Ich sollte längst schlafen, doch die Gedanken lassen mir keine Ruhe. Rastlos wandere ich durch das finstere Lager, durch das ich schon so oft gestreift bin, dass ich blind einen Fuß vor den anderen setzen könnte, ohne den Pfad zwischen den Zelten zu verlassen.
Dieser verfluchte schwarze Ritter strapaziert meine Geduld. Obwohl die Männer ihm schwer zugesetzt haben, schweigt er hartnäckig. Die Qualen, die er durchlitten hat, lösen gemischte Gefühle in mir aus. Bei dem Leid, das er meinem Volk beschert hat, und all den Menschen, deren Leben er genommen hat, verdient er die Schmerzen, die er auf meinen Befehl hin ertragen musste. Mehr als einmal habe ich heute das Bedürfnis niedergerungen, ihm eigenhändig den Hals umzudrehen. Als einer von Konstantins Rittern war er beim Sturm auf das Schloss meiner Eltern dabei. Der Gedanke, sie könnten durch das Schwert dieses Kirottus gestorben sein, zieht sich wie eine glühende Klinge durch meine Brust. Dennoch spüre ich den Widerwillen gegen unsere Foltermethoden. Weil meine Menschlichkeit trotz der Dunkelheit, die sich unaufhörlich in mein Herz frisst, die Oberhand behält. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als das Wissen zu ertragen, dass ein Mensch auf mein Geheiß hin gefoltert wird. Die Gefahr, die uns im Nacken sitzt, ist zu groß. Um jeden Preis muss ich herausfinden, was Konstantin plant.
Nicht einmal seinen Namen hat uns der schwarze Ritter verraten. Der Fluch hat nicht nur seine Menschlichkeit ausgelöscht, sondern auch die Angst vor Schmerzen und dem Tod. Er ist der Ursprung allen Übels. Nicht grundlos kämpfen die Kirottu furcht- und gnadenlos. Diese verdammte Magie!
Das Gefühl der Ohnmacht schlägt seine kalten Krallen in mich und legt sich schwer über meinen Körper. In mir tobt eine Mischung aus Trauer, Wut und Verzweiflung und wühlt mich wie ein Sturm auf. Wie jedes Mal, wenn ich die Erinnerungen zulasse. An meine Eltern, die im Angesicht unbarmherziger Soldaten gestorben sind. An Lahja, die sich durch das Reich kämpft. Immer mit der Angst im Nacken, durch ihren Tod Konstantin die Macht über unsere Armee zu geben. An die Grausamkeit der Kirottu, denen ich begegnet bin.
Doch nicht nur an ihren Händen klebt Blut. Zwanghaft reibe ich die Handflächen an meinen Hosenbeinen. Im Gegensatz zu den Verfluchten geht es weder an mir noch an meinen Männern spurlos vorüber zu töten. Manchmal fühle ich mich abgestumpft und innerlich taub. Jedes Leben, das ich nehme, nährt die Dunkelheit, die sich wie ein finsterer Schleier über mein Bewusstsein legt.
Tief sauge ich die kühle Nachtluft ein und bleibe stehen, um die Augen zu schließen. Tuure hat recht. Ich muss die Dunkelheit bekämpfen, die mein Fühlen verseucht und mir die Kraft raubt. Aber ich kann nicht. Ich bin zu erschöpft, um mich gegen sie zu wehren.
Ein Rascheln schreckt mich auf. Eine Hand auf den Schwertknauf gelegt drehe ich mich um. Im letzten Augenblick entdecke ich eine Gestalt, die um die Ecke huscht und auf mich zu hält. Ein unterdrückter Aufschrei entschlüpft ihr, als sie gegen meine Brust prallt. Sofort erkenne ich die Stimme. Während sie zurück stolpert, vollführt sie eine Bewegung, die mir nur allzu bekannt vorkommt. Sie zieht ihre Waffe!
Beruhigend hebe ich beide Hände und gehe langsam zwei Schritte rückwärts. »Aila, steckt den Dolch weg«, spreche ich eindringlich auf sie ein. »Euch droht keine Gefahr.«
Sie lässt den Arm sinken, den sie in meine Richtung ausgestreckt hatte, um mich auf Abstand zu halten. »Seid Ihr es, Hoheit?«, fragt sie flüsternd.
