Mein Körper fühlt sich taub an. Die Kälte, die nachts im Tal herrscht, ist ein ständiger Begleiter, den ich nicht mehr abschütteln kann. Die Bewegungen sind steif und ich bin erschöpft. Jeder Schritt ist ein Kampf gegen den Wunsch, mich hinzusetzen und nie wieder aufzustehen. Vor allem dank des kräftezehrenden, steilen Aufstiegs seit dem Morgengrauen.
Vier Tage lang sind wir durchmarschiert. Bis auf die kurzen Unterbrechungen, um zu verschnaufen, sind wir auf den Beinen. Mit der ständigen Angst im Nacken, die Kirottu könnten uns einholen, war in den Pausen an tiefen Schlaf nicht zu denken. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen, wie viele auf unserem Marsch ihren Verletzungen erlegen sind.
Auf der Hochebene angekommen, lasse ich den Blick schweifen. Von allen Seiten wird sie von steil aufragenden Gebirgshängen eingerahmt. Die Sonne ist längst hinter den Gipfeln verschwunden und Sterne funkeln wie Diamantstaub am wolkenlosen Nachthimmel. Der Anblick ist trügerisch friedlich.
»So viele Menschen«, murmle ich und betrachte die zahlreichen Zelte.
»Jeder Mann, der eine Waffe halten kann, ist dem Ruf des Kronprinzen gefolgt«, erklärt Otso, nachdem er neben mich getreten ist.
»Das sind alles Soldaten?«, fragt Katriina. Erstaunt sieht sie den Ritter an.
Otso lockert die Schultern und verzieht dabei vor Schmerz das Gesicht. Trotz eines Kräuterwickels verheilt die Wunde nur langsam. In unserer Truppe ist er nicht der Einzige, der dringend einen Medicus und Ruhe braucht.
»Nicht ausschließlich, nehme ich an«, sagt er. »Bestimmt haben auch viele Geflüchtete hier Zuflucht gesucht.«
»So wie wir«, mischt sich Harmaa ein und tätschelt mir ermutigend den Rücken. »Hier können wir endlich schlafen, ohne auf jedes Geräusch und jede Bewegung zu achten.«
»Das klingt verlockend«, entgegne ich mit einem wehmütigen Seufzen. Ich sehne mich nach einem sicheren Schlafplatz. Leicht kreise ich mit den Schultern und bewege den Kopf, um die verkrampften Muskeln zu lockern. Jede Faser meines Körpers schmerzt.
»Lasst uns gehen, die Zelte werden zugeteilt.« Mit einer Geste fordert uns Otso auf, ihm zu folgen, nachdem sich die Ersten in Bewegung setzen. »Die Nächte in den Bergen sind noch kälter als im Tal. Hoffentlich haben sie genug Decken, damit wir uns wärmen können.«
»Noch kälter?«, murrt Katriina, schlingt die Arme um den Oberkörper und schüttelt sich. »Ich spüre die Zehen schon nicht mehr.«
»Du kannst sie gerne unter meiner Decke wärmen«, bietet Otso an. Er schenkt ihr ein ehrliches Lächeln, das sie mit glühenden Wangen erwidert. »Ich kümmere mich darum, dass ihr gut untergebracht werdet«, sagt er und verschwindet in der Menge.
»Ist nicht verkehrt, einen Ritter des Kronprinzen zum Freund zu haben.« Schelmisch lächelt Harmaa. Es ist das erste Mal seit Tagen, dass er eine andere Gefühlsregung als Furcht und Sorge zeigt.
Katriina hakt sich bei mir unter und legt erschöpft den Kopf auf meine Schulter. Schweigend folgen wir den Leuten aus dem ehemaligen Lager über den Pfad, der zwischen den dicht aneinandergereihten Zelten hindurchführt. Gespräche erfüllen die Luft, Holzscheite knacken und knistern im Feuer. Nach dem Erlebten wirken die alltäglichen Geräusche so unwirklich. Aufmerksam werden wir auf dem Weg durch die Zeltstadt von den Lagerbewohnern beäugt. Mir entgehen das Mitleid und die Anteilnahme in ihren Mienen nicht.
