13. Kapitel

Aila

»Ich habe befürchtet, du seist in den Tod gestürzt«, sagt Meri. Sie hat mich bei sich untergehakt, um mich zu stützen.

Der Sturz steckt mir noch in den Gliedern, überall zwickt und pocht es. Mein Knöchel protestiert bei jedem Schritt. Doch weder die Schmerzen noch Meris aufgeregtes Plappern dringen wirklich zu mir vor. Meine Gedanken sind einzig bei dem Kirottu, der hinter uns von zwei Männern getragen wird. Immer wieder drehe ich mich prüfend zu Lord Mats um, doch noch ist er nicht bei Bewusstsein. Unentwegt nagt die Angst an mir, er könnte verraten, woher er mich kennt. Es würde auf einen Schlag alles ändern.

Um mich von meinen Sorgen abzulenken, sehe ich zum Kronprinzen, der schräg vor uns geht. Es rührt mich, dass er und so viele Lagerbewohner ausgezogen sind, um nach mir zu suchen. Als ich seinen Rücken betrachte, plagt mich jedoch mein Gewissen. Das Hemd ist zerschnitten, Blut tränkt den graublauen Stoff. Der Kronprinz muss sich eine tiefe Wunde zugezogen haben. Und das nur wegen mir. Dass er für mich sein Leben riskiert hat, verstärkt das Flattern in meiner Brust, wenn ich in seiner Nähe bin. Der Kronprinz ist so großmütig, dass er bestimmt für jeden im Lager solch einen Einsatz zeigen würde. Es ist töricht von mir zu hoffen, ich wäre etwas Besonderes. Dennoch lässt der Gedanke, dass er sich um mich gesorgt hat, mein Herz schneller schlagen.

»Es war eine weise Entscheidung, das Schwert mitzunehmen.« Leicht stößt Meri beim Laufen gegen mich. »Du scheinst dich gut geschlagen zu haben.«

»Sie hatten nicht vor, mich zu töten. Hätten sie das gewollt, wäre ich jetzt nicht hier«, sage ich und sehe über die Schulter zurück zu dem ohnmächtigen Ritter.

Meri folgt meinem Blick und ich merke, wie sie erschaudert. »Ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie ihn mit ins Lager nehmen«, flüstert sie.

»Er kann uns nichts mehr anhaben«, versuche ich sie zu beruhigen. Bei den Worten rumort es in mir, denn ich fürchte, dass sie für mich nicht gelten, sobald er zu sich kommt. Selbst wenn Lord Mats zu unserer gemeinsamen Vergangenheit schweigt, werden die Soldaten des Kronprinzen ihn so lange foltern, bis er über die schwarze Armee auspackt. Dabei könnte ihm zu leicht etwas rausrutschen, das mir zum Verhängnis wird. Bei der Vorstellung wird es mir eng in der Kehle. Obwohl der Anblick des Ritters die schlimmste Nacht meines Lebens lebendig werden lässt, muss ich ihn aufsuchen und dafür sorgen, dass er mir nicht gefährlich wird. Ich werde nicht zulassen, dass eine unglückliche Fügung dafür sorgt, dass ich meine neue Zuflucht verliere. Und das Vertrauen des Kronprinzen. Es sollte keine Rolle spielen, aber der Gedanke, er könnte von mir enttäuscht sein oder gar Hass für mich empfinden, betrübt mich. Das Gefühl weicht jedoch sofort einer Anspannung, als würde ich ein Verbrechen planen. Oder Hochverrat. Innerlich brodle ich, doch ich muss mich bis zur Nacht gedulden, bis alle schlafen und ich unbemerkt zu Mats gelangen kann. Vielleicht erhalte ich bei der Gelegenheit endlich Antworten auf die Fragen, die mich seit einem halben Jahr quälen.

***

»Aua!«, beschwere ich mich und winde mich unter Katriinas Berührungen, als sie meinen Körper abtastet.

»Wenn du nicht still hältst …«, schimpft sie und bindet mir ein feuchtes Tuch um den Knöchel. Dabei streifen ihre Fingerspitzen über meine Haut und entsenden Kälte, die sich wohltuend über den Schmerz legt und ihn verblassen lässt. Vorsichtig breitet sie einen nassen Lappen auf meiner Schulter aus, die von Blutergüssen übersät ist. Kurz zucke ich zusammen, ehe das heiße Pochen nachlässt. Im nächsten Augenblick legt mir Katriina die Hände um das Gesicht und begutachtet erst mein aufgeschrammtes Kinn und dann den Kopf. »Du hattest Glück, Aila«, murmelt sie vor sich hin. »Es hätte dich schlimmer treffen können als ein verletzter Knöchel, Schrammen und eine Beule am Hinterkopf.«

»Weshalb kennst du dich eigentlich so gut mit Verletzungen aus, Katriina?«, fragt Meri. Aufmerksam beobachtet sie uns.

Für einen Augenblick huscht ein trauriger Ausdruck über Katriinas Gesicht, bevor sie durchatmet und sich zu einem Lächeln zwingt. »Meine Mutter war eine Heilerin. Ich habe viel von ihr gelernt.« Langsam gleiten ihre Hände von meinen Wangen. Ihr Blick geht durch mich hindurch und die Mundwinkel sinken nach unten.

»Was ist mit deiner Mutter geschehen?«, fragt Meri zögernd und legt ihr tröstend die Hand auf den Unterarm.

