28. Kapitel

Jari

Unzählige Male bin ich die letzten beiden Tage durch das Lager getigert. Getrieben von der Unruhe, die unaufhörlich wie ein Sturm durch mein Inneres fegt. Kein Gespräch hat es geschafft, mich von den Sorgen abzulenken. Die vergangene Nacht habe ich kaum ein Auge zugetan. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr rumort es in mir. Würde ich es spüren, wenn Lahja stirbt? Ich will die Vorstellung nicht zulassen, sie nie wiederzusehen.

Als wäre die Sorge um sie nicht schon quälend genug, denke ich ständig an meine Freunde und Aila. Was hat sie im Tal erwartet? Was, wenn es wirklich ein Hinterhalt gewesen ist und sie auf die schwarze Armee oder eine größere Vorhut getroffen sind? Konstantin weiß von meiner innigen Beziehung zu Lahja. Er würde sie, ohne zu zögern, als Druckmittel nutzen, um mich in die Finger zu bekommen. Ihre Unversehrtheit wäre ihm dabei egal, schließlich will er unseren Tod.

Der Verzweiflung nahe stoße ich ein gepresstes Stöhnen aus und raufe mir die Haare, während ich im Zelt herumlaufe wie ein Tier im Käfig.

»Wollt Ihr das Waffenarsenal ein weiteres Mal überprüfen, Hoheit?«, schlägt Esko vor. »Oder sollen wir die Karten durchgehen?« Er wringt die Hände vor der Brust. Es muss ihm zu schaffen machen, dass ich nicht zur Ruhe komme.

Kurz bleibe ich stehen und sehe ihn an. »Ich weiß, Ihr meint es gut. Aber ich will nur, dass sie endlich zurückkommen.«

Esko nickt bedächtig. »Gewiss, Hoheit, gewiss. Es schadet allerdings nicht, wenn Ihr Ablenkung in Banalem sucht.«

»Ich kenne die Karten mittlerweile so gut, dass ich sie blind nachzeichnen könnte, und hatte jeden noch so winzigen Dolch in unserem Besitz in der Hand«, entgegne ich und seufze.

»Vielleicht wollt Ihr lieber ausreiten?«, sinniert er und kratzt sich am Kinn.

»Dann könnte ich ihnen entgegen reiten«, murmle ich nachdenklich.

Hastig hebt Esko die Arme und reißt die Augen auf. »Vergesst meinen Vorschlag.« Die Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen, angestrengt stößt er den Atem aus. »Habt Geduld, Hoheit. Wenn ihnen nichts widerfahren ist, kehren sie gewiss bald zurück.«

»Und wenn ihnen doch etwas zugestoßen ist?« Allein daran zu denken, schnürt mir die Kehle zu.

»So leid es mir tut, aber dann könnt Ihr nichts dagegen ausrichten«, antwortet er mitfühlend.

»Wenn ich bloß …« Ich breche ab, da es vor dem Zelt laut wird. Stimmen reden durcheinander. Die Unruhe schwappt bis zu uns und beschleunigt meinen Puls. »Sie sind zurück!« Aufgeregt will ich ins Freie stürmen, da treten die Soldaten am Eingang zur Seite und jemand rennt auf mich zu.

Lahja! Vor Erleichterung treibt es mir Tränen in die Augen. Eine schwere Last fällt von mir ab und Glück durchströmt mich, als ich die Arme um sie schlinge und sie wie in unserer Kindheit hochhebe und mich mit ihr drehe. Als sie das Gesicht an meinen Hals schmiegt, spüre ich ihre Tränen auf der Haut.

»Ich habe befürchtet, dich nie wiederzusehen«, schluchzt sie.

Aus Furcht, sie könne verschwinden und nur Einbildung gewesen sein, wage ich es nicht, sie loszulassen.

Sie regt sich jedoch in meiner Umarmung und weicht zurück, um mir in die Augen zu sehen. »Mutter und Vater …« Mit bebenden Lippen verstummt sie.

Kaum merklich nicke ich. Um die Fassung zu wahren, muss ich meine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen. Eine weitere Träne stiehlt sich aus Lahjas Augenwinkel und kullert ihre Wange hinab.