Auf einmal ertönt vielstimmiges Raunen in der Menge. »Der Kronprinz«, raunt jemand vor uns.
Katriina und ich recken gleichzeitig den Kopf. Am Rande des Pfads entdecke ich eine Gruppe von Männern, die in einer Lücke zwischen zwei Zelten stehen. Leicht schubse ich meine Freundin an und weise mit dem Kinn in die Richtung der Gruppe. Vier Soldaten in Uniform beleuchten mit Fackeln die Männer in ihrer Mitte, die den vorbeiziehenden Strom an Geflüchteten aufmerksam betrachten. Dabei steht ihnen die Sorge deutlich ins Gesicht geschrieben. Ihre Mimik ist verbissen und ernst.
Überrascht ziehe ich die Brauen hoch, als ich Otso entdecke, der mit einem der Männer spricht.
»Der mit den braunen Locken muss der Kronprinz sein«, sagt Harmaa.
Neugierig mustere ich den Mann, der seinen Blick nicht von der Menge nimmt, während sich Otso zu ihm beugt und lebhaft berichtet. Das ist er – der Mann, dessen Name in Valokirkas wie eine Art Gebet gesprochen wird. Auf seinen Schultern lastet die Hoffnung der Völker zweier Reiche. Sowie meine.
Die sanften, dunklen Locken reichen dem Kronprinzen bis zu den Ohren. Er ist fast so groß wie Otso und überragt die Männer an seiner Seite. Die Statur ist die eines Kriegers – gut gebaut und kraftvoll. Trotz der Sorge in seiner Mimik strahlt er Zuversicht aus, indem er den Vorübergehenden, die das Haupt vor ihm neigen, ein ermutigendes Lächeln schenkt und ihnen zunickt.
Als wir die Männer erreichen, mustert er erst Katriina und dann mich. Ich tue es den Umstehenden gleich und senke den Kopf, um Jari von Valokirkas meine Ehre zu erweisen. Als ich wieder hochsehe, liegt sein Blick noch immer auf mir. Überrascht zucke ich zusammen. Otso weist auf uns und redet unaufhörlich auf den Kronprinzen ein. Erstaunen zeichnet sich in dessen Gesicht ab, er zieht die Brauen hoch und seine Augen weiten sich. Dann sieht er an mir hinab und betrachtet die Schwertscheide an meinem Gürtel. Kaum merklich nickt er und hebt die Hand. Es ist nur eine kleine Geste, aber sie bringt den Strom an Flüchtlingen umgehend zum Stehen.
Angespannt halte ich den Atem an, als er auf uns zutritt. Katriinas Griff wird so fest, dass sie mir den Arm fast zerquetscht. Wie gebannt starre ich dem Kronprinzen ins Gesicht.
Sein Blick ruht auf mir, als er vor uns stehen bleibt. Dunkel schimmern seine Augen in der Farbe von Ebenholz. Ich kann nicht anders als hineinzustarren. Versunken in seinen Anblick rieselt ein feiner Schauer über meinen Nacken und entlang der Wirbelsäule den Rücken hinab. Der Kronprinz ist zwar ein gut aussehender Mann, doch seiner Ausstrahlung haftet etwas an, das mich fasziniert. Und das ich mir nicht erklären kann. Die unerwartete Reaktion meines Körpers und dieses fast vergessene Kribbeln, das sich auf der Haut ausbreitet, bringen mich zur Besinnung. Mehrmals blinzle ich, bis ich aus dem Augenwinkel erkenne, dass Katriina abermals den Kopf vor dem Kronprinzen neigt. Und ich starre ihn bloß unverhohlen an! Hitze steigt mir in die Wangen, ertappt schnappe ich nach Luft.