»Sie starb, als die Kirottu unser Dorf angriffen.« Tränen schimmern in ihren Augen. »Es waren doch nur Bauern und einfache Leute. Die Männer, die sich den Soldaten mit Mistgabeln bewaffnet entgegengestellt haben, verloren alle ihr Leben«, sagt sie mit brüchiger Stimme. Sie senkt den Blick, als eine Träne ihre Wange hinab kullert, und starrt auf die Hände, die sie auf dem Schoß ausgebreitet hat. »Meine Mutter hat sich geopfert, damit ich in den Wald fliehen konnte, als die Kirottu zugeschlagen haben. Weil sie so mutig war, lebe ich noch.«

Ich nehme ihre Hand und streiche mit dem Daumen über die Haut, um ihr Trost zu schenken.

»Wir danken deiner Mutter für ihr Opfer«, sagt Meri und ergreift Katriinas und meine freie Hand. »Wegen ihr haben wir dich heute in unserer Mitte.«

Mein Herz schlägt in gemächlicherem Takt, als ich die Verbindung zwischen uns wahrnehme. An den Handflächen entsteht Wärme, die bis in die Arme ausstrahlt und die Schmerzen lindert. Ich fühle mich so geborgen und gemocht. Obwohl wir drei uns zu wenig kennen, ahne ich, dass ich den beiden vertrauen kann und sie mir beistehen. Mich erfüllt eine Sicherheit, die ich bisher nur von meiner Familie vermittelt bekommen habe. Ohne es erklären zu können, spüre ich, dass wir drei zusammengehören. Es ist, als wäre es nie anders gewesen.

Auf einmal zuckt Meri und lässt unsere Hände los, als hätte sie sich daran verbrannt. Ihre Augen weiten sich, während sie erst Katriina und dann mich entgeistert ansieht. Ihre Reaktion beunruhigt mich, ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Was hat sie denn?

Schweigend starrt sie auf ihre Hände und runzelt dabei die Stirn. Weder Katriina noch ich sagen ein Wort. Stattdessen warten wir ab, in der Hoffnung, Meri würde ihr Verhalten erklären. Doch sie sieht bloß auf und mustert uns mit gekräuselten Lippen. Ihr Blick durchbohrt mich regelrecht, weshalb Gänsehaut über meine Arme kriecht. Was würde ich nicht geben, um ihre Gedanken zu kennen.

Es raschelt am Eingang, kurz darauf wird die Zeltplane beiseitegezogen und der Medicus streckt den Kopf herein. »Katriina, würdest du mir Ailas Heilsalbe herstellen?« Sein Blick fällt auf mich und er räuspert sich beschämt. Schnell streife ich mir das Kleid über die entblößten Schultern. »Du musst dich gewiss von deinen Verletzungen erholen«, sagt er zu mir.

Hilflos sieht mich Katriina an. »Du verrätst mir doch, wie man die Salbe herstellt, oder?« Seit Neuestem geht sie dem Medicus bei der Versorgung der Kranken zur Hand, doch meine Heilsalbe habe ich bisher ausschließlich selbst hergestellt.

»Natürlich. Aber so schwer verletzt bin ich nicht«, antworte ich ihr und wende mich dem Medicus zu. »Für wen ist sie denn?«

»Für den Kronprinzen.«

Vor dem inneren Auge sehe ich den Schnitt in seinem Rücken vor mir. Er entfacht mein Gewissen von Neuem. »Er wurde wegen mir verletzt«, murmle ich und schlucke den bitteren Geschmack der Schuld hinunter. »Ich kümmere mich selbst darum.«

Dankbar nickt der Medicus und zieht sich aus dem Zelt zurück.

Ungelenk erhebe ich mich; mein Körper zwickt bei jeder Bewegung. Zu meinem Erstaunen kann ich den Knöchel jedoch wieder belasten. »Nun, ich sollte dann wohl …«, stammle ich und breche ab, um nach den passenden Worten zu suchen. Eigentlich will ich wissen, was Meris Reaktion zu bedeuten hat. So viele Fragen liegen mir auf die Zunge, doch die Verantwortung Jari von Valokirkas gegenüber treibt mich fort.

»Dich um den Kronprinzen kümmern?«, beendet Meri meinen Satz.

»Und ich sollte dringend nach Otso sehen«, sagt Katriina. Flink ist sie beim Ausgang und huscht in die Dunkelheit hinaus.

Schweigend sehe ich Meri an, die meinen Blick mit stoischer Ruhe erwidert. Kurz bin ich versucht, sie zur Rede zu stellen. Zwischen uns liegt eine Spannung, die ich als Kribbeln auf der Haut spüre und die mich nervös macht. Etwas hat sich verändert in der Art, wie sie mich ansieht. So nachdenklich und ernst. Unsere Berührung muss etwas bei ihr ausgelöst haben, das ich nicht verstehe. Schwer schlucke ich. Warum pulsiert es in meiner Brust, während ich in Meris dunkle Augen sehe?

»Geh, Aila. Einen Prinzen lässt man nicht warten«, sagt sie und durchbricht damit die Spannung, die mich gelähmt hat.

Knapp nicke ich und husche aus dem Zelt. Im Freien reibe ich mir über die Arme, um die Gänsehaut zu verscheuchen, die mich nicht loslässt. Ich verdränge den Eindruck, vor der Konfrontation mit Meri davonzulaufen. Sie ist nur aufgeschoben, denn zuvor muss ich mich jemand anderem stellen. Dem Kronprinzen und dem schwarzen Ritter.