Medizinische Anwendung – von großen Hoffnungen und dem großen Geld
Die Vorstellung, das Erbgut eines Lebewesens nach Belieben zu verändern, ist ein lang gehegter Traum der Naturwissenschaft, der spätestens seit der Entwicklung von Genscheren Realität geworden ist. In der Medizin eröffnet der Einsatz molekularer Scheren bislang ungeahnte Möglichkeiten. Wie mit einem Skalpell lassen sich krankheitsverursachende Fehler in unserem Erbgut mit diesen Genscheren herausschneiden und durch eine korrekte Sequenzabfolge ersetzen – Genom‐Chirurgie mit Nanoskalpellen.
Gegenwärtig finden drei Arten von Genscheren Anwendung in klinischen Studien: Zinkfinger‐Nukleasen (ZFN), Transkriptionsaktivator‐artige Effektornukleasen (TALEN) und das CRISPR/Cas9‐System. Unbestritten hat die Einfachheit der CRISPR/Cas‐Technologie zu einer Explosion des wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Interesses an dieser Plattform geführt, was sich in einer scheinbar exponentiell zunehmenden Geschwindigkeit in der Translation der Genom‐Chirurgie in die medizinische Anwendung niederschlägt. Wissenschaftler an akademischen Institutionen und im industriellen Umfeld forschen fieberhaft an immer neuen therapeutischen Interventionen. Außerdem haben die kommerziellen Investitionen in die CRISPR/Cas‐Technologie die Milliardengrenze längst überschritten. In den letzten fünf Jahren haben sich mehrere CRISPR/Cas‐basierte Biotechnologiefirmen gegründet und auch die großen Pharmafirmen Novartis, Bayer oder Pfizer sind mit im Rennen.
Die Genom‐Chirurgie mit Genscheren schürt deshalb große Hoffnungen für Millionen von Patienten, die an Erbkrankheiten leiden. Diese von den Eltern auf ihre Kinder übertragenen Krankheiten werden häufig durch ein einzelnes fehlerhaftes Gen verursacht, wie etwa bei der Bluterkrankheit, die mit schweren Gerinnungsstörungen einhergeht, der Sichelzellanämie und der Beta‐Thalassämie, die zur Blutarmut führt, der Muskeldystrophie, die zu tödlichem Muskelschwund führt, oder etwa den erblichen Immunschwächen, die schon im frühen Kindsalter zum Tode führen können. Aber nicht nur angeborene Krankheiten lassen sich mit der Genom‐Chirurgie therapieren, die Genom‐Editierung ermöglicht auch die Behandlung einer Vielzahl erworbener Erkrankungen. Dazu gehören Infektionskrankheiten, wie etwa die chronischen Infektionen mit dem Humanen Immundefizienzvirus (HIV) oder dem Hepatitis‐B‐Virus (HBV). Während bei der HIV‐Therapie versucht wird Zellen des Immunsystems der Patienten durch gezieltes Inaktivieren bestimmter Gene resistent gegen den Erreger zu machen, ist bei der HBV‐Infektion die Eliminierung des Virusgenoms das Ziel. Auch Immunzelltherapien gegen Krebs sollen zukünftig mit CRISPR/Cas effektiver gemacht werden, indem krebsbekämpfende Zellen des Immunsystems genetisch so verändert werden, dass sie gegen die immunhemmende Wirkung von Tumorzellen resistent werden.
