DIE ZEIT Nr. 27/2016
Emmanuelle Charpentier hat Biologen ein neues Werkzeug beschert: Mit »Crispr« lassen sich Gene verblüffend präzise und sicher ändern. Ärzte wollen damit Aids, Krebs und Erbkrankheiten heilen. Nimmt der Mensch die Evolution bald selbst in die Hand?
Gäbe es einen Nobelpreis für Bakterien, der Streptococcus pyogenes wäre ein Kandidat mit echten Aussichten. Betrachtet man ihn durch ein Mikroskop, wirkt er eher hässlich. Beim Menschen verursacht das Bakterium eine eitrige Mandelentzündung oder sogar Scharlach. Doch Streptococcus pyogenes verfügt über ein einzigartiges Werkzeug zur Selbstverteidigung. Bis vor Kurzem hat das so gut wie niemanden interessiert. Es ist schließlich nur eine Mikrobe. Jetzt kennt man das Instrument besser, und plötzlich interessieren sich sehr viele Menschen auf der ganzen Welt für das winzige Geschöpf.
Sein Werkzeug ist eine Art intelligentes biologisches Skalpell für Präzisionsoperationen am Erbgut. Damit setzt sich das Bakterium gegen die Angriffe von Viren zur Wehr. Mediziner hoffen nun, mithilfe dieser Methode bald HIV‐Infektionen heilen zu können, Leukämie und Erbkrankheiten. Genetiker schaffen damit bereits Pflanzen, die bislang niemand kannte. Die Technik weckt große Hoffnungen: Fehler im Genom aller denkbaren Lebewesen können womöglich künftig wegkorrigiert, ausgelöscht werden – wie vertippte Buchstaben in einem Textdokument.
Die Frau, die den Anlass für solche Hoffnungen gab, sitzt in ihrem Büro in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs und wundert sich. »Es ist alles so surreal«, sagt Emmanuelle Charpentier. Sie hat dem Scharlachbakterium sein Geheimnis entrissen. Dafür hat sie allein in diesem Jahr acht Forschungpreise bekommen. Im Herbst wird ihr der nächste verliehen, diesmal die höchste Auszeichnung Kanadas für Medizinforscher. Es ist der achtzehnte Preis seit 2015. Kein anderer Wissenschaftler hat wohl in so kurzer Zeit so viele Ehrungen abgeräumt, erst recht keine Wissenschaftlerin. In China wollten die Menschen Selfies mit ihr machen, in ihrer Heimatstadt Paris blickte ihr Gesicht von riesigen Plakaten am Flughafen. Das Magazin Time hat sie auf die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten gesetzt, Rubrik: Pionierin. Vor ein paar Jahren hatte sie noch nicht einmal einen festen Job – jetzt ist sie die Chefin des Max‐Planck‐Instituts für Infektionsbiologie.
Wer eine Mail an die offizielle Adresse von Frau Charpentier schickt, der bekommt eine automatische Antwort zurück. Wegen zahlloser E‐Mails könne sie leider nicht antworten. Auch der Nouvel Observateur hat versucht, sie zu erreichen, sie hatte keine Zeit. Irgendwann teilte sie den Journalisten aus der französischen Heimat mit, nun könnten sie ihre Fragen ja mailen – aber bitte auf Englisch. Der ZEIT hat Charpentier eine halbe Stunde Lebenszeit eingeräumt.
Angenehm enttäuscht wird, wer in ihrem Riesenbüro ein Riesen‐Ego erwartet. Emmanuelle Charpentier ist klein, ihr Händedruck weich. Sie trägt Sakko, Jeans und Seidenschal. 47 Jahre ist sie alt, sieht aber deutlich jünger aus. Der schwarze Wuschelkopf umrahmt ein schmales, jugendliches Gesicht. Als noch niemand sie kannte, hielten die Forscher‐Alphatiere sie auf Konferenzen für eine Doktorandin: »Who’s that girl?«, fragten sie hinter ihrem Rücken, wer ist dieses Mädchen? Heute sitzen die Alphatiere von damals im Publikum, wenn Charpentier wieder einen Preis entgegennimmt. Sie spricht konzentriert, aber unverstellt. Wie eine, die nicht schon alle Fragen hundertmal beantwortet hat. Sie sagt: »Ich bin nicht so der Cliquentyp.«
Auf ihrem Schreibtisch steht eine Tageslichtlampe, ein Mitbringsel von ihrer letzten Forschungsstation in Schweden. An der Tafel im Büro ist ihre Entdeckung skizziert wie ein Graffito: eine Strickleiter, umhüllt von einem Kreis. Die Strickleiter stellt die DNA dar, der Kreis das Werkzeug, das Charpentier dem Scharlachbakterium abgerungen hat. Mit diesem Werkzeug lassen sich die Bausteine im Erbgut versetzen, ganz einfach und präzise – bis vor Kurzem unvorstellbar. Charpentier nennt ihre Entdeckung einfach »the story«.
