Von einem Bein trete ich auf das andere, während ich vor der Koppel warte. Die Sonne versinkt hinter den Gipfeln und die Nacht streckt ihre schattenhaften Fänge aus, die das Lager verschlucken.
Ich bin nervös. Nicht nur, weil ich den Kronprinzen davon überzeugen muss, mich mitzunehmen. Ihn nach der Begegnung letzte Nacht zu sehen, versetzt mich in Aufruhr. Was muss er von mir denken, nachdem ich erst seine Nähe suche und dann ohne Erklärung weglaufe? Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Aber eins weiß ich: Dieser Mann ist eine Gefahr für meinen Selbstschutz. Und ich bin so dumm und suche auch noch seine Nähe.
Leidvoll seufze ich und stütze das Kinn auf die Hände, die ich um das gespannte Seil des Pferches geschlungen habe. Ich werde meine Bitte vortragen und dann gehen. Es ist für uns beide besser, wenn ich es nicht mehr zu einer heiklen Situation kommen lasse. Der Gedanke löst ein Bedauern aus, das ich nicht fühlen will. Angestrengt beobachte ich die Pferde, in der Hoffnung, sie würden mich von diesen verräterischen Gefühlen ablenken. Doch es funktioniert nicht. Mein Blick fällt auf Aatami und die Gedanken fliegen wie von selbst zum Kronprinzen zurück.
Jeden Abend kommt er hierher, bevor es zu dunkel ist, um nach seinem Wallach zu sehen. Hoffentlich ändert er nicht gerade heute seine Gewohnheiten.
»Aila?« Prompt ertönt hinter mir seine Stimme.
Bei ihrem Klang versteife ich mich kurz, ehe ich mich langsam zu ihm umdrehe. »Hoheit«, sage ich und neige den Kopf. Bei seinem Anblick rieselt ein wohliger Schauer über meinen Hinterkopf. Einzelne Locken hängen ihm in die Stirn und betonen die dunkelbraunen Augen, aus denen er mich aufmerksam mustert. Der Gedanke, wie nah wir uns vergangene Nacht gekommen sind, lässt meine Wangen prickeln. Hoffentlich bemerkt er das verräterische Glühen im dämmernden Licht nicht.
»Es wird schon dunkel. Was macht Ihr noch hier draußen?«, fragt er. Mit jedem Schritt, den er auf mich zu kommt, pocht mein Herz lauter, bis ich fürchte, er könnte es ebenfalls hören.
Aufgeregt nestle ich am Rock herum, weshalb ich die Arme hinter dem Rücken verschränke, um Ruhe zu bewahren. »Ich habe auf Euch gewartet.«
»Habt Ihr?« Das Raunen, das in seiner Stimme mitschwingt, jagt ein Prickeln über meine Haut. Vergeblich versuche ich, den Augenblick von vergangener Nacht zu verdrängen, als wir uns so nah waren. Als es mir ein Leichtes gewesen wäre, ihn zu küssen. Meine Lippen kribbeln in Erinnerung an seinen Atem auf der Haut. Energisch presse ich sie aufeinander. Ich bin nicht hier, um die Erinnerungen aufleben zu lassen! Oder um mich und mein Herz ein weiteres Mal so in Gefahr zu bringen.
Das Braun seiner Augen verdunkelt sich. In seiner Mimik flammt Sehnsucht auf, die meinen Willen ins Wanken bringt. Sie löst in meiner Brust abermals dieses Flattern aus, das mein Gleichgewicht bedroht.
Vielleicht sollte ich den Blick abwenden und mich darauf besinnen, weshalb ich hier bin. Doch ich kann nicht. Das Flattern löst sich aus der Brust und wandert durch den Körper. Es bringt jede Faser zum Schwingen. Mein Herz macht einen Satz, als er einen weiteren Schritt auf mich zu tritt, bis uns nicht einmal mehr eine Armlänge voneinander trennt.
»Ich wollte Euch schon den ganzen Tag aufsuchen«, sagt er und atmet hörbar durch. »Unsere Begegnung letzte Nacht … Wenn ich Euch bedrängt haben sollte …«
»Hoheit«, unterbreche ich ihn schnell und schüttle den Kopf. »Ihr müsst nicht …«
»Das lag nicht in meiner Absicht«, spricht er weiter. »Ich bin kein Mann, der den Schmerz einer Dame ausnutzt.«
»Das denke ich auch nicht über Euch«, entgegne ich kopfschüttelnd. Weshalb ist es ihm wichtig, was ich von ihm halte? Ich bin bloß eine von vielen in diesem Lager. Dass ihm dennoch daran liegt, berührt mich mehr, als mir lieb ist.