»So viele haben wir in diesem Krieg verloren«, wispert sie und verzieht das Gesicht, in dem Versuch, die Trauer hinter einer Maske zu verbergen. Doch es gelingt ihr nicht. Ihre Mimik wirkt verkniffen und bemüht, Kummer liegt wie ein zarter Schleier über den Augen, die meinen so gleichen. Die ungute Ahnung erwacht so abrupt, dass sie mir den Atem raubt. »Was ist geschehen, Lahja?«, frage ich und fasse sie an den Schultern.

»Jenne ist tot«, antwortet sie und senkt den Blick.

Trauer um den Mann, den ich seit Jahren kenne, flutet mein Herz. Trauer um die verlorene Liebe meiner Schwester. Tröstend ziehe ich sie an mich und als sie sich an meine Brust schmiegt, erscheint sie mir das erste Mal im Leben wie ein zartes, verletzliches Geschöpf und nicht wie die störrische Prinzessin, die es mit allem und jedem aufnimmt. Ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um ihr gebrochenes Herz zu heilen. Leider kann weder ich noch irgendjemand anders ihr Jenne zurückbringen. Und das schmerzt mehr als jede körperliche Wunde.

Während ich das Kinn auf ihren Haarscheitel lehne, lasse ich den Blick über die Anwesenden schweifen. Innerlich spanne ich mich an. Wo ist Aila? Das Herz stolpert, bevor es trommelnd schneller schlägt. Schlaff gleiten meine Arme an Lahjas Körper hinab, dann richte ich mich auf und bohre den Blick in Tuure, der neben Otso steht und mich mit regloser Mimik betrachtet. Arne fehlt ebenfalls. Wo sind die beiden?

»Dein Herz schlägt so schnell«, haucht Lahja und sieht mit gerunzelter Stirn zu mir auf. »Du bist ganz blass.« Die Trauer in ihrer Miene wandelt sich in Sorge.

»Euer Hoheit, Lord Nestori aus dem Reiche Aurinko«, dringt Eskos Stimme dumpf zu mir.

Erst jetzt bemerke ich, dass mein Berater im Eingang steht, neben ihm ein Ritter in der hellblauen Uniform der Aurinkorer. Der Fremde verbeugt sich vor mir. In meiner Brust entsteht Druck, der mich schwerer atmen lässt. Ich würde Tuure gerne anschreien, damit er mir verrät, wo Aila und Arne sind. Die Anwesenheit von Lord Nestori zwingt mich hingegen zur Höflichkeit. Ich kann unseren Verbündeten nicht vor den Kopf stoßen. Mit verbissener Miene neige ich das Haupt vor dem Ritter, nachdem Lahja von mir zurückgewichen ist. Innerlich brodle ich.

»Eure Ankunft läutet unseren Aufbruch ein, Euer Lordschaft«, sage ich um Ruhe bemüht. Flüchtig sehe ich abermals zu Tuure, der noch immer keine Miene verzieht, was die Unruhe in mir nur befeuert. Verdammt, ich würde ihm gerne an die Gurgel gehen!

»Wir wollen ebenso wie Ihr dem Treiben des schwarzen Königs ein Ende bereiten, Euer Hoheit«, erwidert der Lord aus Aurinko und verzieht abfällig das Gesicht. »Nahe der Grenze haben wir uns schon mit Kirottu herumgeschlagen, die ganze Dörfer überfallen haben. Ich muss Euch sicher nicht von den grausamen Spuren dieser Bestien berichten, die wir vorgefunden haben.« Seine Worte gehen fast in dem Rauschen in meinen Ohren unter.

»Mit vereinten Kräften werden wir Konstantin aufhalten«, sage ich halbherzig. Es fällt mir zunehmend schwerer, mich auf das Gespräch mit ihm zu konzentrieren.

»Sein Kopf soll vor den Toren des Schlosses meiner Eltern verrotten!«, spuckt Lahja aus. Ihre ungewohnt harte Tonlage reißt mich kurz aus meiner emporsteigenden Panik. Diesen kalten und abweisenden Ausdruck habe ich noch nie in ihrem Gesicht gesehen. Es erschreckt mich, wie tief die seelischen Wunden reichen und wie sehr die Grauen der letzten Wochen sie verändert haben.

»So sei es, Euer Hoheit«, entgegnet der Lord und neigt sein Haupt ergeben vor Lahja.

Indes halte ich die Unruhe und Ungewissheit, die in meinen Eingeweiden rumoren, nicht mehr aus. Knapp nicke ich dem Lord zu. »Verzeiht, Euer Lordschaft, ich muss mich um etwas Dringliches kümmern«, sage ich und wende mich von ihm ab. Ich fühle mich fahrig, ruhelos. Die Angst um Aila und Arne klammert sich wie ein Schraubstock um meinen Brustkorb. Kalt erfüllt mich Dunkelheit und drängt Schuldgefühle an die Oberfläche des Bewusstseins.