Noch beruht ein Großteil der klinischen Therapieansätze auf dem Einsatz von ZFN, da diese Klasse der Genscheren seit mehr als 20 Jahren beforscht wird. So ließen sich zum Beispiel mithilfe von ZFN in der ersten klinischen Studie mit Genscheren vor vier Jahren HIV‐resistente Immunzellen erzeugen, die den Patienten vorübergehend vor HIV schützten. Jetzt soll mit Hilfe von TALEN bzw. CRISPR/Cas in einem nächsten Schritt eine lebenslange Resistenz gegen den AIDS‐Erreger gebildet werden, in dem das CCR5‐Gen in Blutstammzellen ausgeschaltet wird. Das CCR5‐Gen kodiert für eine essenzielle Eintrittspforte, die das HI‐Virus nutzt, um in bestimmte Immunzellen einzudringen. Fehlt die CCR5‐Eintrittspforte, steht das Virus vor verschlossenen Türen – die Zelle resistent gegen HIV‐Infektion. Während Blutstammzellen sowie Zellen des Immunsystems außerhalb des Körpers genetisch verändert werden, wurden 2016 mehrere klinische Studien bewilligt, bei denen Genscheren zur Behandlung der erblichen Bluterkrankheit und bestimmter Stoffwechselerkrankung direkt im Patienten eingesetzt werden. Damit hat die Entwicklung der Genscheren‐Technologien außerordentliche Möglichkeiten zur Behandlung von bislang kaum therapierbaren angeborenen Erkrankungen sowie erworbenen Infektionskrankheiten und Krebs eröffnet. Obwohl andere Genscheren bislang häufiger als CRISPR/Cas in klinischen Studien zum Einsatz kommen, muss man kein Prophet sein um vorherzusagen, dass die CRISPR/Cas‐Technologie aufgrund der gigantischen Investitionen – und der damit verbundenen hohen kommerziellen Erwartungen – zukünftig in stark wachsendem Maße therapeutisch eingesetzt werden wird. Wird CRISPR/Cas die anderen Plattformen verdrängen? Die hohe Aktivität und die verbesserte Präzision von CRISPR/Cas‐Genscheren erhöhen die Sicherheit und machen dieses Werkzeug damit zu einem geeigneten Kandidaten für den klinischen Einsatz.
Die therapeutische Genom‐Chirurgie ist ein sehr junges Gebiet und steckt noch in den Kinderschuhen. Dennoch profitiert sie sehr stark von den Erfahrungen, die in der klassischen Gentherapie gemacht wurden. Die »konventionelle« Gentherapie mit Virusvektoren wird seit mehr als drei Jahrzehnten in mancher Hinsicht sehr erfolgreich zur Therapie angeborener und erworbener Erkrankungen eingesetzt. Mehrere Gentherapieprodukte haben eine Marktzulassung in Europa oder den USA erhalten und können damit wie normale Medikamente verschrieben und eingesetzt werden. Die außergewöhnlich schnelle Translation von den ersten Versuchen im Reagenzglas bis hin zur klinische Anwendung der Genom‐Chirurgie war also nur möglich, weil auf den Erkenntnissen der konventionellen Gentherapie aufgebaut werden konnte. Die Einsatzgebiete, die Erfolge, aber auch die Risiken und Nebenwirkungen der klassischen Gentherapie und der Genom‐Chirurgie werden von Juliette Irmer in ihrem Artikel »Zwischen Wunsch und Wirklichkeit« trefflich beschrieben. Ihr Artikel dient aber nicht nur als gelungene Einführung in die Thematik, sondern die Autorin stellt zurecht die Frage »Wer soll das bezahlen?«.
Der zweite Artikel »Emmanuelle Charpentier: Eine Frau, ihre Entdeckung und wie sie die Welt verändert« von Max Rauner & Martin Spiewak erschien in der ZEIT und ist nicht nur eine Hommage an Emmanuelle Charpentier, sondern beschriebt sie auch als eine der Lichtgestalten im CRISPR/Cas‐Feld. Der Artikel zeigt mehrere medizinische Anwendungen der CRISPR/Cas‐Technologie auf und gibt einen tiefen Einblick in die moderne Wissenschaftswelt, die sich zunehmend in einem Spannungsfeld zwischen akademischer Freiheit und kommerziellen Interessen zurecht finden muss. Ein Ziel hat Emmanuelle Charpentier aber sicherlich bereits erreicht: die Forschung für Biologen ist mit CRISPR/Cas sehr viel einfacher geworden.