Beruhigt erwidert er mein Lächeln. Kurz betrachtet er mich, bis er an mir vorbei zum Zaun geht und die Arme auf einem der Pfosten verschränkt.
Erleichtert über den Abstand zu ihm lasse ich die Schultern sinken.
Er stößt einen lauten Pfiff aus. Es vergeht kaum ein Atemzug, dann streckt Aatami den Kopf in unsere Richtung und trabt mit erhobenem Schweif und schwungvollen Bewegungen auf uns zu. Am Zaun angekommen schmiegt er den Kopf in die Handfläche des Kronprinzen. Wohlige Wärme breitet sich in meinem Inneren aus, während ich Jari von Valokirkas beobachte, wie er dem Rappen die Stirn krault. Das Strahlen in seinen Augen bannt mich.
Ertappt zucke ich zusammen, als er mir das Gesicht zu dreht. Er muss bemerkt haben, dass ich ihn anstarre. Sein Lächeln wird zu einem wissenden Grinsen, das meinen Herzschlag abermals beschleunigt.
»Wie geht es Eurem Rücken?«, frage ich schnell, um die Nervosität zu überspielen.
Seine Hand gleitet von Aatamis Kopf, ehe er sich mir vollends zuwendet. »Nach Eurer fürsorglichen Behandlung schon viel besser. Danke.« Tief sieht er mir in die Augen. Mit diesem ernsten, forschen Blick löst er Wellen aus, die kraftvoll durch mein Inneres wandern und jede Faser zum Schwingen bringen. Leicht beugt er sich zu mir, eine Hand um den Zaun geschlungen.
Tief atme ich ein, um die Aufregung zu bändigen, die in meiner Brust tobt. Ich sollte schleunigst meine Bitte vortragen und dann Abstand zu dem Mann suchen, in dessen Nähe mir der Vorsatz, mein Herz zu schützen, plötzlich so sinnlos erscheint.
»Weshalb habt Ihr auf mich gewartet, Aila?«, fragt er mit diesem samtigen Klang in der Stimme, der an meiner Beherrschung kratzt.
»Ich will Euch um etwas bitten, Hoheit.«
»Jari.«
»Wie?« Verwirrt runzle ich die Brauen.
Er lächelt und zieht dabei einen Mundwinkel höher als den anderen. Der Anblick jagt angenehme Schauer über meine Schulterblätter. »Es wäre mir lieber, wenn wir die Etikette sein lassen. Nenn mich bitte Jari.«
»Jari«, sage ich nickend und wiederhole seinen Namen in Gedanken. Er klingt zu verführerisch. »In Tummavarjo wäre es undenkbar gewesen …« Erschrocken verstumme ich. Hitze schießt mir in den Kopf und lässt mich schwindeln. Am liebsten würde ich mir auf die Zunge beißen. Wie konnte ich so leichtsinnig sein? Meine Augen weiten sich vor Schreck, während Jari den Kopf schief legt und mich mit hochgezogenen Brauen mustert.
»Tummavarjo?« Sein Blick brennt auf mir.
Steif weiche ich von ihm zurück, doch er greift mich am Handgelenk und verhindert meine Flucht.
»Du stammst aus Tummavarjo?«, hakt er nach.
Zittrig atme ich ein. So lange war ich vorsichtig und habe versucht, kaum etwas über mich preiszugeben. Und jetzt verplappere ich mich bei dem Menschen, der Tummavarjo am meisten hassen dürfte. Und das nur, weil mich diese verwirrenden Gefühle nicht klar denken lassen!
Schon wieder höre ich Lord Mats’ letzte Worte. Nur, weil ich aus Tummavarjo stamme, gehöre ich nicht zu den Kirottu! Aber verstehen das auch andere?
Mein Blick huscht über die breite Brust des Kronprinzen, während ich nach Worten suche. Ich bin zu aufgewühlt, um jetzt noch glaubhaft zu lügen. Eine Faust schließt sich um mein Herz. »Schickst du mich jetzt fort?«, frage ich und sehe zu ihm auf. Ich habe Angst vor seiner Antwort. Vor seiner Ablehnung.
