KAPITEL ACHT­UND­FÜNFZIG

D as Wirtshaus war bereits geschlossen und die Lichter in der Gaststube gelöscht. Nur in der kleinen Stube brannte eine einsame Lampe und leuchtete direkt auf den langen Tisch, der mit Plänen und Papieren überhäuft war. Das Modell eines Wellnesshotels stand maßstabsgetreu nachgebaut in einer schmalen Vitrine. An der Wand hingen Computerausdrucke mit dem neuen Logo des Orts Sonnensteig . Der matte Schein der Lampe erfasste eine Gestalt, die mit dem Rücken zum Eingang vor dem Modell stand. In der Hand hielt diese Person ein Blatt Papier, von dem sie einen Text memorierte.

Minutenlang betrachtete ich die Silhouette durch die geöffnete Tür. Meine Hände waren schweißnass, und mein Herz pochte wie verrückt. Grafinger hatte mir kurz berichtet, was Ragnis zu Protokoll gegeben hatte. Angeblich hatte sie gesehen, wer Manu in den Spalt stieß. Während die Polizei mit der Staatsanwaltschaft wegen dem Haftbefehl telefonierte, machte ich mich auf den Weg. Als Journalistin wollte ich mit der Person selbst noch einmal sprechen, ehe sie festgenommen wurde. Ich musste mir eine eigene Meinung bilden, denn bisher gab es nur Ragnis’ Aussage.

Noch einmal atmete ich tief durch, dann klopfte ich an die offene Tür und trat ein.

»Was machst du denn hier, Felicitas? Wieso bist du nicht in Gewahrsam?« Dora drehte sich zu mir. Ihr Gesicht lag teilweise im Schatten, ich konnte ihr Mienenspiel nicht erkennen.

»Wie du siehst, bin ich auf freiem Fuß.«

»Bist du geflohen?« Dora wich langsam zum Tisch zurück und tastete mit der Hand über die Papiere, so als würde sie etwas suchen.

»Warum hast du Manu das angetan?« Ich ignorierte ihre Frage, wollte aus ihrem Mund hören, was sie verbrochen hatte.

»Ich? Was soll ich denn Schlimmes gemacht haben? Bist du völlig verrückt geworden? Ich rufe jetzt die Polizei.«

»Die kommt auch so.«

»Was?«

»Du hast richtig gehört. Es gibt bereits einen Haftbefehl gegen dich. Aber ich will jetzt wissen, weshalb du Manu vor zwanzig Jahren in den Teufelsspalt gestürzt hast.«

»Ich habe sie nicht hinuntergestoßen.« Dora trat aus dem Schatten, und ihre Augen irrten nervös umher.

»Es gibt aber eine Zeugin, die dich dabei beobachtet hat«, antwortete ich ganz ruhig.

»Eine Zeugin? Wer soll das sein?« Dora wirkte verunsichert und blickte mich abwartend an.

»Du weißt, wen ich damit meine.«

»Es kann eigentlich nur Ragnis sein.« Dora griff sich an den Kopf. »Dieses kleine Junkie-Mädchen hat dir also erzählt, ich wäre schuld am Tod von Manu? Glaub ihr kein Wort, sie wurde von ihrer Mutter ja schon als Kind mit Drogen gefüttert. Hast du ihre Cannabisplantage gesehen? Das soll alles ohne THC und legal sein? Dass ich nicht lache!« Dora verstummte und biss sich auf die Lippen. »Ragnis rächt sich an mir, weil ich sie wegen der Cannabisproduktion angezeigt habe.«

»Es ist also ein Racheakt und sie lügt?« Skeptisch runzelte ich die Stirn. »Was ist mit der abgebrannten Hütte? Hast du sie angezündet, um Ragnis zum Schweigen zu bringen?«

»Nein, wie kommst du darauf?« Dora sah mich verwirrt an.

»Ragnis hat dich in der fraglichen Nacht beobachtet. Und sie hat genau gesehen, was du dort oben getan hast«, ließ ich nicht locker. »Deshalb hast du auch das Feuer gelegt.«

»Das ist eine dreiste Lüge!« Die Adern an Doras Schläfen pulsierten. »Außerdem steht da Aussage gegen Aussage. Und wer glaubt schon einem Hippiemädchen? Ich war in dieser Nacht nicht beim Teufelsspalt.«

Mit diesem Argument hatte Dora recht. Ich schwieg und überlegte meinen nächsten Schritt. Es war mein einziger Trumpf, den ich jetzt ausspielte. Dora hatte nach Vaters Begräbnis meine Armbänder gesehen und Manus Freundschaftsarmband erwähnt. Davon konnte sie aber nichts wissen. Außer, sie wäre in jener Nacht beim Teufelsspalt gewesen.

»Woher wusstest du, wie Manus Freundschaftsarmband aussieht?«, fragte ich deshalb.

