17. Kapitel

Aila

In Windeseile verbreitet sich die Neuigkeit. Überall höre ich die Leute raunen, während ich kurz nach Sonnenaufgang durch das Lager laufe. Der Gefangene des Kronprinzen ist tot. Vor dem Morgengrauen soll er gestorben sein. Obwohl ich erleichtert sein müsste, bedrückt es mich bloß. Lord Mats ist nur ein weiteres Opfer des Fluchs. Es fällt mir schwer, sein Antlitz von letzter Nacht zu vergessen. Den höhnischen Blick, mit dem er mich bedacht hat. Der Moment, als das Schwarz in den Augen verblasst ist und Sanftheit in sein Wesen zurückgekehrt ist, geht mir ebenfalls nicht aus dem Kopf. Als wäre der Fluch für einen Augenblick gewichen.

Ich werde nie herausfinden, was vergangene Nacht mit dem schwarzen Ritter geschehen ist. Daher sollte ich es darauf beruhen lassen. Trotzdem bohren sich die Fragen in mein Bewusstsein, wie auch die Erinnerung an die Begegnung mit dem Kronprinzen. Es hat gutgetan, in seiner Umarmung Halt zu finden. Das Gefühl von Geborgenheit, das er in mir ausgelöst hat, klingt noch immer in mir nach. Aber das Sehnen nach mehr Nähe hat mich so vereinnahmt, dass es mich erschreckt hat und ich geflüchtet bin. Wieder einmal. Bin ich zu feige, mich diesem Herzklopfen zu stellen, das der Kronprinz mir beschert? Nein, es ist reiner Selbstschutz.

Energisch bringe ich die Gedanken zum Schweigen, als ich Meris Zelt erreiche. Eine Gänsehaut kriecht die Arme empor und bringt meinen Nacken zum Kribbeln, während ich auf die hinabgelassene Plane am Eingang starre. Nervös zupfe ich an meinen Fingernägeln. Am liebsten würde ich um ihre Unterkunft einen großen Bogen machen, doch seit Meri mich erwischt hat, nagt die Angst an mir, dass sie dem Kronprinzen von meinem unerlaubten Besuch erzählt. Die Vorstellung, er könnte von mir enttäuscht sein und mich fortschicken, rumort in mir.

»Tritt ein, Aila!«

Beim Klang von Meris Stimme zucke ich erschrocken zusammen. Reglos starre ich auf das Zelt. Woher weiß sie, dass ich hier bin?

»Du willst doch nicht unhöflich sein und vor meinem Eingang herumlungern, oder?«, fragt sie von drinnen. Ihre Stimme klingt amüsiert.

Mein Mund ist vor Nervosität wie ausgetrocknet. Ich befürchte, dass das kommende Gespräch zu viel zwischen uns und an meiner Lage verändern wird.

»Aila …«, zieht Meri meinen Namen in die Länge. »Katriina ist auch schon hier.«

Überrascht hebe ich die Brauen. Wann hat Meri meine Freundin abgefangen? Dass sie hier ist, schenkt mir jedoch den nötigen Mut, um das Zelt zu betreten. Im Inneren begrüßt mich der Duft nach wilden Kräutern und Harz. Tücher bedecken den kargen Boden und schützen vor der Kälte, die trotz Frühling von unten heraufzieht. Das Licht ist trüb, da der Stoff nicht genügend Sonnenstrahlen hindurch lässt. Meri sitzt im Herzen des Zeltes, umgeben von Schüsseln, aus denen zarte Rauchschwaden aufsteigen. Tief atme ich den würzigen Duft ein, der mich einhüllt und mein flatterndes Herz beruhigt.

»Setz dich!« Meri weist auf den Platz zwischen ihr und Katriina.

Aufmunternd lächelt mir meine Freundin zu. Ob sie weiß, was uns erwartet?

Unter Meris aufmerksamem Blick lasse ich mich auf dem zugewiesenen Platz nieder, bevor ich aufgeregt die Hände im Schoß knete.

»Ist Katriina eingeweiht?«, fragt sie.

Stumm schüttle ich den Kopf.

»Eingeweiht? Worin?«, hakt meine Freundin nach. Mit gerunzelter Stirn sieht sie zwischen uns umher.

Tief atme ich durch. »Ich habe vergangene Nacht den Kirottu aufgesucht.«

Katriinas Augen weiten sich. »Weshalb?«

»Um mit ihm zu reden«, gestehe ich und wappne mich innerlich gegen die Vorwürfe und das Verhör.

