Schmerzhaft trommelt mein Puls am Hals, während ich ins Zelt stürze. Esko wendet sich mir zu, seine Miene ist sorgenvoll verzogen. Sofort huscht mein Blick zu dem Mann, der auf einer der Truhen sitzt und vom Medicus versorgt wird. Schrammen bedecken sein Gesicht. Durch die Kleidung am rechten Oberarm zieht sich ein Riss, Blut hat die Stoffränder rot gefärbt. Wahrscheinlich wurde er von einem Pfeil gestreift.
»Hoheit«, begrüßt er mich hastig, als er mich erblickt, und will aufstehen.
Doch ich hindere ihn mit einer beschwichtigenden Geste daran. »Bleib sitzen, Jenne. Du musst gewiss erschöpft sein.« Damit er nicht zu mir aufsehen muss, gehe ich vor ihm in die Hocke. Es kostet mich Mühe, Ruhe zu bewahren. Wieso ist er hier? Ohne Lahja? »Wo ist meine Schwester?«, frage ich aufgeregt. Die Angst um sie dreht mir den Magen um. Kälte greift wie eisige Krallen nach mir und gräbt sich in die Brust.
»Kirottu«, spuckt Jenne aus und legt all seinen Hass in dieses eine Wort, das mir einen Schauder über den Rücken jagt. Er wartet, bis der Medicus ihm das Blut von der Wunde am Oberarm getupft hat und sich zurückzieht, bevor er weiterspricht. »Wir sind auf eine ihrer Barrikaden gestoßen. Es waren zu viele … Wir hatten keine Chance.« Das Sprechen raubt ihm den Atem. Nach Luft ringend presst er sich eine Hand gegen die Brust.
»Lahja?« Flehend sehe ich ihn an. »Ist sie am Leben?« Es schnürt mir die Kehle zu, nur daran zu denken, sie könnte tot sein. Durch die Brust fegt ein Schmerz wie eine heiße Klinge.
Träge schüttelt er den Kopf. »Sie hat mich fortgeschickt, um Hilfe zu holen, Hoheit.« Seine Stimme klingt gepresst und ist durchwachsen von Schuld und Widerwillen. Er bohrt den Blick in den Boden, während er angestrengt mit dem Kiefer mahlt. »Ich wollte bei ihr bleiben. Aber Ihr wisst, wie stur sie ist.« Flüchtig kneift er die Augen zusammen, dann stößt er hörbar den Atem aus und sieht mich wieder an. »Unser Trupp hat sich zwischen Felsen verschanzt, daraufhin haben die Kirottu uns eingekesselt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie zu Eurer Schwester vordringen.« Gequält verzerrt sich sein Gesicht. »Wenn sie es nicht schon geschafft haben«, sagt er leise und ballt eine Faust. »Wir haben zu viele Männer im Kampf verloren. Mein Pferd ist das Schnellste unter der Sonne, Hoheit. Ich bin durch die Barrikade gebrochen und davongejagt. Die Kirottu wollen einzig die Prinzessin, daher haben sie die Verfolgung aufgegeben.«
»Bist du sicher, dass dir niemand gefolgt ist?«, vergewissere ich mich. Aufregung breitet sich pulsierend in mir aus. Wenn der feindliche Trupp herausfindet, wo sich unser Lager befindet, wird Konstantin davon erfahren. Und dann sind die Menschen hier verloren.
»Das bin ich.«
Jeder Herzschlag rüttelt mich durch. Ich schaffe es nicht, die Bilder zu verscheuchen, die mir meine Dämonen vorgaukeln. So viele Tote habe ich in diesem Krieg gesehen, dass die Fantasie ihre Gesichter mühelos mit Lahjas ersetzt. Ich presse mir die Handballen auf die Augen, doch die Bilder weichen nicht. Vielmehr benebeln sie den Verstand und wecken die Erinnerungen an den Tod meiner Eltern. Grob reibe ich mir mit den Handflächen über die Stirn und rufe mich zur Besinnung. Bevor ich keinen Beweis habe, halte ich an der Hoffnung fest, dass Lahja am Leben ist. Wenn ich mich jetzt der Verzweiflung hingebe, ist das Schicksal meiner Schwester besiegelt. Ich pumpe mit den Fäusten und sammle Kraft. Lahja verlässt sich auf mich. Unter keinen Umständen will ich sie enttäuschen. Entschlossen stehe ich auf.
Lord Jenne scheint zu ahnen, was mir durch den Kopf geht. »Eure Schwester wird bis zum letzten Atemzug kämpfen, Hoheit. Sie wird sich nie ergeben«, raunt er. Ich glaube ihm seine Worte bedingungslos. Seit Jahren ist er an Lahjas Seite, ihm vertraut sie am meisten. Dass sie ihn fortgeschickt hat, zeigt, wie dringlich ihre Lage ist.