Man kann diese Story auf vielerlei Weise erzählen: als Hoffnungsgeschichte für Millionen von Patienten, als Triumph der globalen Grundlagenforschung, als Lehrstück über das Funktionieren der modernen Wissenschaft. Oder als Märchen vom sturen Mädchen, dessen Neugier und Hartnäckigkeit dazu führten, dass es ein »wissenschaftlicher Superstar« (New York Times) wurde.
Die Entdeckung
Ihr Aufstieg begann mit einem Fachartikel. Sein Titel: A Programmable Dual‐RNA‐Guided DNA Endonuclease in Adaptive Bacterial Immunity. Charpentier hatte ihn zusammen mit der amerikanischen Forscherin Jennifer Doudna im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht. Das war im August 2012. Der Aufsatz veränderte nicht nur das Leben der beiden Frauen, sondern die Arbeit Tausender Genetiker, Biologen und Mediziner rund um die Welt. Auf fünf Seiten beschreiben die Biologinnen das Abwehrsystem des Scharlachbakteriums Streptococcus pyogenes: Es nutzt ein molekülkleines Instrument, das aus einem Sucher und einer Art Schere besteht. Die englische Abkürzung für dieses Abwehrsystem lautet Crispr/Cas9, meist kurz: Crispr.
Immunzellen frisieren mit Crispr
Der Laie versteht kaum einen Satz dieses Artikels. Ohne fundierte Kenntnisse der Mikrobiologie fällt es selbst Biologen schwer, der Argumentation zu folgen. Doch die Botschaft der Autorinnen in der Zusammenfassung elektrisierte die Biowissenschaften: Die Genschere des Streptokokkenbakteriums lässt sich nachbauen und sein Sucher auf beliebige Ziele einstellen.
Selten hat etwas die Biomedizin so umgekrempelt wie diese Genchirurgie. Mehr als tausend Fachartikel mit dem Wort Crispr (gesprochen Krisper) im Titel sind seither erschienen. Nicht lange, und das seltsame Akronym dürfte uns allen so geläufig sein wie die Abkürzungen DNA oder Aids. Crispr ist billig, zuverlässig und so simpel anzuwenden, dass schon Studenten damit arbeiten können. »Plötzlich war es im Prinzip möglich, das Genom eines jeden Organismus zielsicher zu verändern«, sagt Charpentier nüchtern.
Die Erfindung der Genschere ist der dritte große Schritt, das Geheimnis der belebten Natur zu lüften. Zuerst musste die Wissenschaft erkennen, dass das Alphabet des Lebens aus den vier Molekülen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin besteht, abgekürzt mit den Anfangsbuchstaben ACGT. Dann musste sie lernen, die Buchstabenfolge in jedem Organismus zu entziffern. Und jetzt eröffnet sich die Möglichkeit, sogar Genfehler zu korrigieren, den genetischen Code quasi zu redigieren oder besser: die Erzählung der Natur zu verschönern. Und so frisch sie selbst im Labor noch sein mag, längst ist diese Technik im Alltag und für Laien relevant. Auch der deutsche Ethikrat hat an diesem Mittwoch zum ersten Mal darüber beraten.
Bei Tieren und Pflanzen ist die Genchirurgie – englisch: genome editing – schon weit fortgeschritten. Agrokonzerne experimentieren mit Weizen‑ und Maissorten, die Schädlingen widerstehen. In den USA wurde gerade ein mit Crispr modifizierter Champignon für den Supermarkt zugelassen – er wird dank Genveränderung nicht so schnell braun. Der Clou: Anders als bei früheren Genmanipulationen ist diese nicht mehr nachweisbar.
