hat mich in meinem Zimmer eingesperrt.«

»Das nennen Sie einen zivilisierten Umgang?« Mayer musterte mich mit einem skeptischen Blick.

»Kommen wir jetzt zu etwas ganz anderem.« Steiner öffnete eine Mappe und suchte zwischen den Papieren herum. Ich riskierte einen Blick darauf, und das Erste, was mir auffiel, war ein Foto von Manu.

»Das ist Manuela!«, rief ich überrascht und wies auf das Bild.

»Richtig. Ich habe die alten Unterlagen nochmals studiert, und auch damals betonten Sie, dass es ein Unfall war.«

»Genau. Es steht alles hier drinnen.« Ich deutete auf die Unterlagen, die am Tisch lagen. Mit einem Mal fühlte ich mich unwohl und rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Was hatte das Verschwinden meiner Freundin mit Tim zu tun? Aber die Ähnlichkeit der Vorfälle war unangenehm, das stimmte.

»Ich glaube, dass Sie vielleicht eifersüchtig auf Manuela Köstlinger waren. Sie war hübsch und begehrt. Sie standen immer in ihrem Schatten. Bei der Feier brach alles aus Ihnen heraus. Es kam zum Streit, und Sie haben Manuela in die Tiefe gestoßen.« Steiner lehnte sich zurück und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust.

»Das stimmt nicht. Ich habe einen Schrei gehört, wollte zum Spalt laufen, bin gestürzt und war ohnmächtig.«

»Ihre Ohnmacht, Frau Laudon, kann auch gespielt gewesen sein«, sagte Mayer. Sein Handy klingelte. Er stand auf und verließ den Raum.

»Das ist kompletter Irrsinn!« Ich schüttelte den Kopf, versuchte, klar zu denken. In welchen Teufelskreis war ich geraten? Glaubte man allen Ernstes, ich hätte zwei Morde begangen? »Ich bin in beiden Fällen unschuldig!«

»Reden wir morgen im Beisein des Staatsanwalts weiter. Sie bleiben über Nacht in Polizeigewahrsam.« Steiner packte ihre Unterlagen zusammen und verließ den Raum. Wie paralysiert blieb ich alleine zurück.

Aus dem vorderen Raum hörte ich Stimmengemurmel, dann wurde die Tür aufgerissen. Grafinger trat schnaufend ein und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Pack deine Sachen zusammen, Felicitas. Du kannst gehen.«

»Was? Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.«

»Gerade kam eine eidesstattliche Erklärung von Johannes, der deine Unfallversion bezeugt.« Grafinger drehte sich zu Steiner, die mit eisiger Miene hinter ihm stand. »Das stimmt doch so?«

»Es besteht kein hinreichender Tatverdacht mehr«, meinte die Beamtin schmallippig.

»Und das Verschwinden von Manu vor zwanzig Jahren? Da vermutet man ja auch, dass ich was damit zu tun habe.« Verunsichert blickte ich zu Grafinger.

»Mach dir keine Sorgen. Wir glauben jetzt zu wissen, was damals passiert ist.«