»Lasst uns keine Zeit verlieren«, sage ich und drehe mich zu einem der Soldaten um. »Sattelt die Pferde! Wir reiten umgehend los.« Ohne zu zögern, eilt der Mann aus dem Zelt. Ich mustere Lord Jenne. Er ist zwar verletzt, doch nicht so schwer, dass er ausfallen dürfte. »Von wie vielen Kirottu sprechen wir?«, frage ich.
Sein Blick huscht abschätzend umher. »Drei Dutzend. Womöglich auch mehr.« Er erhebt sich und betastet prüfend die Wunde an seinem Arm. Nachdem er zufrieden nickt, wendet er mir das Gesicht zu. »Nehmen wir den Weg, den ich gekommen bin, erreichen wir die Barrikade vor Sonnenuntergang.« Sein Blick schweift zu Tuure, ehe er wieder auf mir liegt. »Die Route ist unwegsam und für Pferde nicht ungefährlich. Ihr solltet daher nur die fähigsten Reiter mitnehmen.«
»Aatami ist trittsicher. Mit ihm an der Spitze bewältigen wir den Weg.« Ich sehe ebenfalls zu Tuure, der neben Esko steht und mich mit ernster Miene betrachtet. »Du bist mein bester Reiter. Sammle zwei Dutzend sattelfeste Soldaten und sieh nach, ob genug Pferde fertig gemacht wurden.«
»Hoheit?« Esko tritt einen Schritt auf mich zu. »Mit Verlaub, es ist zu gefährlich, wenn Ihr mitreitet. Es könnte ein Hinterhalt sein. Ihr dürft auf keinen Fall so kurz vor der Ankunft König Lasses Euer Leben riskieren. Es war schon riskant, den Besorgungstrupp zu begleiten.« Sein Blick bohrt sich in meinen. Unnachgiebig, wie ich es von ihm kenne.
»Er hat recht«, sagt Tuure und strafft die Schultern, um sich gegen meine Widerworte zu wappnen. »Die Kirottu werden damit rechnen, dass du Lahja zu Hilfe eilst. Außerdem erwarten wir jeden Tag einen Boten von König Lasse. Wenn die Armee das Lager abbricht und ins Tal zieht, sollte ihr Prinz sie anführen.«
Ihre Einwände sind nachvollziehbar. Doch ich bin zwischen ihnen und der Sorge um Lahja hin und hergerissen. Am liebsten würde ich im Galopp lospreschen, allerdings bin ich nicht nur ein Bruder, sondern der Kronprinz dieses Reiches. Und der Anführer unserer Armee. Ich kann mein Volk nicht im Stich lassen und mein Leben riskieren, indem ich kopflos losstürme und womöglich geradewegs in eine Falle tappe.
Zittrig stoße ich den Atem aus, um den Frust nicht hinauszuschreien. Mein Körper steht unter Spannung und die Muskeln zucken. Ohne Vorwarnung überrollen mich die Schuldgefühle. Andere bringen sich in Gefahr, um meine Schwester zu retten, während ich im sicheren Lager bleibe. Ich habe meine Eltern nicht vor dem Tod bewahrt und jetzt könnte ich Lahja verlieren. Und ich bin zur Untätigkeit verdammt! Die Machtlosigkeit angesichts des Schicksals zwingt mich fast in die Knie. Zornig knirsche ich mit den Zähnen, um dem Gefühl der Ohnmacht zu entkommen.
»Jari …« Tuure betrachtet mich mit besorgt gerunzelter Stirn. Wahrscheinlich sieht er mir an, wie ich mit den Dämonen ringe. »Ich weiß, wie sehr du Lahja liebst, aber es wäre unvernünftig …«
Mit einer harschen Geste unterbreche ich ihn. »Das ist mir bewusst«, sage ich mit schneidender Stimme und sehe ihn eindringlich an. »Habt ihr bedacht, dass ihr die Pferde ohne ein Leittier wie Aatami nicht durch unwegsames Gelände bringen werdet? Sie würden scheuen und die Hänge hinabstürzen. Ihr braucht ihn, denn nur ihm folgt die Herde bedingungslos. Du weißt selbst, dass er nicht einmal dich auf sich reiten lässt, ohne zu bocken.«
Tuure strafft die Schultern, sein Gesicht erstarrt zu einer Maske. Er weiß, dass ich recht habe.
»Ich reite mit ihnen«, ertönt eine Stimme, deren Klang mich zusammenzucken lässt.
Steif drehe ich mich um und entdecke Aila im Zelteingang. Wie lange steht sie schon dort und hört zu?
»Das kommt nicht infrage!«, entgegne ich sofort.
Trotzig reckt sie das Kinn und tritt näher. »Aatami vertraut mir und ich bin mir sicher, dass er mich auf sich reiten lässt. Außerdem kann ich kämpfen und mich verteidigen. Ich werde keine Last sein.«
Angestrengt knete ich die Fäuste, um nicht vor versammelter Mannschaft die Fassung zu verlieren. Warum ist sie bloß so stur und will auf Biegen und Brechen das Lager verlassen und ihr Leben riskieren?