Chinesische Forscher haben mit Crispr Minischweine gezüchtet, die sie als Haustiere verkaufen wollen. Ein Genetiker der Harvard University will mammutähnliche Elefanten erschaffen, indem er ins Genom der Dickhäuter Gene der ausgestorbenen Spezies einbaut. Doch das sind nur die kuriosen Nebenschauplätze. Wichtig sind all die Krankheiten, die Mediziner mit der Genchirurgie heilen wollen.
Zunächst jene Erbkrankheiten, die von einem einzigen fehlerhaften Gen verursacht werden: etwa die Sichelzellenanämie, die zu schweren Nierenleiden führt; die Beta‐Thalassämie, die mit Schwäche, Blutarmut und Entwicklungsverzögerungen einhergeht; die Huntington‐Krankheit, die zu Muskelabbau, Demenz und frühzeitigem Tod führt; die zur Erblindung führende Lebersche Kongenitale Amaurose und manche Arten des Muskelschwunds. Jede einzelne ist für sich selten, insgesamt gibt es nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation aber mehr als 10.000 dieser »monogenen Erkrankungen«, Millionen von Menschen sind von ihnen betroffen. Doch auch die große Geißel Krebs wollen die Forscher angreifen, indem sie Immunzellen mit Crispr frisieren.
Gavriels Hoffnung
Man fahre nach London und klingle an der Tür eines Backsteinhauses, dann sieht man der gewaltigen Hoffnung auf Crispr ins Gesicht. Der 14‐jährige Gavriel Rosenfeld ist gerade aus der Schule gekommen und albert mit seinen drei jüngeren Geschwistern herum. Vor dem Abendessen muss er noch Dehnübungen machen, dafür hilft ihm seine Mutter Kerry aus dem Rollstuhl in die Beinschienen.
Gavriel leidet an einer seltenen Krankheit: Muskeldystrophie vom Typ Duchenne. Sie wird von einem Genfehler im X‐Chromosom verursacht und trifft fast nur Jungen, einen von 3500. Sie ist eine jener unzähligen seltenen Krankheiten, die an einem einzigen fehlerhaften Gen hängen, aber ein gesamtes Leben prägen können. Aufgrund des spontan irgendwann nach der Befruchtung aufgetretenen Gendefekts produzieren Gavriels Muskelfasern kein Dystrophin, also kein Eiweiß, das die Zellen stabilisiert. Das bedeutet: Seine Muskeln schwinden. Normalerweise werden Duchenne‐Patienten nicht älter als Mitte zwanzig. Doch Gavriel Rosenfelds Schicksal könnte einen anderen Weg nehmen. Er wäre womöglich Patient null in der ersten Behandlung eines Gendefekts mithilfe von Crispr.
»Ja, mein Junge ist ein Versuchskaninchen«
Einige von Gavriels Körperzellen sind mit dem Flugzeug nach Kanada transportiert worden. Dort werden mit ihnen Crispr‐Experimente durchgeführt. Gavriel findet das ein bisschen »creepy«, gruselig, aber er vertraut dem Forscher in Kanada. Der ist mittlerweile ein Freund der Familie, Gavriel nennt ihn Ronni. Mit seinen Eltern und Ronni hat er eine WhatsApp‐Gruppe.
Ronni heißt eigentlich Ronald Cohn. Er kommt aus Düsseldorf, ist mit 28 ausgewandert nach Nordamerika. Heute ist er Kinderarzt und Genetiker am SickKids Hospital in Toronto, einem der besten Kinderkrankenhäuser der Welt. Er hat ein kleines Büro im neunten Stock des Forschungsturms der Klinik, im Regal liegt ein Wimpel von Fortuna Düsseldorf. Von hier aus hat er Gavriels Mutter vor drei Jahren angerufen: Es gebe eine neue Methode mit dem Namen Crispr. Man könnte sie an Gavriels Zellen ausprobieren. Ronald Cohn sagt: »Crispr ist wirklich das Spannendste, was ich in meiner Karriere erlebt habe: Wir können jetzt anfangen darüber nachzudenken, ob man eine genetische Mutation reparieren kann.«
Gavriels Gendefekt scheint sich für die Crispr‐Behandlung besonders zu eignen, denn ein kleiner Abschnitt seines Dystrophin‐Gens ist doppelt vorhanden. Schneidet man diese Verdopplung mithilfe von Crispr heraus, sollte das Gen wieder funktionieren. Das ist die Theorie. Cohns Forscherteam hat es mit Gavriels Gewebeprobe in der Petrischale ausprobiert. Nach dieser Genchirurgie stieg die Dystrophin‐Produktion von null auf vier Prozent des Normalwertes. Für eine erfolgreiche Therapie wäre das noch zu wenig. Für die Wissenschaftler ist es ein Anfang.
