Was macht CRISPR/Cas einzigartig?
Das Überraschende an der aktuellen durch CRISPR/Cas ausgelösten Revolution ist eigentlich, dass das zugrundeliegende Prinzip – das Ansteuern und Scheiden bestimmter Stellen im Erbgut von Lebewesen um die genetische Information zielgerichtet zu verändern – schon seit vielen Jahren etabliert war, bevor CRISPR/Cas entdeckt wurde. Was macht CRISPR/Cas also einzigartig?
Die genetische Information aller Lebewesen wird in der Desoxyribonukleinsäure (DNS, englisch DNA) kodiert – das gilt für Bakterien genauso wie für Pflanzen, Tiere und Menschen. Bei allen Organsimen kommt es im Laufe des Lebenszyklus immer wieder zu Ereignissen, bei denen die genetische Information neu kombiniert wird. Bei uns Menschen tritt das zum Beispiel bei der Bildung der Keimzellen (Eizellen und Spermien) auf, wenn die Genanlagen mütterlicher und väterlicher Herkunft neu kombiniert werden. Oder etwa in Zellen unseres Immunsystems, in denen zur Abwehr von Krankheitserregern die für die Bildung von Antikörpern zuständigen Gene neu verknüpft werden. Der erste Schritt zu einer solchen Neuverknüpfung ist es die bisherige Kombination der DNA an spezifischen Stellen aufzuheben, d. h. zu spalten. Und genau dazu hat die Natur molekulare Scheren, sogenannte Nukleasen, entwickelt. Es gibt viele, ganz unterschiedliche Arten solcher Nukleasen und man findet sie in allen Lebewesen. Das Scheiden der DNA, um genetische Veränderungen zu erreichen, ist also ein Grundprinzip der Natur und nicht eine Erfindung des Menschen.
Die ersten molekularen Scheren, die Restriktionsendonukleasen, wurden Ende der 1960er Jahre entdeckt und läuteten die Ära der Molekularbiologie ein. Restriktionsendonukleasen sind Enzyme, die Bakterien zur Abwehr von Viren dienen, indem sie das Virusgenom an bestimmten Positionen erkennen und schneiden. Sie stellen als solche somit einen wichtigen Bestandteil des bakteriellen Immunsystems dar. Für ihre grundlegenden Arbeiten zur Entdeckung der Restriktionsenzyme und ihrer Anwendung in der Molekulargenetik erhielten Werner Arber, Daniel Nathans und Hamilton Smith 1978 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Noch heute ermöglichen Restriktionsenzyme in molekularbiologischen Laboren die gezielte Herstellung von DNA‐Fragmenten, die dann isoliert und zu neuen Konstrukten zusammengesetzt werden.
Der Leser und die Leserin dieses Buches werden sich fragen, warum solche Restriktionsenzyme nicht in pflanzlichen oder menschlichen Zellen eingesetzt werden? Ganz einfach: bakterielle Restriktionsenzyme erkennen sehr kurze Sequenzabfolgen, in der Regel vier bis acht Basenpaare (ein Basenpaar ist der Grundbaustein der DNA). Das ist viel zu wenig, um eine einzigartige Stelle, zum Beispiel eine krankheitsauslösende Veränderung, im menschlichen Erbgut mit seinen rund 3 Milliarden Basenpaaren anzusteuern. Da die spezifische Erkennungssequenz eines durchschnittlichen Restriktionsenzyms fast 1 Million Mal im menschlichen Genom vorkommt, würde ein bakterielles Restriktionsenzym sinngemäß Kleinholz aus unserem Erbgut machen.
Die ersten molekularen Scheren, die in Pflanzen‑ und Humanzellen eingesetzt wurden, stammen aus der Hefe und gehören zur Klasse der Meganukleasen. Meganukleasen erkennen Sequenzabfolgen von 20 bis 24 Basenpaare und haben somit das Potential eine einzigartige Stelle in einem komplexen Genom zu identifizieren und zu schneiden. Mit Meganukleasen konnte infolgedessen vor rund zwei Jahrzehnten erstmals gezeigt werden, dass molekulare Scheren zum zielgerichteten Editieren des Erbguts von pflanzlichen und menschlichen Zellen herangezogen werden können.
Das entscheidende Problem für den Einsatz von Genscheren in Pflanzen und beim Menschen war für lange Zeit, dass die in der Natur vorkommenden molekularen Scheren nur äußerst schwierig zu »reprogrammieren« waren. Reprogrammieren meint hier die gezielte Veränderung einer natürlich vorkommenden Meganuklease, damit sie eine neue, gewünschte Zielsequenz erkennen und schneiden kann. Seit fast 20 Jahren werden deshalb künstliche Genscheren, wie etwa Zinkfinger‐Nukleasen (ZFN) entwickelt. Allerdings war die Aktivität dieser ersten Generation von künstlichen molekularen Scheren relativ gering und ihre Herstellung war aufwändig und dauerte dementsprechend lang. Viele dieser Nachteile konnten vor 10 Jahren mit den aus Pflanzenbakterien stammenden Transkriptionsaktivator‐artigen Effektor‐Nukleasen, kurz TALEN, aufgefangen werden. Aufgrund ihrer hohen Präzision werden sie auch heute noch in der Pflanzenzucht und in therapeutischen Anwendungen am Menschen eingesetzt. Allerdings setzt auch die Erzeugung von TALEN viel molekularbiologisches Knowhow voraus, um diese Klasse der Genscheren erfolgreich herzustellen.