Ich hätte Aila nicht gehen lassen dürfen. Wenn ihr etwas zugestoßen ist … Ich würde es mir nie verzeihen. Was bringt mir Vertrauen in sie und ihr Licht, wenn sie mir trotzdem entrissen wird?

»Etwas Dringlicheres als die Planung unseres Vorgehens gegen den schwarzen König?«, hakt der Lord nach. Ungläubig hebt er die Brauen.

»In diesem Augenblick ist es dringlicher, ja«, entgegne ich, während ich mich schon von ihm zurückziehe.

»Aber Hoheit …«, stammelt der Aurinkorer.

In einer entschuldigenden Geste hebe ich den Arm und wende mich Tuure zu, da betritt jemand das Zelt. Es fühlt sich an, als sackten alle Sorgen wie ein schwerer Klumpen in meinen Magen. Erleichterung durchflutet mich und lichtet die dunklen Befürchtungen. »Aila …«, hauche ich.

Sie blickt mir mit ihren großen goldenen Augen entgegen. Die Haut wirkt blass gegen die schweren, schwarzen Locken, die ihr Gesicht einrahmen. Die Schatten unter den Augen zeugen von ihrer Erschöpfung, ohne ihre Schönheit zu mildern. Das Sehnen, sie in die Arme zu ziehen, lässt sich kaum bändigen. Wenn ich es täte, würde ich sie nicht mehr loslassen.

Langsam gehe ich auf sie zu. Vergessen sind ihre Worte vor der Koppel und das Gefühl, weggestoßen zu werden. Ich kann nur daran denken, wie erleichtert ich bin, dass sie unversehrt zurückgekehrt ist.

Kurz huscht mein Blick hinter sie. Noch immer fehlt von Arne jede Spur. Die Erkenntnis setzt sich quälend in mir fest, doch ich will nicht vom Schlimmsten ausgehen und konzentriere mich wieder auf Aila.

Ihre Gesichtszüge werden weich, zaghaft lächelt sie. Stumm flehe ich, die Sehnsucht, die ich in ihren Augen vorfinde, sei keine Einbildung. Nachdem ihre Lippen meinen Namen formen, wage ich wenige, große Schritte auf sie zu und ziehe sie in die Arme. Sofort schmiegt sie sich an meine Brust.

»Den Göttern sei Dank, es geht dir gut«, murmle ich in ihr Haar. Ihr Duft nach Kräutern und Leder benebelt mich. Tief atme ich ihn ein. Wie sehr habe ich gefürchtet, ihn nie wieder zu riechen.

Sie weicht von mir zurück, eine Hand auf meiner Brust ruhend, und schenkt mir ein Lächeln. Mühelos vertreibt es die Dunkelheit in mir.

»Tuure und Otso haben ihre Aufgabe sehr ernst genommen«, sagt sie und dreht den Kopf, um den beiden Brüdern einen Blick zuzuwerfen.

Als ich ebenfalls zu ihnen sehe, schmunzeln sie zufrieden. Tuures Augen glänzen verräterisch.

»Wir schützen nicht nur die königliche Familie, sondern auch, was ihr am wichtigsten ist«, verkündet er und neigt den Kopf. Otso tut es ihm gleich.

»Das hat Lord Arne auch getan«, wispert Aila und senkt das Haupt. Mir entgeht die Trauer in ihrer Stimme und Mimik nicht.

Ein scharfer Schmerz braust durch mein Herz. Innerlich bete ich, sie würde meine Befürchtung abschmettern und darüber lachen. »Ist Arne …?« Ich presse die Lippen aufeinander und bemühe mich, vor allen die Fassung zu bewahren. Dass Aila zittrig durchatmet, raubt mir auf einen Schlag die Hoffnung. Druck jagt durch mein Inneres und lässt mich schwindeln. Für einen Moment schließe ich die Augen, während ich an Arne denke. An seine Treue und Freundschaft. Sein Verlust zieht mir den Boden unter den Füßen fort.

»Er hat sein Leben verloren, weil er mich retten wollte«, spricht sie weiter. Eine glitzernde Träne rinnt ihre Wange hinab.