Bevor eine Crispr‐Medizin am Menschen erprobt wird, sind zahllose Fragen zu klären. In Gavriels Fall: Wie lassen sich die Crispr‐Werkzeuge in ausreichend viele Muskelzellen transportieren, ohne dass dabei etwas schiefgeht? Für den Transport sind Genfähren nötig, also veränderte Viren, welche die Crispr‐Moleküle wie kleine U‐Boote durch die Blutbahn ans Ziel bringen. Sind diese Genfähren sicher genug? Im nächsten Schritt erschaffen die kanadischen Forscher jetzt eine Maus mit Gavriels Gendefekt.
Die Mutter des kranken Knaben, Kerry Rosenfeld, weiß um die Risiken der Gentherapie, sie kennt aber auch die aktuellen Fortschritte – und will nichts unversucht lassen. Mit Spenden ihrer jüdischen Gemeinde hat die Familie eine Stiftung gegründet, den Duchenne Research Fund, um die Erforschung der Krankheit voranzubringen. »Ja, mein Junge ist ein Versuchskaninchen«, sagt Kerry Rosenfeld, als Gavriel aus dem Zimmer ist. »Aber wenn du nichts tust, heißt das, dass diese Krankheit dein Kind zerstören wird.«
Triumph der Neugier
Der wissenschaftliche Fortschritt wird gern als Heldengeschichte erzählt. Man stellt sich dann vor, wie Forscher gemeinsam eine lange, gerade Straße bauen, Kilometer für Kilometer. Ab und zu kommt ein Albert Einstein oder eine Emmanuelle Charpentier daher und baut eine Überholspur. Dafür gibt es dann wahrscheinlich den Nobelpreis.
In Wahrheit gleicht die Wissenschaft eher dem Bau einer wuchernden Megastadt, an deren Peripherie ständig neue Kreisverkehre entstehen. Permanent muss man Schlaglöchern ausweichen und Umwege fahren, und nicht selten steht man plötzlich in einer Sackgasse, die im Stadtplan nicht eingezeichnet ist. Weil es keinen Stadtplan gibt. Crispr ist in dieser Stadt ein neuer Bezirk. Und man wertet Frau Charpentiers Leistungen nicht ab, wenn man auch jene ersten Baustellen erwähnt, an denen sie nicht mitgearbeitet hat.
Die Entdeckung von Crispr beginnt in den neunziger Jahren an der Costa Blanca. Hier weckt an der Universität Alicante ein seltsames Geschöpf das Interesse des Doktoranden Francisco Mojica: Haloferax mediterranei, eine Mittelmeermikrobe, die in den Salzwiesen an der Küste lebt. Wie schafft es dieser Mikroorganismus, den widrigen Bedingungen der Salzwiesen zu trotzen? Als Mojica die Gene des Einzellers studiert, entdeckt er etwas Seltsames: Die DNA enthält Sequenzen, die nicht zum genetischen Code des Winzlings passen. Die kommenden Jahre wird Mojica damit verbringen, diese merkwürdigen Zeichenketten zu studieren. Sie lesen sich von links nach rechts wie von rechts nach links, also wie GTACATG oder ATTA. Palindrom heißen solche Buchstabenfolgen. Sie sind in der DNA nicht ungewöhnlich, aber das Genom des Salzwiesenbakteriums hat auffällig viele und regelmäßig angeordnete Palindrome. Das »P« für Palindrom wird Jahre später zum fünften Buchstaben in der Abkürzung »Crispr«.
Der Eindringling wird zerstückelt
Während Francisco Mojica Mühe hat, seine Arbeit zu publizieren und Forschungsgelder aufzutreiben – »nicht relevant genug«, sagen die Gutachter –, schwappt ein bisschen Weltpolitik in die Genforschung. Es ist die Zeit des ersten Irakkriegs, die Angst vor Biowaffen geht um. Südlich von Paris experimentieren Forscher im Auftrag des französischen Verteidigungsministeriums im Hochsicherheitslabor mit einem Pesterreger.