All das hat sich mit dem CRISPR/Cas‐System geändert. Die CRISPR/Cas9‐Genscheren lassen sich einfach und schnell herstellen und haben so diese genetische Revolution erst ermöglicht. Aber wie kam es überhaupt zu der Entdeckung dieser molekularen Schere? Margaret Knox erzählt im ersten Artikel dieses Kapitels, »Gezielter Eingriff ins Erbgut«, wie Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier diese für die Biologie entscheidende Entdeckung machten und aufzeigen konnten, dass das Cas9‐Protein nicht nur eine extrem effiziente molekulare Schere darstellt, sondern dass sie auch schnell und einfach programmiert werden kann. Im Gegensatz zu Meganukleasen, ZFN und TALEN, wird die Erkennung der DNA‐Zielsequenz durch eine weitere Nukleinsäure definiert, in diesem Fall ein kurzes Ribonukleinsäure(RNA)‐Fragment, das Leit‐RNA (englisch: guide RNA) genannt wird. In Verbindung mit Cas9 kann sich diese Leit‐RNA direkt mit der DNA der Zielsequenz paaren und so die Zielsequenz erkennen und schneiden. Werden mehrere dieser Leit‐RNAs eingesetzt, können gleichzeitig mehrere Stellen im Genom geschnitten werden, ein Vorgang der mit anderen Scheren nicht so einfach möglich war.
Aber warum benötigen Bakterien eine so effiziente molekulare Schere? Heidi Ledford führt im zweiten Artikel, »Die Rätsel des CRISPR/Cas‐Systems« in die biologische Rolle des CRISPR/Cas‐Systems ein. Es dient, wie die Restriktionsenzyme, der Abwehr von Viren. In einem ersten Schritt wird ein Teil der genetischen Information von infizierenden Viren im Bakteriengenom gespeichert. Diese Information wird dann in eine Leit‐RNA umgeschrieben und definiert damit die Spezifität der molekularen Schere Cas9. Auf diese Art und Weise entwickeln die Bakterien eine hochspezifische molekulare Schere, die sofort aktiv wird, sollte das gleiche Virus die Zelle erneut befallen. Durch dieses »immunologische Gedächtnis« kann mittels Spaltung der viralen DNA die Infektion gestoppt und das Überleben des Bakteriums sichergestellt werden.
CRISPR/Cas9 hat sofort nach der Entdeckung breite Anwendung gefunden. Dies dokumentiert Heidi Ledford im dritten Artikel, »CRISPR verändert alles«. Die Anzahl der Veröffentlichungen, Patentanmeldungen und der eingesetzten Finanzmittel stieg rasant an, ebenso wie die Vielfalt der Anwendungsfelder. Inzwischen ist es auch gelungen der molekularen Schere Cas9 »den Zahn zu ziehen«. Die aktuelle Forschung hat aus der Schere einen Piloten gemacht, der eine bestimmte Fracht an eine bestimmte Stelle ins Genom bringen kann. Diese Weiterentwicklung der CRISPR/Cas9‐Technologie wird im vierten, ebenfalls von Hedi Ledford geschriebenen Artikel »Die CRISPR‐Welle« dargestellt. Mit solchen »stumpfen« Scheren werden nicht mehr die Gene verändert, sondern das Ablesen der genetischen Information in der Zelle gezielt beeinflusst. So ist es möglich Gene, die abgeschaltet sind, wieder anzuschalten und, umgekehrt, aktive Gene auszuschalten. In der industriellen Biotechnologie wird z. B. der Stoffwechsel einer Zelle so verändert, dass biologisch interessante Moleküle in größerer Menge produziert werden können als sie unter natürlichen Bedingungen vorkommen. In der Grundlagenforschung werden unter anderem mit solchen »CRISPR‐Piloten« die Chromosomenenden sichtbar gemacht, indem fluoreszierende Proteine gezielt an diese Regionen des Genoms herangeführt werden. Mittlerweile ist es gelungen viele neue CRISPR‐Werkzeuge zu entwickeln, die es uns ermöglichen Zellen auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu beeinflussen und neue biologische Erkenntnisse zu gewinnen. Diese revolutionäre Entwicklung geht – wie in den nächsten Kapiteln dargestellt – weiter.