Bekümmert senke ich den Kopf. Am liebsten würde ich das Kinn auf Ailas Haarscheitel stützen, um bei ihr Halt zu finden. Doch ich spüre, dass alle Blicke auf mir liegen. Von mir wird erwartet, Haltung zu bewahren. Besonders in Anwesenheit des Lords aus Aurinko.

»Arne ist ehrenvoll gestorben«, verkündet Tuure.

Als ich zu ihm schaue, sinken seine Mundwinkel traurig nach unten. Der Verlust meines Freundes hinterlässt eine weitere Narbe im Herzen. Und eine Lücke in meinem Leben. Ich habe es so satt, geliebte Menschen gehen zu lassen.

»Es tut mir leid«, sagt Aila leise und sieht mir in die Augen.

»Danke«, entgegne ich und wische ihre Träne mit dem Daumen fort. Behutsam legt sie die Finger um mein Handgelenk, ihre Berührung schenkt mir Wärme und Trost.

Als Lahja neben mir auftaucht, bildet sich ein Kloß in meinem Magen. Es ist nicht taktvoll von mir gewesen, Aila vor ihren Augen auf diese Weise zu begrüßen, nachdem sie ihren Liebsten verloren hat. Zu meinem Erstaunen verziehen sich Lahjas Lippen zu einem liebevollen Lächeln. Mit schimmernden Tränen in den Augen sieht sie zu mir auf. »Hüte das Geschenk der Liebe wie deinen kostbarsten Schatz, Jari. Zu leicht wird es einem entrissen.« Sie legt mir eine Hand auf den Unterarm, stellt sich auf die Zehenspitzen und haucht mir einen Kuss auf die Schläfe. Dann streift sie Aila zart mit den Fingern über die Wange, während sie sie liebevoll betrachtet. Tief atmet sie durch, ehe sie sich den Soldaten im Zelt zuwendet. »Sind die Herren so freundlich und führen Lord Nestori und mich durch das Lager?«, fragt sie mit fester Stimme und marschiert, ohne auf eine Erwiderung zu warten, ins Freie.

Hastig geleitet Esko den Ritter aus Aurinko und die übrigen Soldaten aus dem Zelt. Nur Tuure und Otso bleiben an Ort und Stelle. Bis die schneidende Stimme meiner Schwester von draußen ertönt.

»Tuure. Otso. Ich wollte nicht bis Sonnenuntergang warten!«

»Wie habe ich diesen Befehlston vermisst …«, murmelt Tuure. Breit grinsend schüttelt er den Kopf, bevor er seinen Bruder ins Freie scheucht. Hinter ihnen gleitet die Zeltplane hinunter.

Schritte entfernen sich und die Gespräche außerhalb des Zeltes werden leiser. Die Sonnenstrahlen, die ins Innere dringen, verlieren an Stärke, der Tag ist fast vorüber. Das einzige Licht, das ich brauche, steht vor mir und sieht mir unbeirrt in die Augen. Ailas Blick geht mir unter die Haut und sendet Schauer über den Körper. Mit jeder Faser begehre ich diese Frau, die meine Dunkelheit gelichtet und mich von den Schatten der Vergangenheit befreit hat. Und das nur mit ihrer Nähe, diesem Lächeln und dem Strahlen in den Augen, das mich bannt, wie nichts anderes es vermag. Mit ihrem Licht. Doch will sie dasselbe wie ich?

»Ich suche keine Mätresse«, sage ich. »Das ist nicht meine Art.«

»Ich weiß.« Flüchtig lächelt sie, doch die Mundwinkel zittern. Ihre Miene ändert sich, bis ich Schuld darin erkenne. »Ich wusste es die ganze Zeit«, wispert sie und weicht zurück. »Jari … Ich war nicht ehrlich zu dir.« Sie spricht so leise, dass ich sie kaum verstehe. Unwohl zieht sie die Schultern hoch und schlingt die Arme um ihre Mitte. Mit Schrecken spüre ich, wie sie mir entgleitet. Es versetzt mir einen Stich, dass sie sich von mir abwendet. Flüchtet sie schon wieder vor mir?

Schnell will ich nach ihr greifen, lasse den Arm jedoch auf halbem Weg wieder sinken. Ich kann und will sie zu nichts zwingen. Will sie nicht darum bitten zu bleiben, wenn es sie von mir forttreibt. Es schmerzt, aber ich werde sie gehen lassen. Wenn das ihr Wunsch ist.