Fassungslos sieht Katriina von mir zu Meri. »Du wusstest davon?«

»Ich habe sie dabei erwischt«, sagt sie, bevor sie mir einen ernsten Blick zuwirft. »Es wird Zeit für Antworten, findest du nicht?«

Obwohl ich mich in die Enge gedrängt fühle, erwacht in mir der Wunsch, mich den beiden anzuvertrauen. Damit ich nicht länger unter der Last des Schweigens zerbreche. »Der Kirottu war ein Freund meines Verlobten«, spreche ich die Worte schnell aus, ehe ich sie bereue. Angespannt grabe ich die Finger in die Oberschenkel, bis diese wehtun. Der Schmerz, der beim Gedanken an Rakkain in meiner Brust wütet, schnürt mir die Kehle zu. Mein Inneres fühlt sich an, als könnte es jeden Augenblick wie ein Spiegel in tausende Scherben zerspringen. Zögerlich blicke ich auf, aus Angst, Abscheu in den Gesichtern der beiden Frauen vorzufinden. Doch sie betrachten mich bloß mitfühlend.

»Dein Verlobter … Ist er tot?«, fragt Katriina.

»Nein«, wispere ich und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie mich dieses Gespräch quält. Es gelingt mir nicht, die Tränen zurückzuhalten. »Er ist verflucht.«

Katriina ergreift, ohne zu zögern, meine Hand. »Ist er ein Kirottu?«

Nickend sehe ich zu ihr auf. Sie ist bleich geworden. »Der Fluch hat seine Seele zerfressen. Ich kenne den Mann nicht mehr, der mir alles genommen hat.« Ein Kloß steckt mir im Halse fest. Kurz senke ich die Lider, wie Blitze flackern die Erinnerungen auf. Der Anblick meiner toten Eltern und meines Bruders, die ich im Hauptschlafzimmer gefunden habe, zwingen mich, die Augen wieder aufzureißen. Dennoch rieche ich den metallischen Geruch des Blutes in jener Nacht. Den Gestank des Todes, der alles andere überdeckt hat. Ich spüre die Angst nachklingen, als ich durch die Gänge meines Elternhauses geflohen bin, verfolgt von Rakkains Rufen. Ein Beben bahnt sich durch meinen Körper.

Katriinas Griff um meine Hand wird fester, um mir Halt zu schenken. »Das tut mir leid, Aila«, sagt sie mit einer Sanftheit, die sich tröstend um meine Seele legt. »Ich bin für dich da.« Flüchtig sieht sie zu Meri und ergreift auch deren Hand. »Wir sind für dich da.«

Meri nickt, während sie mir ein warmherziges Lächeln schenkt, und meine freie Hand nimmt, um unsere Finger miteinander zu verweben. Vergessen ist die Angst, sie könnte mir durch ihr Wissen schaden. Ohne es erklären zu können, spüre ich, dass sie nur mein Bestes wünscht.

Wenige Atemzüge lang genieße ich die Berührung der beiden, bis es an meinen Handflächen prickelt. Wärme entsteht dort, wo unsere Haut sich berührt, und dringt in den Körper ein. Wie sich reckende Sonnenstrahlen füllt sie mein Inneres aus. Es fühlt sich an, als würde ich in Licht baden. Diese wohlige Empfindung endet ruckartig, als sich zwischen unseren Handflächen etwas ausbreitet, das mir einen Schlag versetzt. Erschrocken ziehe ich beide Arme zurück.

Im selben Augenblick entweicht Katriina ein schriller Laut. Sie presst die Hände an den Körper und sieht mich mit großen Augen an. »Was war das?«, fragt sie. In schnellen Atemzügen hebt und senkt sich ihre Brust.

»Ich wusste es«, stößt Meri aus, beugt sich vor und stützt sich auf die Hände, um Katriina eindringlich zu betrachten. »In deinen Adern fließt Magie.« Sie starrt meiner Freundin in die Augen, als wollte sie den winzigsten Sprenkel in den blauen Iriden erkunden.

Wie geschlagen zuckt Katriina zusammen, bevor sie angespannt die Schultern hochzieht. Ich erwarte bereits, dass sie aufspringt, doch dann stößt sie geräuschvoll den Atem aus und senkt den Blick. »Mein Vater war ein Zauberer. Er starb, als Mutter mit mir schwanger war.« Traurig presst sie die Lippen aufeinander. »Mir war nicht bewusst, dass ich seine Magie geerbt habe.«

»Das hast du. Und das erklärt auch unsere Verbindung«, sagt Meri.

Ihre Worte hallen in meinem Kopf wider. »Warte, du bist eine Zauberin?« Fassungslos starre ich die Frau mit den dunklen Locken an.