Im Erbgut des Bakteriums finden sie ähnliche fremde DNA‐Abschnitte wie Francisco Mojica bei den Salzwiesenmikroben. Und sie stellen fest: Diese DNA‐Sequenzen stammen von einem Virus, das den Pestbakterien das Leben schwer macht. Könnte es sein, dass das Bakterium Genabschnitte seiner Feinde ins eigene Genom eingebaut hat, als »Erinnerung an frühere genetische Attacken«, wie die Forscher spekulieren? Interessanter Gedanke, aber recht abseitig. Auch die französischen Forscher haben Schwierigkeiten, in Fachjournalen veröffentlicht zu werden.
Das Geheimnis des bakteriellen Immunsystems lüften schließlich Wissenschaftler in einem französischen Lebensmittellabor. Die Hersteller von Joghurt‑ und Käsekulturen experimentieren mit Milchsäurebakterien, wie sie in Mozzarella vorkommen. Sie finden im Erbgut besonders widerstandsfähiger Bakterien nicht nur erneut DNA‐Fragmente feindlicher Viren. Sie fördern auch den damit verbundenen Abwehrmechanismus zutage: Dringt ein Virus ins Bakterium ein, wird die DNA des Feindes mit den gespeicherten Informationen abgeglichen und der Eindringling kurzerhand zerstückelt.
Um das Jahr 2007 hat die Mikrobiologie damit entschlüsselt, wofür Crispr den Bakterien dient: als eine Art Täterdatei mit angeschlossenem Zerstörungsmechanismus. Es brauchte mehr als zehn Jahre Zeit für diese Erkenntnis, den Ideenreichtum Dutzender Forscher und jede Menge öffentliches Geld. »Zwischenzeitlich habe ich an mir selbst gezweifelt«, erinnert sich Francisco Mojica, der Forscher aus Alicante. »Wenn du auf einer Straße fährst, und alle kommen dir entgegen, dann fragst du dich irgendwann, ob du selbst vielleicht ein Geisterfahrer bist.« Mojica war es auch, der damals den Namen Crispr erfand: Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats. Hätte er auch nur geahnt, was noch kommen würde, er hätte sich etwas Einfacheres ausgedacht, sagt er heute.
»Das ist eine der großen Geschichten von Crispr«, sagt Jennifer Doudna, die Co‐Autorin des alles entscheidenden Artikels in Science. »Es ist ein Triumph der Grundlagenforschung, ein Ergebnis der Forschung, die keine verwertbaren Ziele kennt, ein Triumph der puren Neugier.«
Viele ihrer Auszeichnungen hat Emmanuelle Charpentier zusammen mit Jennifer Doudna erhalten. So auch den Paul‐Ehrlich‐Preis in der Frankfurter Paulskirche im März. Da konnte man die beiden Forscherinnen bei der Pressekonferenz beobachten. Hier die Amerikanerin, deren schnurgerade Karriere sie nicht daran gehindert hat, zwei Kinder zu bekommen: stets lächelnd und – obwohl des Deutschen unkundig – den deutschen Worten höflich beipflichtend. Dort die Europäerin, die ihre Karriere als »Kreuzweg« empfindet, halb schüchtern, halb trotzig ins Leere starrend, als gehöre sie nicht ganz hierher. Man kann die Szene als Symbol für die unterschiedlichen Wissenschaftskulturen deuten. Amerikaner erlauben sich Glanz, immer ein bisschen Hollywood. Europäer bleiben ernst.
Kampf um die besten Köpfe
Aus dem Kanon der Fächer – Medizin, Chemie, Physik – haben sich über Jahrzehnte Dutzende, nein Hunderte von Unterdisziplinen entwickelt. Allein in der Biomedizin gibt es heute geschätzt 9000 englischsprachige Fachzeitschriften. Hier veröffentlichen Forscher im Jahr rund 800.000 Artikel. Warum machen sie das? Weil es sie interessiert. Wem nützt das? Keiner weiß es genau. Doch dann kommt aus einer Nische, die kein Forschungsmanager je im Blick hatte, aus einer Subsubsubdisziplin, von der kein Politiker oder Journalist je gehört hat, eine Neuigkeit, die all diese Fragen beantwortet. Crispr ist so ein Phänomen. Ein Durchbruch, der nicht nur viele Disziplinen vereint, sondern ebenso erklärt, wofür die nutzlose Grundlagenforschung sehr nützlich ist.
