8. Kapitel

Aila

»Du legst es darauf an, sie zu verziehen«, ertönt hinter mir eine wenig begeisterte Stimme.

Überrascht drehe ich mich um und blicke zu Tuure auf, der mit tadelnd verzogenem Gesicht vor mir steht. Am Zügel hält er einen stämmigen Fuchs, der den Hals streckt und die Stute auf dem Pferch beschnuppert, die ich gestreichelt habe.

»Ich verziehe sie nicht – ich gewinne ihr Vertrauen«, erinnere ich ihn.

Er verengt die Augen, bis sein Blick an mir hinunterwandert. »Was trägst du da überhaupt?«

Selbstbewusst straffe ich die Schultern. Nie habe ich mich in einem Kleid so wohl gefühlt wie in diesem, das mir Otso am Abend vor ihrem Ritt ins Tal gebracht hat. Bevor ich antworten kann, tritt der Kronprinz neben Tuure.

»Es ist Lahjas Reitkleid«, sagt er mit ernster Miene. Sein Blick bohrt sich in mich.

Unruhe erwacht in mir und wandert wie ein Wirbelwind durch mein Inneres. Prinzessin Lahja von Valokirkas? Mir entgleisen die Gesichtszüge. »Verzeiht, Hoheit. Ich wusste nicht … Otso hat …«, stammle ich mit glühenden Wangen. Hätte ich gewusst, wem die Kleidung gehört, hätte ich sie nie angezogen.

Die ernste Miene des Kronprinzen weicht einem freundlichen Lächeln. »Er war wohl der Meinung, dass es an Euch besser aussieht, als wenn es in einer Kiste verstaubt.«

Die Milde in seiner Stimme beruhigt meine Nerven, sodass ich mich entspanne. Stattdessen kriecht ein sanftes Prickeln über meine Haut, ausgelöst von dem Blick aus diesen dunkelbraunen Augen, der auf mir ruht. Wie schon bei unserer letzten Begegnung frage ich mich, warum der Kronprinz mich so aufmerksam anschaut. Traut er mir nicht?

Grübelnd sehe ich an ihm hinab. Erst jetzt fällt mir sein blutgetränkter Ärmel auf. »Ihr seid verletzt!«, hauche ich bestürzt. Ohne darüber nachzudenken, trete ich auf ihn zu, ziehe den zerteilten Stoff des Hemdes auseinander und begutachte die Wunde. In all den Jahren habe ich Vater oft genug bei der Versorgung von Verletzungen der Pferde zugeschaut, um Erfahrungen zu sammeln. »Der Schnitt ist nicht tief. Er dürfte mit wenigen Stichen zu nähen sein.« Konzentriert reibe ich die Lippen aufeinander und taste mich mit der Fingerspitze an die Wunde heran. »Wenn ich Johanniskraut oder Sonnenhut finde, kann ich daraus eine Salbe herstellen«, überlege ich laut. Ich sehe auf und begegne seinem Blick. Der Kronprinz hat die Brauen hochgezogen und beobachtet mich interessiert. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich ungefragt einen Prinzen abtaste. Kurz erstarre ich, dann presse ich die Arme an mich und weiche mit trommelndem Herzen zurück. »Verzeiht, Hoheit. Ich habe nicht nachgedacht.« Mein Gesicht glüht vor Scham.

»Zuerst nachdenken ist immer ratsam«, sagt Tuure.

»Das kommt gerade von dir«, entgegnet der Kronprinz und grinst ihn an. Nachdem der Ritter ein beleidigtes Schnauben von sich gegeben hat, wendet sich der Prinz wieder mir zu. »Ihr kennt Euch mit Kräutern aus?«

»Ein wenig.« Ich werfe Tuure einen bösen Blick zu, als er lacht.

»Pieni kennt sich anscheinend mit allem aus.« Er zieht einen Mundwinkel in die Höhe, was ihm diesen spöttischen Ausdruck verleiht, der meinen Puls beschleunigt.

»Ich bin nicht Eure Kleine!«, blaffe ich ihn an. »Was habe ich Euch eigentlich getan? Wer mit Pferden umgeht, kennt sich zwangsläufig mit der Wunderversorgung aus.«

Anstatt mir zu antworten, bohrt er den Blick herausfordernd in meinen. Doch ich habe genug davon, mich mit ihm zu streiten. Ohne auf eine Erwiderung zu warten, nicke ich dem Kronprinzen höflich zu und marschiere in Richtung der Zelte davon.

»Wer ist dir denn auf die Füße getreten?«, fragt Katriina, als ich ihr am Rande des Lagers über den Weg laufe. Sie hat sich dank Otso ebenfalls neu eingekleidet. Der blaue Stoff des knöchellangen Kleides unterstreicht ihr rotes Haar und die hellblauen Augen.