»Wir sind welche« entgegnet Meri ernst und sieht zu Katriina. »Welche der letzten.«

Mit großen Augen mustere ich die beiden. Nie zuvor bin ich jemandem begegnet, der Magie in sich trägt.

Meri wendet sich mir zu. »Wir, Aila«, betont sie. Ihr durchdringender Blick beschleunigt meinen Herzschlag.

Druck wallt auf und steigt mir in den Kopf. Ich versuche zu verstehen, was sie da andeutet. »Weder meine Mutter noch mein Vater waren magisch begabt. Du irrst dich.« Die Unruhe macht es mir schwer, still zu sitzen. In meinem Inneren bringt sie alles zum Kribbeln. Ich würde gerne aufspringen und im Zelt herumlaufen. Oder schreien. Wie kommt Meri auf den Gedanken, ich wäre eine Zauberin? Meine Eltern hätten Leevi und mich eingeweiht, wenn es in unserer Familie Begabte gäbe.

»Aber du trägst Magie in dir, Aila«, sagt sie beharrlich und rutscht zu mir. Wie schon bei Katriina beugt sie sich vor, streicht über meine Wange und sieht mir tief in die Augen. »Da ist Licht in deiner Seele. Ich habe es das letzte Mal schon gespürt, aber nicht zu hoffen gewagt.«

»Licht?« Überfordert blinzle ich.

»Licht, das der Dunkelheit standhalten kann«, wispert sie und verschafft mir damit eine Gänsehaut.

»Und das den Fluch brechen könnte?«, fragt Katriina. Ihre Stimme überschlägt sich fast.

Schauder kriechen mir wellengleich den Rücken hinab, breiten sich auf meiner Haut aus und enden in einem Prickeln an den Fußsohlen.

Meri schüttelt den Kopf. »Flüche kann man für gewöhnlich nicht brechen, sie sind für die Ewigkeit bestimmt.«

Mir schwirrt der Kopf, das Atmen fällt schwer. Ich trage Magie in mir? Licht? Seit Monaten fürchte ich mich vor der Macht, die uns ins Verderben gestürzt hat, und jetzt soll ich sie selbst besitzen?

»Ich will sie nicht«, flüstere ich und sehe Meri in die Augen. »Magie bringt nur Unheil.«

»Nicht, wenn sie von Licht geführt wird. So wie unsere.«

Katriina rutscht vor und hebt die Hand, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Warte, du sagtest, für gewöhnlich können Flüche nicht gebrochen werden«, wendet sie sich an Meri.

»Mag das Licht noch so schwach sein, es wird die Dunkelheit immer durchbrechen. Nicht wahr?« Erst sieht sie zu Katriina, bis diese bestätigend nickt, dann zu mir. »Du bist dieses Licht, Aila. Womöglich bist du in der Lage, den Fluch der schwarzen Zauberin zu durchdringen.«

Die Worte bohren sich tief in mein Herz und lassen es schmerzen. Tränen verschleiern die Sicht. »Ich kann kein Licht in mir tragen, das Flüche bricht. Meine Familie würde noch leben, wäre das wahr.«

Bekümmert verzieht Meri das Gesicht. »Wie sollst du deine Lichtmagie einsetzen, wenn du nicht davon weißt?«, fragt sie voller Mitleid.

Getroffen von dieser Erkenntnis grabe ich die Zähne in die Unterlippe. Schlagartig wird eine Erinnerung wach. Wie im Traum durchlebe ich die vergangene Nacht noch einmal. Ebenso wie den Augenblick, als ich mich zu Lord Mats gebeugt habe und das Braun seiner Iris durch das Schwarz des Fluchs hindurchgeschimmert hat. Ich denke an seine flehenden Worte und an die Dringlichkeit in der Stimme. An das Gefühl, der Fluch wäre für einen Augenblick verblasst. Das kann nicht sein … Eine Druckwelle jagt durch mein Inneres und erschüttert mich. Langsam weiten sich meine Augen, während mir das Blut in die Wangen schießt und sie prickeln lässt. War das etwa meine Magie, die Mats’ Fluch für eine Weile durchbrochen hat?

»Du spürst es, nicht wahr?«, raunt Meri und mustert mich aufmerksam. »Es ist etwas geschehen, das dich nicht mehr loslässt.«

»Wie ist das möglich?«, frage ich.