»Auch wenn ich es ungern zugebe, aber sie hat recht.« Überraschenderweise steht ihr Tuure zur Seite. »Wir brauchen mindestens zwei erfahrene Reiter. Außerdem …« Er sieht zu ihr hin, mustert sie und dreht sich wieder zu mir um. »Es ist die beste Gelegenheit, um herauszufinden, wie machtvoll ihre Magie ist.«
Erschrocken weiten sich Ailas Augen, als sie erst ihn und dann mich anstarrt.
»Magie?«, fragt Esko und runzelt die buschigen, weißen Brauen.
»Ich erkläre es Euch später«, speise ich ihn ab und werfe Tuure einen tadelnden Blick zu. Womöglich hätte ich ihm sagen sollen, dass niemand von Ailas Magie wissen soll. Er zeigt sich von meiner Reaktion unbeeindruckt und sieht mich mit fragend hochgezogenen Brauen an, während er auf meine Entscheidung wartet.
»Wir dürfen nicht riskieren, dass ihr etwas zustößt«, wende ich mich an ihn.
»Sei unbesorgt, ich werde nicht von ihrer Seite weichen.« Er sieht zu Aila, die daraufhin ihre Fäuste ballt.
»Ich werde ebenfalls auf sie achtgeben«, ertönt Otsos Stimme, bevor er hinter ihr vortritt.
Überrascht betrachte ich den Ritter, der nach Tagen endlich das Krankenlager verlassen hat. Nichts mehr deutet auf das Fieber hin. Die Augen besitzen einen gesunden Glanz und die Haut, die zwischen Bartstoppeln hervorblitzt, ist rosig. Erstaunlich schnell hat er sich von seinem kritischen Zustand und den schweren Wunden erholt.
»Du solltest dich noch schonen, Otso«, sage ich.
Er winkt ab. »Ich habe mich lange genug ausgeruht.« Seine Miene ist entschlossen. Der Kerl kann ebenso stur sein wie sein großer Bruder.
»Wir könnten dich wirklich gebrauchen«, richtet Tuure das Wort an ihn.
Dankbar nicke ich den beiden zu, nachdem ich akzeptiert habe, dass ich niemanden dazu zwingen kann, im Lager zu bleiben.
»Ich biete mich ebenfalls als Ailas Schutz an«, verkündet Arne.
Daraufhin schnaubt sie und funkelt die drei Männer an. »Danke, ich brauche euren Schutz nicht. Ich kann selbst auf mich achtgeben.«
Zwar will ich sie nicht bevormunden, aber sie ahnt nicht, wie sehr ich fürchte, sie zu verlieren. Ihre Körperhaltung ist abwehrend, der Blick kämpferisch. Wie auch Otso wird sie sich von mir nicht abhalten lassen, mitzureiten. Ich erinnere mich an meine Worte an Tuure. Aila ist nicht zart und zerbrechlich. Nicht wehrlos. Ich habe ihn gebeten, Vertrauen in sie zu haben. Vielleicht sollte ich endlich meine eigenen Ratschläge beherzigen.
Resignierend seufze ich. Ich muss lernen, Vertrauen in sie zu haben. In das Schicksal. Ich muss sie gehen lassen. »Rettet Lahja und geleitet sie sicher ins Lager«, bitte ich und nicke Tuure zu.
»Gewiss«, entgegnet er und senkt das Haupt in meine Richtung. Dann winkt er Jenne zu sich und wendet sich dem Ausgang zu.
Aila ist verschwunden. Ohne ein Wort des Abschieds. Enttäuscht presse ich die Lippen aufeinander. Was habe ich erwartet, nachdem sie mich vergangenen Abend von sich gestoßen hat? Ich hatte noch keine Gelegenheit, sie von der Aufrichtigkeit meiner Gefühle zu überzeugen. Vielleicht werde ich das nie können. Der Gedanke wirbelt die Dunkelheit auf, die sich auf das Licht in meiner Seele stürzt. Doch ich klammere mich an das Leuchten im Innern. Ich sollte dankbar sein, dass Aila mir die Hoffnung zurückgegeben hat. Mit ihrem Lachen, ihrer Leidenschaft für die Pferde und ihrem Sehnen nach Frieden. Mit ihrem Glauben an mich. Selbst wenn Aila nicht das Gleiche will wie ich, hüte ich ihr Licht wie einen kostbaren Schatz. Weil es mir die Kraft verleiht, gegen die Dunkelheit anzukämpfen.
»Sie werden die Prinzessin retten. Wir müssen nur etwas Vertrauen haben«, sagt Esko und legt mir eine Hand väterlich auf die Schulter.
Träge nicke ich. »Wir müssen vertrauen«, wiederhole ich. »Meinen Männern und Aila.«
»Und jetzt klärt mich bitte auf, welche Magie diese junge Frau besitzt, die Ihr in den letzten Tagen oft eingehend betrachtet«, fordert er. Esko war schon immer ein aufmerksamer Beobachter.
Ergeben seufze ich. Der Trupp ist noch nicht aufgebrochen und ich fühle mich im Lager jetzt schon eingesperrt.