»Hoheit«, sage ich rasch und versinke in einen tiefen Knicks. Den Blick bohre ich in den Boden, während mein zu schneller Herzschlag in den Ohren dröhnt. Hoffentlich habe ich den Kronprinzen nicht verärgert. Die Muskeln in den Beinen krampfen bereits schmerzhaft, trotzdem verharre ich steif in der Haltung und beiße die Zähne zusammen.
»Eure Manieren sind tadellos, doch ich lege keinen Wert auf Knicksen und Verbeugungen«, sagt der Kronprinz. »Vor allem nicht im Krieg und nicht von einer Frau, die Ehre und Respekt verdient hat, weil sie einem meiner Ritter das Leben gerettet hat.« In seiner samtig dunklen Stimme schwingt etwas Bestimmendes mit. Dieser Mann ist es gewohnt, Befehle zu erteilen. Dennoch entgeht mir sein bewundernder Tonfall nicht.
Wärme entsteht in meinem Inneren und verdrängt die Kälte der vergangenen Tage. Warum löst seine Anerkennung dieses eigenartige Flattern in der Brust aus? Langsam richte ich mich wieder auf und unterdrücke den Drang, mir die Hände auf die noch glühenden Wangen zu pressen, um sie zu verstecken. Es hilft auch nicht, mich daran zu erinnern, wer vor mir steht. Ich blamiere mich vor dem Kronprinzen dieses Reiches und kann nichts dagegen unternehmen.
»So ist es schon besser«, sagt er und lächelt. Die braunen Locken hängen ihm in die Stirn und verschaffen ihm ein verwegenes Aussehen. Da seine Haut sonnengebräunt ist, scheint er viel Zeit im Freien zu verbringen. Seine Ausstrahlung und das Leuchten in den Augen erinnern mich eher an einen draufgängerischen Krieger als an einen vornehmen Prinzen. Vielmehr wirkt er mit seiner schlichten, graublauen Uniform wie jeder andere Soldat im Lager. Alles an seiner Erscheinung überrascht mich. Und beschäftigt mich mehr, als es sollte.
»Habt Dank für Euren Schutz, Hoheit«, sage ich in dem Versuch, das Durcheinander in mir zum Schweigen zu bringen.
»Ihr verdient vielmehr meine Dankbarkeit, Aila«, entgegnet er und neigt das Haupt vor mir.
Sprachlos starre ich auf sein dunkles Haar. Auf meinen Armen breitet sich Gänsehaut aus, während ich eine Hand auf die Brust presse, in der das Herz trommelt. Die Reaktion des Prinzen rührt mich, dabei will ich das gar nicht. Wie auch die Unruhe, die auf einmal in mir erwacht und mich zittern lässt. Rakkains Verlust ist erst ein halbes Jahr her. Wie kann mich da ein anderer Mann faszinieren? Energisch strecke ich beide Arme durch und drücke die Fingernägel in die Handballen, um mich zusammenzureißen.
Nachdem der Kronprinz sich wieder aufgerichtet hat, dreht er sich zu einem der Soldaten um und winkt ihn herbei. »Bring die Damen in ihr Zelt, Roland. Neben Otsos und Tuures Unterkunft steht noch eines leer.« Er wendet sich uns wieder zu. »Es interessiert mich, wer Euch das Kämpfen gelehrt hat, Aila. Vielleicht erzählt Ihr es mir bei Gelegenheit«, sagt er und schenkt mir erneut ein Lächeln, das mich nervös macht.
»Gewiss, Hoheit«, antworte ich, ohne die Absicht, ihm je von den beiden Männern zu erzählen, deren Verlust mir das Herz gebrochen hat. Sofort steigt der gewohnte Schmerz in mir auf und verscheucht die Wärme, die von der Bewunderung des Prinzen ausgelöst worden war. Mit aller Macht dränge ich ihn zurück. Es ist weder der richtige Ort noch der passende Zeitpunkt, um mich der Trauer hinzugeben.