Verwirrt schüttelt er den Kopf. In seiner Miene finde ich nicht, wie vermutet, Hass, Abscheu oder Zorn vor. Nur Mitgefühl. »Wieso sollte ich?«
»Weil ich aus dem Reich stamme, das uns alle ins Verderben gestürzt hat.« Obwohl er gelassen wirkt, lodert die Angst in mir, aus dem Lager verbannt zu werden. Ich weiß gar nicht, wo ich hingehen sollte. Überall im Reich wüten die Kirottu.
Jari verzieht tadelnd den Mund. »Nicht Tummavarjo oder sein Volk hat uns ins Verderben gestürzt, sondern Konstantin und sein Fluch«, sagt er.
Der Klang des Namens lässt mich erschaudern, mein Brustkorb krampft plötzlich bei jedem Atemzug.
»Wie könnte ich dich für unser Unglück verantwortlich machen, Aila?«, spricht er weiter. Mit dem Daumen streicht er sanft über die Haut an meinem Handgelenk.
Seine Worte sind wie eine Klinge, die sich mitten ins Herz bohrt. Es schmerzt. Ich presse eine Hand auf die Brust, trotzdem nimmt die Qual kein Ende.
Als ich weiterhin schweige, zieht er meine Finger zu sich heran und legt sie sich auf die Brust. »Ich würde dich nie fortschicken. Das könnte ich gar nicht.« Die letzten Worte sind nur ein Wispern.
Unter der Handfläche spüre ich, wie sein Herz schneller schlägt. Sein Blick geht tiefer, bis ich denke, Jari wollte meine Seele ergründen. Alles in mir ist in Aufruhr. Ich sollte glücklich sein, dass es für ihn nicht von Bedeutung ist, woher ich stamme. Doch das Gefühlschaos überfordert mich. Die letzten Monate haben mich Angst, Hass und Trauer beherrscht. Es ist absurd, aber ich fühle mich schuldig, dass mein Herz in Jaris Nähe schneller schlägt. Als dürfte ich solch wundervolle Gefühle nicht mehr empfinden. Nicht nach dem, was geschehen ist.
Die Sehnsucht nach seiner Nähe ist jedoch so überwältigend, dass sie mich überrollt. Es zieht mich rettungslos zu Jari hin, weshalb ich den Abstand zu ihm verringere und mich gegen ihn lehne. In schweren Atemzügen hebt und senkt sich seine Brust. Durch den Stoff der Kleidung spüre ich seine Wärme. Seinen festen Körper.
Mit den Fingerspitzen streicht er mir über die Schläfe und vergräbt sie in meinem Haar. Wohlige Schauer wandern daraufhin über die Kopfhaut und den Nacken hinab.
Jaris Duft nach Leder und Pferden wirkt genauso heilend auf mich wie die Nähe der Tiere. Der Schmerz der vergangenen Monate verblasst für einen Augenblick. Es ist verführerisch zu denken, ich könnte nichts anderes mehr fühlen als das aufregende Herzklopfen in der Nähe dieses Mannes.
Wie schafft Jari es bloß, mich so mühelos aus dem Gleichgewicht zu bringen und meine eisernen Vorsätze absurd erscheinen zu lassen?
Um ihm in die Augen zu sehen, lege ich den Kopf in den Nacken. Meine Lippen beben. Er beugt sich hinab, bis ich mich nur auf die Zehenspitzen stellen müsste, um ihn zu küssen. Es ist doch nur Nähe. Warum will ich sie mir verbieten? Es wäre nichts weiter als ein Kuss und ich sehne mich so schmerzhaft danach, Jaris Lippen auf meinen zu spüren. Wohlig kribbelt die Haut an den Stellen, auf die sein Atem trifft, während er sich zu mir beugt. Erschauernd schließe ich die Augen. Das Herz hüpft aufgeregt, als er mit den Lippen über meine Wange streift und sich dem Mund nähert. Doch die Vernunft lässt mir keine Ruhe. Wäre es wirklich nur ein Kuss? Was würde ich empfinden? Wen würde ich vor dem inneren Auge sehen? Nur ein Mann kam mir bisher so nah … Der Gedanke schießt wie ein eiskalter Pfeil durch meine Brust und beschwört Bilder aus vergangenen Tagen herauf, die mir das Herz zerreißen. Ich kann in Jaris Armen nicht vergessen, welches Leid mir angetan wurde. Zu tief sitzen die Erinnerungen. Der Schmerz. Und die Angst, dass die Dunkelheit mir ein weiteres Mal jeden nimmt, der mir nahesteht.