Der kurze FAZ‐Artikel »Tumortherapie: Mit Genen gegen Blutkrebs?« von Emmanuelle Vaniet nimmt das Thema Immunzelltherapie gegen Krebs nochmals auf, welches im ersten Artikel eingeführt wurde. Die CAR‐T‐Zelltherapie gehört zu den klassischen Gentherapien, in der mittels Virusvektoren ein künstliches Gen in T‐Zellen (ein bestimmter Immunzelltyp) des Krebspatienten eingebracht wird. Das Genprodukt, der CAR, spürt Krebszellen auf und leitet ihre Zerstörung ein. Wie erwähnt, können solche CAR‐T‐Zellen mit CRISPR/Cas effektiver gemacht werden, indem in diesen Immunzellen die Gene, die für »molekulare Bremsen« kodieren, permanent deaktiviert werden. Damit soll es den Tumorzellen schwerer gemacht werden sich durch Aktivierung dieser Bremsen vor dem Immunsystem zu verstecken. Die Autorin beschreibt, welches Potential zusätzlich freigesetzt werden kann, wenn CRISPR/Cas nicht nur zur Inaktivierung dieser Bremsen, sondern gleichzeitig zum zielgerichteten Einbau des CAR‐Gens ins Erbgut der CAR‐T‐Zellen eingesetzt wird.
Wie treffsicher müssen CRISPR/Cas‐Genscheren sein? In vergangenen Jahren ist gezeigt worden, dass diese DNA‐Scheren versehentlich auch Stellen im Erbgut spalten können, die der eigentlichen Erkennungssequenz ähneln. Solche fälschlicherweise geschnittenen Stellen werden im Fachjargon als Off‐Targets bezeichnet. Obwohl in den meisten Fällen ein solches Ereignis folgenlos bleibt, kann im schlimmsten Fall eine Entartung der betroffenen Zelle und somit die Ausbildung eines Tumors die Folge sein. Gerade im Hinblick auf therapeutische Einsätze von Genscheren ist es daher essenziell, mögliche Off‐Targets frühzeitig zu erkennen. Von der Entwicklung im Reagenzglas bis hin zur klinischen Anwendung wird demzufolge jede einzelne Genschere intensiv untersucht, um potenzielle Risiken für den Patienten zu identifizieren und zu minimieren. Wie oben erwähnt, haben mehrere Genscheren eine solch ausführliche Prüfung bestanden und befinden sich gegenwärtig in klinischen Studien. Ein kurzer Artikel von Jan Osterkamp mit dem Titel »Neue, vielseitigere CRISPR/Cas‐Genschere« zeigt auf, wie dieses Werkzeug stetig weiter verbessert wird, um in Zukunft noch sicherer und vielseitiger eingesetzt zu werden.
In einer alternden Gesellschaft nimmt nicht nur das Risiko einer Krebserkrankung zu, sondern auch die Indikationen für eine Organtransplantation. Neben den rein medizinischen Komplikationen, wie etwa der immunologischen Abstoßung des transplantierten Organs, sind Organspenden auch immer mit rechtlichen und ethischen Fragen verbunden, vor allem wenn Transplantationsorgane knapp sind. Werden Patienten in Zukunft in Tieren gezüchtete Ersatzorgane empfangen? Oder sind gar Chimären eine mögliche Zukunft der Transplantationsmedizin? Der fünfte Artikel »Mischwesen gegen den Organmangel« von Lars Fischer beschreibt, wie CRISPR/Cas in Verbindung mit anderen Technologien uns zukünftig aus diesem Dilemma retten könnte.
CRISPR/Cas wird aber nicht nur in tierischen Embryonen erfolgreich eingesetzt. In China und Großbritannien setzen Forscher bereits heute die Genschere zu Forschungszwecken in menschlichen Embryonen ein. Damit scheint auch das zielgerichtete Einführen von genetischen Veränderungen im ungeborenen Leben plausibel. Mit ethischen Fragen im Umgang mit CRISPR/Cas befassen wir uns im letzten Teil dieses Buches.