Nie wieder um Geld betteln, endlich am Ziel
Emmanuelle Charpentier wird heute eingeladen und hofiert. Vor sechs Jahren, als sie im schwedischen Städtchen Umeå forschte, sagte sie sich noch: Wenn das hier nicht funktioniert, kann ich immer noch eine Crêperie aufmachen. Dann kam der Durchbruch und mit ihm der erste unbefristete Job am Helmholtz‐Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Da stand sie schon in ihrem fünften Lebensjahrzehnt. Bis dahin hatte sie sich von Stelle zu Stelle gehangelt, von Projekt zu Projekt. So wie unzählige andere weltweit.
Charpentier scheint zu haben, was gute Wissenschaft braucht: den Willen zur langen Strecke und eine immense Frustrationstoleranz. »Sie kann sehr stur sein«, sagt ihr ehemaliger Mitarbeiter Rodger Novak. »Sie kann ein Labor auf einer einsamen Insel eröffnen«, sagt ihr Doktorvater. »Ich bin ein bisschen masochistisch«, sagt sie selbst. Entweder arbeitet sie, oder sie schläft. Sie lebt allein. Mal ausspannen? Ja, in Umeå habe sie mal eine Stunde am Fenster gesessen und das Nordlicht betrachtet. Mittlerweile habe sie für sich selbst keine Zeit mehr. »Ich kann nur noch das Allernötigste organisieren. Vielleicht schalte ich ein bisschen beim Einkaufen ab.«
Fortschritte in den Naturwissenschaften gelingen heute nur im Team. Die berühmte Science‐Veröffentlichung von 2012 hat sechs Autoren. Und dennoch braucht es den kreativen Solisten, den eigensinnigen Kopf, den strategischen Denker. Und wie im Fußball werden solche Persönlichkeiten weltweit umworben, von Talentscouts und Recruitingexperten, mit Ablöseangeboten und Bleibeverhandlungen.
Die deutsche Max‐Planck‐Gesellschaft (MPG) hatte gleich nach Erscheinen des Science‐Artikels ein Auge auf Emmanuelle Charpentier geworfen. »So eine gehört zu uns«, sagte sich Rudolf Amann, der die Biologisch‐Medizinische Sektion der MPG leitet. Im internationalen Konkurrenzkampf der Spitzenwissenschaft hat Deutschland in den vergangenen zehn Jahren viel Boden gutgemacht. An der Wissenschaft werde gespart, liest man immer wieder – das Gegenteil ist der Fall. Kein anderes Land (außer Südkorea) verzeichnet seit Jahren solche Steigerungsraten bei den Forschungsausgaben wie Deutschland.
Die Max‐Planck‐Institute haben davon besonders profitiert. Mehr als die Hälfte aller neuen Institutsdirektoren rekrutiert die MPG mittlerweile im Ausland, »darunter auch Wissenschaftler, die wir vor zehn Jahren noch nicht bekommen hätten«, sagt Amann.
Im Februar 2015 war es so weit. Ein Nobelpreisträger – zurzeit zählt die MPG sieben aktive in ihren Reihen – signalisierte Amann, er habe gehört, Charpentier könne sich etwas Neues vorstellen. Obwohl eigentlich keine Stelle frei war, machte die MPG der Französin ein Angebot. Sie könne nach Berlin kommen, das MPI für Infektionsbiologie würde sich freuen, ihr eine Etage freizuräumen. Völlige Forschungsfreiheit, nie wieder um Geld betteln, endlich am Ziel. Wenn Emmanuelle Charpentier aus dem Fenster ihres Büros blickt, sieht sie die roten Backsteingebäude der Charité, in denen einst Rudolf Virchow, Paul Ehrlich und Robert Koch praktizierten. »Ich mag Berlin«, sagt sie.
Ist eine HIV‐Infektion bald heilbar?
