KAPITEL SIEBEN­UND­FÜNFZIG

Ragnis - zwanzig Jahre früher

I m Mondlicht wirkte der Wald wie verzaubert. Das silbrige Licht drang durch die Äste und schickte Lichtstreifen über den Boden. An diesen hellen Wegweisern orientierte sie sich, um den richtigen Weg zu finden. Ragnis liebte diese mondhellen Nächte im Wald, wenn Tiere lautlos durch die Büsche huschten und der Wind ihr einziger Begleiter war. Für ein achtjähriges Mädchen war sie erstaunlich furchtlos, was auch mit ihrer Erziehung zusammenhing. Ihre Mutter hatte sich nach langen Jahren auf Ibiza wieder in Dunkelsteig niedergelassen und verdiente jetzt ihren Lebensunterhalt als Wahrsagerin und Pflanzenexpertin. Von den Dunkelsteigern wurde sie salopp als Kräuterhexe bezeichnet. Schon früh hatte sie ihre Tochter mit in den Wald genommen, um Kräuter und Heilpflanzen zu suchen. Daraus mixte sie die unterschiedlichsten Salben und Tinkturen, die sie auf den Wochenmärkten der Umgebung verkaufte.

Seit Ragnis die Volksschule von Dunkelsteig besuchte, konnte sie nicht mehr so häufig durch die Wälder streifen und mit den Bergziegen um die Wette auf die Felsen steigen. Das machte sie traurig, und sie verlegte ihr Interesse stattdessen auf Felicitas, die Tochter des Dorflehrers, die sie insgeheim für ihr interessantes Aussehen und ihre schöne Sprache bewunderte. Manchmal schlich sie zu deren Haus, kletterte die Dachrinne hoch und spähte durch das Fenster.

Felicitas hatte oft Besuch von Manu, ihrer besten Freundin, die Ragnis an eine Fee erinnerte. Gebannt lauschte sie dann den Geschichten, die sich die Freundinnen erzählten. In der Nacht träumte sie davon, eine Schwester wie Felicitas zu haben.

Als sie mitbekam, dass diese mit ihren Freunden das bestandene Abitur beim Teufelsspalt feiern wollte, schlich sie der Clique hinterher. Ragnis huschte durch den Wald und stellte sich vor, sie wäre die beste Freundin von Felicitas. Gemeinsam würden sie Pläne für die Zukunft schmieden und alle Schulsachen verbrennen.

Weit vor sich hörte sie Felicitas’ glockenhelles Lachen und pirschte sich vorsichtig näher, um in ihrer Nähe zu sein. Plötzlich blieb Felicitas stehen und drehte sich um.

»Ich habe das Gefühl, als würde uns jemand verfolgen.«

Ragnis verschmolz mit dem Boden und hielt den Atem an.

»Ich kann niemand sehen«, hörte sie Manuelas Stimme.

»Du hast recht. Wahrscheinlich täusche ich mich.« Felicitas und die anderen marschierten weiter, erreichten den Waldrand und stiegen zum Teufelsspalt hoch. Dort ließen sie sich auf dem felsigen Boden nieder. Die zwei Burschen sammelten Holz, um ein Lagerfeuer zu machen. Als sie es entzündeten, war der Schein der Flammen so stark, dass Ragnis in einem weiten Bogen um das Lager schleichen musste, um nicht entdeckt zu werden. Sie versteckte sich hinter einem großen Stein und beobachtete Felicitas, Manuela und die beiden Jungs, die eine Menge Alkohol tranken und ausgelassen herumalberten.

Der Lärm, den die jungen Leute verursachten, scheuchte auch die Bergziegen aus ihrer nächtlichen Ruhe, und hinter Ragnis tauchten plötzlich zwei von ihnen auf. Neugierig sprangen die Tiere mit klappernden Klauen von Stein zu Stein. Das Geräusch vervielfältigte sich in der Dunkelheit und drang bis zum Lagerfeuer. Felicitas hob lauschend den Kopf und stieß einen der Jungs an: »Addi, da ist jemand.«

Zum Glück waren die Bergziegen schon ein Stück von Ragnis’ Versteck entfernt, so blieb sie unentdeckt, konnte weiter beobachten.

Die Zeit verstrich, und Ragnis wurde müde. Sie rieb sich die Augen und beobachtete das Geschehen weiter. Die Jungs waren verschwunden, nur noch Felicitas und Manuela saßen am Lagerfeuer, rauchten und tranken.

Plötzlich hörte Ragnis ein Geräusch ganz in ihrer Nähe. Und es war keine Bergziege, sondern ein Mensch. Steine kollerten den Hang hinunter. Ragnis duckte sich hinter dem Felsen. Eine Gestalt tauchte aus dem Dunkel auf, blieb aber weiterhin im Schatten und rief leise »Manu! Manu!«