Ich gehe auf sie zu, bis sich ihr Gesicht in der Dunkelheit abzeichnet. Mit großen Augen sieht sie mich an. Ihre Brust hebt und senkt sich unter schnellen Atemzügen. »Ich wollte Euch nicht erschrecken. Verzeiht!«, entgegne ich. Dabei ist sie in mich hineingerannt.
Hörbar stößt sie den Atem aus. »Um ein Haar hätte ich Euch meine Dolchklinge ins Herz gerammt«, wirft sie mir vor.
»So weit wäre es nicht gekommen.«
Sie verzieht mürrisch das Gesicht.
»Damit wollte ich nicht Eure Kampfkünste kleinreden. Ich wollte nur …« Bevor ich mich um Kopf und Kragen rede, breche ich ab. Weshalb bin ich so aufgeregt? Ailas Nähe beschleunigt meinen Herzschlag. »Was hat Euch mitten in der Nacht aus dem Zelt gescheucht?«, erkundige ich mich stattdessen.
Sogar im Dunkeln bemerke ich, wie sie sich versteift.
Wie taktlos von mir, so etwas zu fragen … Wahrscheinlich musste sie sich erleichtern. Was ist bloß mit mir los? Ich trete von einem Fettnäpfchen ins nächste. »Vergesst meine Frage«, sage ich schnell und knete die Hände vor dem Bauch. Unaufdringlich steigt mir Ailas Duft nach Pferden und Wildkräutern in die Nase und betört mich. Er benebelt meine Sinne, anders kann ich es nicht erklären, dass mir das Denken schwerfällt.
»Mich beschäftigt zu viel«, entgegnet sie zögerlich und lässt die Schultern mit einem Durchatmen sinken. Es wirkt, als sackte sie ein Stück weit in sich zusammen. »Der schwarze Ritter«, spricht sie seltsam tonlos. »Er bringt so viele Erinnerungen zurück, die ich vergessen will. So viele Schmerzen.« Ihre Stimme ist nur ein Wispern.
Wie ein Stich fährt es mir durchs Herz, während ich begreife, dass sie weint. Sie reibt sich mit der Hand über den Oberarm und dreht das Gesicht von mir fort. Das Sehnen, sie in die Arme zu ziehen und ihr Trost anzubieten, treibt mich einen Schritt auf sie zu. Doch ich denke an den Augenblick im Zelt zurück, als sie vor meiner Nähe zurückgewichen ist. Auf keinen Fall will ich sie noch einmal verschrecken.
»Ich verstehe Euch. Mir geht es genauso«, sage ich. Im gleichen Atemzug dränge ich die Gedanken an meine Eltern nieder, doch es ist zu spät. Die Dunkelheit ergreift schon Besitz von mir und bringt die Schuldgefühle zurück.
Aila wischt sich mit dem Handrücken über die Wangen, ehe sie mich ansieht. »Findet Ihr deshalb nicht in den Schlaf und schleicht im Lager herum, um wehrlose Frauen zu erschrecken?«
Die Worte bringen mich zum Schmunzeln und lichten die Dunkelheit ein wenig. »Das bringt mich auf andere Gedanken«, erwidere ich und lache.
Ihr Lächeln erkenne ich sogar im Dunklen. Es wärmt mich im Innern und verstärkt den Wunsch nach der Nähe und Gesellschaft, nach der ich mich sehne, sobald sie fort ist. Aila strahlt etwas aus, das an das Licht erinnert, für das wir kämpfen.
»Außerdem seid Ihr alles andere als wehrlos«, sage ich um Lockerheit bemüht. Die Gefühle berauschen mich, die bei jeder Begegnung mit ihr an Kraft gewinnen. Doch sie machen mir auch Angst. Ich habe schon einmal die Hoffnung verloren, weil sie von Schuld, Trauer und Verzweiflung verschüttet wurde. Sie darf mir nicht erneut entrissen werden.
»Ich hatte bisher nur Glück, Hoheit«, entgegnet sie und tippelt auf der Stelle. Ihr Körper erzittert, sodass sie die Arme um ihre Mitte schlingt.
Zaghaft strecke ich einen Arm aus und streiche mit der Hand über ihre Schulter. »Ihr friert.«
»Das sind bloß die Erinnerungen, die mich quälen«, wispert sie und presst die Lippen aufeinander. Trotzdem tritt sie auf mich zu und sieht mir unentwegt in die Augen.
Ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass sich etwas an ihrer Haltung mir gegenüber verändert hat. Als ließe sie endlich zu, dass ich ihr Trost anbiete. Um mich zu vergewissern, beuge ich mich vor und lege eine Hand an ihre kalte Wange. Dass sie nicht zurückweicht, löst in meiner Brust einen Knoten. »Dann lasst mich helfen, die Erinnerungen zu vertreiben. Und die Kälte«, raune ich. Unter meiner Berührung erschauert sie.
Langsam, um ihr die Gelegenheit zu geben, mich aufzuhalten, lege ich die Arme um sie und ziehe sie zu mir heran. Erst ist sie steif in meiner Umarmung, doch es dauert nicht lange und sie entspannt sich. Als sie die Arme um mich schlingt, jagt ein wohliges Ziehen durch meinen Körper. Schweigend halte ich sie und streiche mit den Fingern über ihren Rücken. Die Kälte verfliegt und weicht Wärme zwischen uns, die ich genieße.
Wohlig seufzt sie und lehnt die Wange an meine Brust, sodass ich das Kinn vorsichtig auf ihren Haarscheitel bette. Dieser Augenblick ist anders als der im Zelt. Ihr weicher Körper, der sich an meinen schmiegt, löst nicht das Verlangen aus, sie zu spüren. Diese harmlose Umarmung wühlt mich mehr auf, als es die Begierde getan hat. Weil es sich erschreckend richtig anfühlt, Aila im Arm zu halten. Das Bedürfnis, diese Frau zu schützen, komme, was wolle, tobt unbändig in mir.
Mit Bedauern spüre ich, dass sie sich von mir löst. Ich hätte die restliche Nacht so stehen und sie halten können. Sie legt eine Hand auf meine Brust, über die Stelle meines Herzens. Ohne nachzudenken, schlinge ich die Finger um ihre.
»Danke«, wispert sie.
»Wofür?«
»Dass Ihr mir Halt gebt«, antwortet sie.
Leicht lächle ich. Wenn sie wüsste, dass ich ihren Halt ebenso brauche, wie sie meinen.
Ich spanne jeglichen Muskel an, als sie sich auf die Zehenspitzen stellt und mir einen Kuss auf die Wange haucht.
»Schlaft gut, Hoheit«, flüstert sie. Ihr warmer Atem streift über meine Haut. Sie lehnt sich gegen meinen Oberkörper und verharrt einen Augenblick.
Das Ziehen in meiner Brust lässt mich erschauern. Da ist es wieder, das Verlangen, Aila nahe zu sein. Ich lege die Finger unter ihr Kinn und bringe sie mit sanftem Druck dazu, mir das Gesicht entgegenzustrecken. Während ich den Kopf neige, stößt sie sich ab und taumelt wenige Schritte von mir fort. »Ich sollte gehen«, sagt sie gehetzt.
Habe ich sie bedrängt? Schon wieder? Ich ärgere mich über meine Ungeduld und balle die Fäuste, um mit den Händen zu pumpen. Was bin ich nur für ein Narr! »Aila …«
»Gute Nacht«, unterbricht sie mich. Sie wirbelt herum und verschwindet zwischen den Zelten.
Ihr Duft hängt wie eine verlockende Erinnerung in der Luft, ihre Wärme weicht nur langsam. Noch spüre ich ihren zarten Kuss auf der Wange. Diese Frau bringt mich durcheinander. Mehr, als mir lieb ist. Dennoch genieße ich es, dass ihre Gesellschaft die Dunkelheit lichtet. Als wäre sie die Sonne, deren Strahlen hartnäckige Gewitterwolken durchdringen und die Erinnerung an einen sonnigen Tag aufleben lassen. Ich brauche mehr von diesem Licht, das mich für einen Augenblick die Schrecken des Krieges vergessen lässt. Doch Aila erscheint mir manchmal wie ein scheues Reh. Verletzbar und vorsichtig. Gleichzeitig lebt in ihr ein mutiger Wolf. Zumindest, wenn sie kämpfen oder sich gegen Tuure behaupten muss. Die Frau ist mir wirklich ein Rätsel. Trotzdem lassen mich die Gedanken, die um sie kreisen, durchatmen. Sie verdrängen die Sorgen und Selbstvorwürfe zumindest für einen Augenblick. Alleine dafür sollte ich ihr dankbar sein.