Vier Jahre hat Crispr gebraucht, um die Forschungslabore zu erobern, jetzt soll es die Medizin verändern. Zuerst erhoffen sich Forscher Fortschritte bei Erbkrankheiten des Auges und des Blutes: In das Auge lassen sich jene Moleküle, die für die Genchirurgie benötigt werden, relativ einfach injizieren. Blutzellen wiederum kann man dem Körper entnehmen, um sie genetisch aufzurüsten. Der Hauptfeind aber heißt Aids. Knapp 40 Millionen Menschen sind mit dem HI‐Virus infiziert. Aktuell helfen Medikamente, die Vermehrung der Viren zu unterdrücken und so den Ausbruch der Krankheit zu verzögern. Heilen lässt sich die Infektion aber nicht.
Dieser Traum scheint nun zum Greifen nah. »Mit einer einzigen Spritze wollen wir einen lebenslangen Therapieerfolg erzielen«, sagt Toni Cathomen, Leiter des Instituts für Zell‑ und Gentherapie an der Universität Freiburg. Seit rund zehn Jahren forscht der Schweizer an Genscheren, erst in San Diego, Berlin und Hannover und jetzt in Freiburg auch mit Crispr. »Das ist genial: so einfach, so elegant.«
Einfach ist es natürlich nicht. Das HI‐Virus nistet sich im Körper förmlich ein und integriert die eigene Erbgutinformation in menschliche Immunzellen. Als Teil des menschlichen Erbguts ist es so vor Angriffen des Immunsystems geschützt. Lässt sich das Tor, durch das die Schädlinge in die Immunzellen eindringen, schließen? Genau das will Cathomen mit der Genschere erreichen: Er will jenes Gen zerschneiden, das den Bauplan für die Moleküle enthält, an denen die HI‐Viren andocken. Er braucht dafür keine Genfähren, sondern kann den HIV‐Infizierten Stammzellen entnehmen, die Genscheren in diese Zellen einschleusen und dem Patienten die veränderten Musterzellen wieder zuführen.
Große Pharmafirmen sind im Rennen
An Mäusen wirkt Cathomens HIV‐Therapie schon. Hier konnten Cathomen und seine Kollegen die Andockstelle der HI‐Viren ausschalten, ohne dass die Stammzellen ihre sonstige Funktion verlieren. Nun muss er beweisen, dass, was im Nager funktioniert, auf den Menschen übertragbar ist. Aber der Schweizer ist optimistisch. In zwei, drei Jahren werde man die ersten klinischen Studien an HIV‐Positiven wagen.
Eingriff in die Evolution
Aussätzige heilen und Gelähmte aufstehen lassen – das gibt es in der Bibel. Heute wenden sich Patienten direkt an Forscher wie Emmanuelle Charpentier. Jede Woche erreichen sie hoffnungsvolle E‐Mails. »Das zeigt mir, dass Crispr‐Therapien für schwere Generkrankungen dringend benötigt werden«, sagt Charpentier. »Aber ich bin keine klinische Forscherin und leite die Mails an Experten weiter.«
Die Verantwortung für ihre Entdeckung jedoch kann sie nicht weiterleiten. Keine Preisverleihung ohne das Thema, kein Interview ohne die Frage: Wie tief darf die Genschere ins menschliche Erbgut einschneiden? Soll der Mensch seinen genetischen Code auch auf Dauer verändern? Droht der Homo crispr? Auch den Deutschen Ethikrat treibt das um. In China, Großbritannien und Schweden erproben Forscher Crispr schon an Embryonen, aus denen theoretisch Säuglinge reifen könnten. Erstmals scheinen auch gezielte Änderungen am Erbgut plausibel, die heutige Patienten an ihre Kinder und Kindeskinder weiterreichen würden – ein Eingriff in die sogenannte Keimbahn, das genetische Band zwischen den Generationen. Nimmt der Mensch seine Evolution jetzt selbst in die Hand?
Vom »Menschen nach Maß« ist wieder die Rede und von einer »Genokratie«, in der demnächst eine genetisch optimierte Elite über das naturbelassene Proletariat herrscht. Doch weder in Großbritannien noch im chinesischen Guangzhou will man bisher den »neuen Menschen«. Keine Frau soll die manipulierten Embryonen austragen. Sie dienen der Grundlagenforschung, um mehr über die Entstehung von Erbkrankheiten und das Wachstum von Embryonen zu erfahren. Die echten bioethischen Probleme sehen Experten vielmehr bei der Gentherapie am einzelnen Menschen: »Die größte Gefahr ist, dass man die Technik einsetzt, obwohl sie noch nicht reif ist«, sagt Sigrid Graumann, Mitglied im Ethikrat.