»Magie«, sagt sie bloß, ohne nachzufragen, was ich erlebt habe. Als würde dieses eine Wort alles erklären. »Wir müssen herausfinden, was deine Lichtmagie bei den Soldaten der schwarzen Armee bewirkt.« Sie atmet tief ein und setzt eine eiserne Miene auf. »Dafür musst du dich dem Fluch stellen, Aila. Und somit einem Kirottu.«

»Was?«, fragt Katriina schrill. »Der schwarze Ritter ist tot und hier ist weit und breit sonst keiner mehr.« Entsetzt starrt sie erst Meri und dann mich an.

»Deshalb bleibt Aila nur ein Weg«, erklärt diese. Der unheilvolle, raue Ton in ihrer Stimme lässt mir die Nackenhärchen zu Berge stehen.

Sofort verstehe ich, was sie nicht ausspricht. »Ich muss das Lager verlassen.«

»Nein! Das ist zu gefährlich!«, begehrt Katriina auf. Ihr entgleisen die Gesichtszüge.

Meri legt ihr die Hand auf den Unterarm und sieht sie nach Verständnis heischend an. »Sorge dich nicht, ich weise Aila in die Grundlagen der Magie ein, damit sie nicht unvorbereitet auf einen Kirottu trifft.«

»Und wenn du dich irrst?«, fragt meine Freundin wispernd.

»Dann weiß sich Aila mit dem Schwert zu wehren.« Langsam dreht mir Meri das Gesicht zu. »Aber ich irre mich nie«, raunt sie und verschafft mir eine Gänsehaut.

Obwohl ich mich gegen den Gedanken wehre, Magie in mir zu tragen, will ich herausfinden, ob Meri recht hat. Selbst, wenn ich mich dafür in Gefahr begebe.

Kam dieses Ziehen in Lord Mats’ Nähe also von meiner Magie, die gegen den Fluch angekämpft hat? Nie zuvor habe ich so etwas gespürt. Aber ich weiß gar nicht, wie man Magie einsetzt! Und ich bin schon so vielen Kirottu begegnet, ohne dass etwas Ähnliches geschehen ist. Während sich die Gedanken überschlagen, schüttle ich stumm den Kopf. Hinter den Augen sticht es, weshalb ich sie zukneife und die Handballen darauf presse. Vor mich hingrummelnd massiere ich die Lider, doch das Stechen endet nicht. Frustriert stöhnend lasse ich die Arme sinken und starre ins Leere, während mein Herz so aufgeregt trommelt, dass ich fürchte, es könnte zerspringen.

Ist es wahr? Bin ich in der Lage, die Dunkelheit in der Seele der Kirottu zu durchbrechen?

Träge sehe ich zu Meri, als sie eine Hand auf meinen Oberschenkel legt. Ich fühle mich von den Fragen und Gefühlen, die auf mich einströmen, wie benommen.

»Du wirst es noch akzeptieren«, sagt sie sanft und betrachtet mich mit einem nachsichtigen Lächeln. »Bei Sonnenaufgang bricht der Kronprinz mit ein paar Männern zu einem Streifzug in die umliegenden Dörfer im Tal auf. Ich rede mit Tuure. Mir fällt bestimmt ein Vorwand ein, weshalb er dich mitschicken muss.«

Endlich tauche ich aus dem Gefühl auf, erschlagen von Meris Vermutung zu sein, und schüttle den Kopf. »Er wird deine Bitte ablehnen, er sieht in mir eine Last für den Trupp. Ich bin kein Soldat.«

»Und wenn ich ihm von unserer Vermutung …«

»Nein!«, unterbreche ich Meri etwas zu laut, sodass sie zusammenzuckt. In einer beschwichtigenden Geste hebe ich die Hände. »Bevor ich nicht weiß, ob du recht hast, bleibt dein Verdacht unter uns. Bitte.«

Ohne zu zögern, nickt sie.

»Lass mich mit dem Kronprinzen sprechen«, sage ich. »Wenn ich jemanden überzeugen muss, dann ihn.«

»Und wenn das jemand schafft, dann du«, erwidert sie und lächelt aufmunternd.

Für einen Augenblick verfallen wir in Schweigen, während ich mich frage, ob hinter ihren Worten mehr steckt. Dann ergreift Katriina das Wort.

»Wenn Aila wirklich den Fluch eines Kirottus brechen kann, wie hilft uns das in diesem Krieg? Es sind Tausende Soldaten, die in der schwarzen Armee mit marschieren.«

»Das finden wir heraus, wenn es so weit ist«, antwortet Meri.

Ihre Worte sind wenig ermutigend. Und sie machen mir Angst. Trotzdem glimmt in mir auf einmal ein Funke Hoffnung. Er ist wie ein zarter Schimmer am Nachthimmel, der hoffen lässt, dass die Sonne irgendwann wieder aufgeht.