»Tuure«, stoße ich grummelnd aus und verschränke die Arme, nachdem ich mich ihr zugewandt habe. »Kaum ist der Kerl zurück, ärgere ich mich über ihn.« Ich verschweige lieber, dass der Kronprinz und seine aufmerksame Betrachtung ebenfalls an meiner Fassung gekratzt haben.

Katriina seufzt mitleidig, dann wird sie bleich. Ihr entgleisen die Gesichtszüge, als sie hinter mich starrt. Ich folge ihrem Blick und entdecke Otso, der von zwei Männern gestützt durch das Lager geführt wird. Seine Schritte sind unsicher, die Beine sacken ihm ständig weg. Hinter ihnen folgt der Medicus mit besorgter Miene.

»Dieser Dummkopf!«, schimpft Katriina und eilt auf die Männer zu. Ohne zu zögern, setze ich mich in Bewegung und schlüpfe hinter ihr in Otsos Zelt.

Die Soldaten haben den verletzten Ritter auf eine Matte sinken lassen. Leise vor sich hin murmelnd geht der Medicus neben Otso auf die Knie und tastet ihn ab.

Mit flatternden Lidern öffnet der Ritter die fiebrig glänzenden Augen. Schweiß bedeckt seine Haut, das Haar ist feucht. Er sieht sich im Zelt um, bis sein Blick auf Katriina und mir im Eingang liegen bleibt. Träge formen seine Lippen ein Lächeln, dann fallen ihm die Augen zu.

Hastig lässt sich meine Freundin neben ihm nieder und sieht den alten Medicus an. »Wie schlimm ist es?«

»Sein Fieber ist hoch. Geh und hol mir einen Eimer voll Wasser, Kind. Außerdem ein paar Tücher«, verlangt er.

Sie will aufstehen, da halte ich sie zurück. »Bleib bei ihm! Ich hole die Sachen.«

Dankbar nickt sie mir zu, bevor sie sich zu Otso beugt und seine Hand ergreift. In ihrer aufgelösten Mimik erkenne ich die Sorge und Angst um den Ritter. Der Anblick jagt einen Stich durch mein Herz. Sie liebt ihn. Warum ist mir das nicht schon früher aufgefallen?

»Du kannst mir zur Hand gehen, Kind«, sagt der Medicus zu Katriina, als ich aus dem Zelt stürme.

Mein Puls rast. Ich habe Angst um Otso und Katriinas Herz, sollte er nicht überleben.

***

Die Sonne ist längst untergegangen, als sich endlich Ruhe über das Lager gelegt hat. Nur das Knacken der Holzscheite im Feuer vor dem Zelt des Kronprinzen durchbricht die Stille. So sanft wie möglich tupfe ich Salbe auf die genähte Wunde an seinem Arm, während er vor mir auf einer Truhe sitzt. Ich spüre seinen Blick auf mir brennen. Da ich knie, muss ich den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufzusehen. Er verzieht keine Miene, obwohl ich über die frische Naht streiche.

Es klappert, als der Medicus seine Utensilien in ein Tuch einschlägt und wegpackt. Mit seiner Tasche in der Hand tritt er an uns heran und sieht dabei zu, wie ich ein abgekochtes Stoffband um den Arm des Kronprinzen wickle. Ohne mich von den Blicken der beiden Männer aus der Ruhe bringen zu lassen, stecke ich einen Zipfel des Bandes fest und stehe auf.

»Wie ich sehe, befindet Ihr Euch in guten Händen, Hoheit«, sagt der Medicus und verneigt sich vor ihm. »Ich empfehle mich.« Mir schenkt er ein warmherziges Lächeln.

»Tut mir einen Gefallen und seht noch einmal nach Otso«, bittet der Kronprinz, woraufhin der alte Mann nickt und das Zelt verlässt.

Unsicher, was ich jetzt tun soll, sehe ich mich um. Die Unterkunft ist spärlich eingerichtet, es finden sich nur eine Handvoll Truhen und eine Schlafstätte aus Decken, die an unsere erinnert. Über meine Schulterblätter rieselt ein leichter Schauer, als mir bewusst wird, dass ich mit dem Kronprinzen alleine bin. »Ich werde mich dann ebenfalls zurückziehen, Hoheit«, verkünde ich und wende mich ihm zu. Überrascht sehe ich nach oben, da er geräuschlos aufgestanden ist und jetzt keine Armlänge entfernt neben mir steht.

»Würde es Euch etwas ausmachen, mir noch Gesellschaft zu leisten?«, fragt er.

Warm prickeln meine Wangen, während das Blut schneller durch die Adern rauscht. »Hoheit, mit Verlaub, aber solch eine Frau bin ich nicht.«

Erst weiten sich seine Augen, dann lacht er los. Das Lachen ist tief und samtig. Ich mag den Klang. Dennoch ziehe ich die Brauen hoch und weiche einen Schritt zurück.

»Verzeiht, Aila, so war meine Bitte nicht gemeint.«

»Schön, dass ich Euch zumindest zum Lachen bringen konnte«, sage ich und muss selbst schmunzeln.

Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen sieht er auf mich hinab. In seinen Augen spiegeln sich die Flammen der Kerzen wider, die im Zelt verteilt sind und Licht spenden. Die dunklen Locken fallen ihm in die Stirn. Sein Anblick lässt mich für einen Moment schwerer atmen. Es ist jedoch sein tiefgehender Blick, der jegliche Gedanken zum Schweigen bringt. Der Kronprinz tritt einen Schritt auf mich zu, weshalb ich den Kopf in den Nacken lege, um ihm in die Augen sehen zu können. Unser ungebrochener Augenkontakt löst ein aufgeregtes Flattern in meinem Magen aus, das mir gar nicht gefällt. Doch ich will nicht unhöflich sein und auf den Boden starren. Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen und die Nackenhärchen stellen sich auf. Wie aus dem Nichts spüre ich diese Spannung, die zwischen uns liegt. Unsichtbaren Funken gleich neckt sie meine Haut und bringt alles in mir zum Pulsieren.

»Ihr wolltet mir bei Gelegenheit erzählen, wer Euch das Kämpfen gelehrt hat«, raunt er. Aufmerksam sieht er mich an, darum dürfte ihm nicht entgehen, dass mir die Gesichtszüge entgleisen. Sein Gedankensprung trifft mich unvorbereitet.

Zwar hätte ich dieses Gespräch gerne hinausgezögert, doch jetzt werde ich nicht darum herumkommen, ihm ein wenig von mir zu erzählen. »Mein Bruder«, antworte ich nach einer gefühlten Ewigkeit, in der einzig das Pochen meines Herzens die Ohren erfüllt hat.

»Ist er ein Soldat?«

»Nein, ist er nicht … war er nicht«, stammle ich und zucke zusammen, als ein stechender Schmerz durch die Brust jagt. »Er ist tot.« Meine Stimme ist nur ein Wispern. Tränen brennen plötzlich in meinen Augen. Es ist das erste Mal, dass ich es laut ausspreche. »Genau wie meine Eltern.« Die Worte sind gesagt, bevor ich es bereuen kann. Bekümmert presse ich die Lippen zusammen und starre auf die Brust des Kronprinzen. »Verzeiht, Hoheit, Ihr habt ebenfalls Familie verloren.« Mein Herz zerbricht, als das Gedächtnis die Nacht zurückbringt, in der mir alles genommen wurde. Ich will nicht daran denken! Am liebsten will ich alles vergessen.

Wärme erfüllt mich, als der Kronprinz die Hände um meine Oberarme legt und sich beugt, um mir ins Gesicht zu sehen. »Dann haben wir etwas gemeinsam«, sagt er und lächelt traurig. »Ich wollte Euch keinen Kummer bereiten und in alten Wunden bohren.«

»Ihr wusstet es nicht.« Schlagartig fühle ich mich so einsam. Ich sehne mich nach Geborgenheit und Schutz. Nach Halt. Der Wunsch, all dies in den Armen des Kronprinzen zu suchen, wird so drängend, dass ich vor den Gefühlen erschrecke. Rakkains Gesicht blitzt vor meinem inneren Auge auf. Was mache ich hier bloß?

Steif weiche ich von ihm zurück, sodass seine Hände von meinen Armen gleiten. »Ich sollte nicht … hier sein«, hauche ich, während mein Blick im Zelt umherjagt.

»Wenn ich Euch zu nahe getreten bin …« Beschwichtigend hebt er die Arme und sieht mich mit besorgt hochgezogenen Brauen an. Fühlt er sich etwa für meine Reaktion verantwortlich? An mir nagt die Vorstellung, er könnte denken, dass er einen Fehler begangen hätte. Dabei bin ich diejenige, die sich falsch verhalten hat.

Mein Kopf ist erfüllt von Gedanken, das Herz von widersprüchlichen Gefühlen. Trauer, Furcht und das Sehnen nach Halt vermischen sich und lassen mich schwindeln.

»Jari, kann ich kurz mit dir …« Tuure tritt in das Zelt und verstummt. Sein Blick huscht zwischen uns hin und her, bis er auf mir liegen bleibt. Mürrisch verzieht er das Gesicht. »Vor dir hat man wirklich nirgendwo Ruhe, Pieni

Sein Anblick erstickt die Gedanken und Gefühle auf einen Schlag und bringt mich zur Besinnung.

»Ich habe nur die Wunde des Prinzen versorgt.« Tief atme ich durch und knickse vor Jari von Valokirkas. »Da Ihr jetzt Gesellschaft habt, die Euch ebenfalls bestens zu unterhalten weiß, empfehle ich mich, Hoheit.« Bevor er mich zurückhalten und mein Verhalten hinterfragen kann, schlüpfe ich an Tuure vorbei in die Nacht hinaus.

Ein Schauder rieselt meinen Nacken hinab, während ich die Blicke der beiden Männer auf mir spüre, bis mich die Dunkelheit verschluckt.