Aufmerksam bohrt der Kronprinz seinen Blick in mich und lässt damit jeden Gedanken an die Vergangenheit auf einen Schlag verstummen. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich lieber so schnell wie möglich Abstand zwischen uns bringen oder herausfinden will, weshalb er mühelos dieses Durcheinander in mir anrichtet.
»Hoheit«, sagt Katriina. Am Arm zieht sie mich mit sich, bevor sich der Strom an Flüchtlingen hinter uns wieder in Bewegung setzt.
Trotzdem schaffe ich es nicht, den Blick von Jari von Valokirkas zu nehmen, der mich in seinen Bann zieht. Wie schafft er das bloß? Ich lasse mich doch sonst nicht so leicht beeindrucken.
Der Kronprinz sieht mir ebenfalls nach, bis ich mich endlich besinne und dem vor uns liegenden Pfad zuwende. Unaufhörlich rauscht Adrenalin durch meinen Körper und bringt die Fingerspitzen zum Kribbeln. Druck steigt mir in den Kopf, als ich an die Begegnung zurückdenke. Was ist da geschehen?
Schweigend folgen wir dem Soldaten, der uns mit sicheren Schritten durch das Lager lotst, bis sich Katriina zu mir beugt. »Du hast den Kronprinzen angestarrt«, flüstert sie und dreht mir das Gesicht zu. Breit grinst sie, die blauen Augen funkeln belustigt.
Gegen meinen Willen flammt das Glühen in den Wangen erneut auf. »Seine Erscheinung hat mich bloß überrascht«, sage ich ernst. Das nervöse Zucken meiner Mundwinkel kann ich jedoch nicht verhindern.
»Und gebannt.«
Als sie amüsiert prustet, dreht sich der Soldat nach uns um.
Warnend stoße ich ihr den Ellbogen in die Seite und bringe sie mit einem Zischen zum Schweigen. »Du verstehst das falsch. Es ist nur …« Tief atme ich durch, während ich nach einer Ausrede suche. »Unser Schicksal liegt in seinen Händen. Und er wirkt so … normal. Dabei muss er sich einer übermächtigen, verfluchten Armee und deren König entgegenstellen. Mehr noch, er muss sie vernichten und den Fluch brechen. Schafft er das? Ist er wirklich die Rettung, nach der wir uns sehnen?« Das habe ich mich schon vor meinem Aufeinandertreffen mit Jari von Valokirkas gefragt. Konnte mich sein Anblick deswegen so fesseln? Weil meine Hoffnungen auf ihm ruhen?
Leise grummelt Katriina vor sich hin. »Wenn nicht er, wer dann?« Kummer hat sich in ihre Stimme und die Mimik geschlichen. Bedrückt wendet sie das Gesicht ab und starrt gedankenversunken in die Dunkelheit.
Was auch immer der Auslöser dafür ist, der Kronprinz hat etwas in mir berührt. Das würde ich vor Katriina nur niemals zugeben. Dabei habe ich mir verboten, je wieder so zu fühlen, nachdem ich Rakkain verloren habe. Zwischen all dem Hass auf den Fluch und dem Schmerz habe ich angenommen, mich nicht mehr von einem Mann angezogen fühlen zu können. Wie falsch ich doch gelegen habe.
Doch er ist der Kronprinz! Ich will in ihm nicht mehr sehen als unser aller Rettung. Als das Licht, das hoffentlich in der Finsternis des Fluchs überdauert und unser Leiden beendet. Anstatt über die Unruhe nachzudenken, die ich in seiner Nähe empfunden habe und die sich bis in meine Eingeweide gegraben hat, bete ich lieber zu den Göttern, dass dieser Mann sein Reich davor bewahrt, ebenso von der schwarzen Magie verschlungen zu werden wie Tummavarjo. Wenn Jari von Valokirkas die Dunkelheit nicht zurückdrängt, sind wir alle verdammt.