»Welches Armband?«

»Du hast beim Leichenschmaus meines Vaters meine geflochtenen Armbänder bewundert und gesagt, dass Manus nicht so schön gewesen wäre.«

»Das war es auch nicht«, erwiderte Dora aufgebracht. »Es war ja nur aus zwei Schnüren geflochten und hatte einen hässlichen blauen Faden dazwischen, der in ihren Namen mündete.«

»Stimmt, das Band hat einen blauen Faden und Manus Namen. Sie hat das Armband erst am Abend ihres Verschwindens oben am Teufelsspalt von mir geschenkt bekommen«, erwiderte ich und achtete genau auf Doras Reaktion. »Dafür gibt es Zeugen: Adrian und Johannes.«

»Dann habe ich wohl etwas verwechselt.« Doras Kieferknochen mahlten, ihre Augen irrten unruhig umher. Ihre Selbstsicherheit war verflogen. Auf mich wirkte sie wie ein angeschossenes Raubtier, das verzweifelt nach einem Ausweg suchte.

»Nein, hast du nicht. Es gab nur dieses eine Band, was so aussah«, erwiderte ich. »Das kann nur jemand wissen, der in dieser Nacht dabei war und es ihr abgerissen hat.«

»Okay«, flüsterte Dora. Ihr Widerstand brach in sich zusammen, und sie musste sich an den Tisch setzen. »Es stimmt. Ich war in der Nacht beim Teufelsspalt. Ich habe dort auf sie gewartet. Ich wollte in ihrer Nähe sein. Manu war der erste Mensch, der mich schön fand. Ich war völlig verzaubert. Das schönste Mädchen des Ortes liebte die mollige Dora. Kannst du verstehen, was das für mich bedeutete? Als Adrian mich das erste Mal in ihr Haus mitnahm, da dachte ich, dass es jetzt anders wird. An jenem Nachmittag habe ich mich unsterblich in sie verliebt.« Dora presste ihre Hand vor den Mund und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.

›Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Auch ich war immer von ihrer Präsenz verzaubert gewesen.‹ Ich spürte, dass es nur noch ein kurzer Augenblick war, ehe sich bei Dora die Schleusen öffneten und sie alles beichten würde. Und genauso war es dann auch.

»Aber oben bei der Teufelsspalte war Manu so anders. Wie ausgewechselt. Sie sagte, dass alles nur ein Scherz gewesen wäre. Sie hätte mich nie geliebt, wie ich nur auf so eine absurde Idee kommen würde. Nie hätte sie daran gedacht, mich mitzunehmen. Ich wäre viel zu unbegabt, könnte mit meiner Figur nur den Pausenclown geben. Manu war in jener Nacht so herzlos und wollte mich damit verletzen«, rechtfertigte sich Dora mit leidender Miene.

»Und um sie zu bestrafen, hast du sie in den Teufelsspalt gestoßen.«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Ist sie von selbst in den Spalt gefallen?« Ungläubig zog ich die Augenbrauen hoch.

»Ich weiß es nicht. Sie ist verschwunden, das musst du mir glauben. Ich stand oben bei den Felsen, und Manuela war plötzlich weg. Ich hörte kein Geräusch, keinen Schrei. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.« Dora strich mit den Händen über ihr bleiches Gesicht. »Sie war wie vom Erdboden verschwunden.«

Abwartend blickte ich zu ihr. Sie hockte zusammengekrümmt auf ihrem Stuhl und war tief in Gedanken versunken. »Manu war einfach nicht mehr da. So als hätte sie nie existiert«, flüsterte sie tonlos.

Plötzlich wurde an die Wirtshaustür geklopft, und Stimmen waren undeutlich zu vernehmen.

»Das wird die Polizei sein«, sagte ich, als ich den Lärm hörte.

Dora erwachte aus ihrer Trance und stand langsam auf. Konzentriert öffnete sie ihre Handtasche und kramte darin herum. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich überhaupt nicht auf sie achtete. Plötzlich zog Dora eine Pistole hervor und zielte auf mich.

»Bist du verrückt?« Sofort hob ich die Hände. »Willst du mich jetzt auch umbringen, so wie Manu?«

»Ich bin unschuldig.«

»Das kannst du alles der Polizei erzählen.«

»Dafür ist es zu spät«, zischte Dora. »Mein Ruf ist so oder so ruiniert. Warum musstest du nach Dunkelsteig zurückkehren, Felicitas? Aber ich lass mir von dir nicht alles kaputtmachen!«

»Das hast du schon selbst gemacht«, erwiderte ich. »Gib mir die Pistole. Es hat keinen Sinn mehr.«

»Bleib, wo du bist!« Dora packte die Waffe mit beiden Händen und zielte direkt auf mich.

»Dora, mach keinen Fehler! Du hast Manu unabsichtlich hinabgestürzt. Was nützt es dir, wenn du mich jetzt erschießt?« Langsam begriff ich, warum sie diese Tat begangen hatte. Liebe und Hass lagen oft eng beisammen, und Dora hatte die Seiten gewechselt, ohne es richtig zu erkennen.

»Wie kommst du darauf, dass ich dich erschießen will?« Dora drehte sich blitzschnell zur Seite und drückte ab. Der Schuss knallte ohrenbetäubend in der engen Stube. Das Glas der Vitrine splitterte, und das Modell des Wellnesshotels explodierte in Hunderte Teile, die wie Konfetti durch die Luft flogen. Dann hob sie den Arm und hielt sich die Waffe an die Schläfe.

»Dora, nein!«, rief ich und stürzte auf sie zu.

»Manu ist einfach verschwunden!« Sie sah mich mit traurigen Augen an und drückte ab.