Zwar steuert der Crispr‐Sucher sein Ziel genauer an als alle Laborwerkzeuge der Mikrobiologen zuvor – völlig treffsicher ist er aber noch nicht. In seltenen Fällen zerschneidet die DNA‐Schere versehentlich auch Gene, die sie nicht verändern soll. Es funktioniert wie bei der Textverarbeitung am Computer: Einen seltenen Begriff auszutauschen (»Genschehre« durch »Genschere«) ist kein Problem. Zielt man dagegen auf häufige Buchstabenkombinationen (»Son« gegen »Sohn«), verändern sich plötzlich zahlreiche Wörter: Sohnnenschein, Sohnderurlaub, Sohnde. Der Text wird nicht verbessert, sondern zerstört.
Off‐target nennt sich das: danebengeschossen. Im schlimmsten Fall verursacht die vermeintlich rettende Therapie dann Krebs. Als die chinesischen Forscher aus Guangzhou ihre Crispr‐manipulierten Embryonen später untersuchten, fanden sie Genveränderungen vor, die nicht geplant waren. Im Labor nicht tragisch, im Versuch an Menschen katastrophal. Hier muss die Treffsicherheit bei fast 100 Prozent liegen. Lieber mit HIV leben, als durch Crispr sterben.
Wer verdient?
Der Erfolgsdruck wächst. Es droht ein Wettlauf um die erste gelungene Heilung. Jahrelang bewegte die Forscher die Lust am Entdecken, an der reinen Erkenntnis. Und dann, von einem Tag auf den anderen, begann der Crispr‐Kommerz. Eine Datenrecherche von ZEIT und ZEIT ONLINE zeigt: Seit 2010 wurden bis Mai 2016 ganze 72 Patente im Zusammenhang mit Crispr erteilt, weitere 774 Patente sind beantragt (unter zeit.de/crispr-statistik finden Sie eine grafische Auswertung). Start‐ups haben sich gegründet, gerade ist das vierte Unternehmen an die New Yorker Technologie‐Börse Nasdaq gegangen. Die großen Pharmafirmen Novartis, Bayer oder Pfizer sind mit im Rennen.
Auch die Grundlagenforscherinnen Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna sind zu Investorinnen geworden. Beide haben Firmen mitgegründet – und liegen schon mit dem Genforscher Feng Zhang von der Harvard University im Patentstreit. Zhangs Unternehmen hat für das kommende Jahr eine Therapie gegen eine seltene Augenkrankheit angekündigt. Und Charpentier wollte ihre wörtlichen Zitate für diesen Artikel nicht nur selbst gegenlesen, sondern diese auch von ihrem Anwalt prüfen lassen. Große Hoffnungen, großer Ehrgeiz, großes Geld – sie treiben die Wissenschaft an. Und können sie zerstören.
Welche Erwartungen Crispr erfüllen kann, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Für die Grundlagenforschung ist es schon heute unersetzlich. »Erfahrene Kollegen sagen zu mir: In den nächsten fünf Jahren kann ich so viel erreichen wie zuvor in meinem gesamten Forscherleben«, berichtet Max‐Planck‐Forscher Rudi Amann. Der komplette DNA‐Satz vieler Organismen ist zwar bekannt, die vollständige Funktion der meisten Gene bleibt aber weiterhin ein Geheimnis. Crispr hilft, sie zu entschlüsseln. Denn nun kann man im Labor leicht einzelne DNA‐Bausteine in Zellen ein‑ und ausschalten – und hoffentlich eines Tages Leiden von Alzheimer bis zur Zuckerkrankheit enträtseln. »Das ist das erste Ziel von Crispr: Es soll die Forschung für Biologen leichter machen«, sagt Emmanuelle Charpentier.
Eine halbe Stunde war vereinbart, am Ende hat Charpentier vier Stunden geredet. Kein Kaffee, kein Tee, kein Leitungswasser – auch nicht für die Gäste. Ist es das, was ihre Weggefährten meinen, wenn sie Charpentier als »intensiv« bezeichnen? In ihrem Büro stapeln sich noch immer Umzugskisten. Gerade hat sie einen neuen Aufsatz in Nature über Crispr veröffentlicht, um das Instrument weiter zu verbessern.
Ihr Vorbild? Marie Curie. Die hat den Nobelpreis gleich zweimal bekommen.