Unweigerlich verkrampfen meine Muskeln. Ich schließe die Hand an seiner Brust zur Faust und versteife mich.
Jaris Atem kitzelt auf meinen Lippen, dann richtet er sich wieder auf. Als ich die Augen öffne, begegne ich seinem besorgten Blick.
»Wenn ich lieber auf Abstand gehen …«
»Meine Bitte«, sage ich rasch, um ihn zu unterbrechen. Ich will seine Worte nicht hören. Will nicht darauf antworten müssen. Weil ich mich hin- und hergerissen fühle zwischen diesem Sehnen und der Angst vor den Folgen, wenn ich dem Verlangen nachgebe.
»Deine Bitte?« Er runzelt die Brauen, sein Blick huscht über mein Gesicht.
Übertrieben straffe ich die Schultern, ehe ich von ihm zurückweiche. Seine Finger gleiten von meinem Handgelenk, die Wärme seines Körpers weicht. Die Abendluft fühlt sich eisig auf der Haut an. So falsch, als würde etwas fehlen. Ich muss mich dazu zwingen, ihm fest in die Augen zu sehen und das Verlangen aus meiner Miene zu verbannen. »Deswegen habe ich auf dich gewartet«, erkläre ich.
Langsam nickt er. Bevor er die Lippen aufeinanderpresst und einen ernsten Gesichtsausdruck aufsetzt, huscht ein enttäuschter Ausdruck über seine Mimik. Oder ist er verletzt? Es trifft mich, ihn so zu sehen – und der Grund dafür zu sein. »Worum willst du mich bitten?«, fragt er.
»Nimm mich mit ins Tal, wenn ihr morgen früh loszieht.«
Überrascht schüttelt er den Kopf. »Weshalb?«
»Du weißt, dass ich mit einem Schwert umgehen kann.«
»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, entgegnet er und runzelt die Stirn.
»Dann nimm mich mit. Das Lager erdrückt mich.« Das ist nicht gelogen. »Ich werde euch keine Last sein. Versprochen.«
Für einen Augenblick betrachtet er mich schweigend, während ich stumm bete, dass er einwilligt. Aus Mitleid mit mir. Ein anderer Weg, ihn zu überzeugen, fällt mir nicht ein. Endlich stößt er den Atem aus und lässt die Schultern sacken. »Ich würde dir deine Bitte gerne ausreden, aber ich kenne das Gefühl. Außerdem ahne ich, dass du stur bleiben wirst.« Ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen.
»Ich kann äußerst stur sein, wenn ich will«, sage ich in bemüht ernstem Ton, ehe ich schmunzle.
»Das kann ich mir gut vorstellen«, erwidert er. Endlich erreicht sein Lächeln die Augen, neben denen sich feine Fältchen bilden.
Erneut erwacht dieses verräterische Flattern in meinem Innern. Ich sehe Jari viel zu gerne lächeln.
Er wendet sich Aatami zu, der geduldig gewartet hat, und krault ihm den Hals. »Wir reiten kurz nach Sonnenaufgang los«, sagt er.
»Ich werde nicht zu spät sein.«
Er nickt, bevor er mir den Oberkörper zu dreht und schweigend in die Augen sieht. Abermals entsteht Spannung zwischen uns und lässt die Luft knistern. So viele unausgesprochene Worte liegen mir auf der Zunge, doch ich schlucke sie hinunter.
»Gute Nacht«, sage ich stattdessen und drehe mich von ihm fort. Wenige Schritte weit komme ich, dann spüre ich seine Finger, die sich um meine schließen. Die Berührung sendet Schauer aus, die den Arm hinaufjagen. Er taucht neben mir auf, zieht meine Hand zu sich hoch und haucht einen Kuss auf den Handrücken. Rauschend schießt das Blut durch meine Adern, während ich mit aller Kraft den Wunsch, seine Lippen auf meinen zu spüren, niederringe.
»Gute Nacht, Aila«, raunt er. Seine Finger gleiten von meiner Hand.
Ich nicke bloß stumm, aus Angst, die Stimme würde versagen, oder etwas auszusprechen, das ich später bereue. Hastig wende ich mich von ihm ab und gehe mit strammen Schritten auf das Lager zu. Ich komme mir töricht vor. Als würde ich vor Jari davonlaufen. Aber es sind meine Gefühle, vor denen ich fliehe. Ich fürchte nur, nicht schnell genug rennen zu können, damit sie mich nicht einholen.