4. Kapitel

„Ihr habt niemanden gesehen?“, fragte Königin Nima, während sie eine Pfanne über dem offenen Feuer erhitzte.

„Nein, Euer Majestät.“ Winifred benutzte ihr Messer, um die sechs Fische auszunehmen, die sie in dem kleinen Bach gefangen hatte, der durch ihr Tal floss.

„Keine Menschenseele“, ergänzte Freya und nahm ihrer Schwester die Fische ab, um sie zu entschuppen.

Neona warf Zhan einen nervösen Blick zu. Er hatte es sich auf dem Gras bequem gemacht und schnupperte mit zuckender Nase nach dem Abendessen. Tashi und ihre Mutter Lydia konnten beide mit Tieren kommunizieren, aber da sie beide nichts gesagt hatten, schien es, als hätte der Leopard, was Zoltan anging, den Mund gehalten.

„Die Eule hat gesagt, der Eindringling ist aus nördlicher Richtung gekommen.“ Nima sah Neona an. „Du hast ihn nicht gesehen?“

Neona schüttelte den Kopf und tat dann so, als wäre sie ganz darauf konzentriert, den Topf voll Reis umzurühren. Was in aller Welt machte sie da? Sie hatte ihre Mutter noch nie zuvor angelogen. Auch ihre Freundinnen nicht. Erst hatte sie sich eingeredet, dass sie sich einfach unnötige Peinlichkeit ersparen wollte. Welche von den Kriegerinnen hätte schon zugegeben, einen Eindringling gefangen genommen, ihn sogar gefesselt zu haben, nur um ihn dann wieder zu verlieren?

Es war peinlich, aber Neona musste jetzt auch zugeben, dass es noch mehr war als nur das. Zoltan zu begegnen, war etwas Besonderes gewesen, und das nicht nur wegen seiner außergewöhnlichen Kraft und seines guten Aussehens. Sie hatte noch nie erlebt, dass ein unbewaffneter Mann einen ihrer Angriffe überlebte. Er hatte sich auch in ihrem Wortgefecht als ebenbürtiger Gegner erwiesen.

Eine Herausforderung, genau das war er. Körperlich, intellektuell und sogar emotional. Sie hatte lange genug gelebt, um zu wissen, dass so etwas nur sehr selten vorkam. Es war sogar wertvoll. Deswegen wollte sie es für sich behalten, es hüten wie einen Schatz.

Aber gleichzeitig war sie auch wütend auf ihn und sich selbst. Er war einverstanden gewesen, sich mit ihr einzulassen, und dann war er weggelaufen. Warum sollte sie einen Mann beschützen, der sein Wort nicht hielt? Wie konnte er sie so küssen und dann einfach verschwinden?

Allein der Gedanke an den Kuss brachte ihre Magengrube zum Flattern. Vergiss mich nicht, hatte er geflüstert. Als könnte sie einen Mann wie Zoltan vergessen. So stark und schön. Furchtlos und edel …

Sie zuckte zusammen. Wie konnte sie sich so sehr zu einem Mann hingezogen fühlen, den sie kaum kannte? Vielleicht war es gut, dass er weggelaufen war. Sie durfte sich nicht erlauben, Gefühle für ihn zu entwickeln. Den Frauen von Beyul-La war es nicht erlaubt, Beziehungen mit Männern zu haben. Es war ein paarmal vorgekommen, jedes Mal mit verheerenden Folgen. Katastrophalen sogar.

„Ich würde mir deswegen keine Gedanken machen, Majestät“, sagte Lydia, während sie den Teig für das Fladenbrot knetete. „Wahrscheinlich nur ein Betrunkener aus dem Dorf, der eilig wieder nach Hause gelaufen ist, als ihm klar wurde, dass er sich auf unserem Gebiet befindet.“

Nima seufzte. „Wahrscheinlich.“ Sie ließ den Fisch in die heiße Pfanne gleiten.

„Wenn Ihr mögt“, sagte Tashi, „kann ich sie nächstes Mal, wenn ich im Dorf bin, daran erinnern, dass das Eindringen in unser Territorium den sicheren Tod bedeutet.“

Nima nickte. „Tu das.“

„Ja, Euer Majestät.“ Tashi neigte den Kopf und lächelte.

Neona und Winifred sahen sich an. Freddie vermutete, dass Tashi sich im Dorf einen Liebhaber genommen hatte, und dass sie sich deswegen einmal im Monat freiwillig meldete, dorthin zu gehen, um um Reis, Mehl und manchmal auch einen Ballen Stoff zu feilschen.

Wochenlang hatte Neona sich geweigert zu glauben, dass Tashi einen Dorfbewohner in ihr Bett nehmen würde. Die Männer dort waren Bauern, keine Krieger. Ihre Samen würden nicht die herausragenden Töchter produzieren, die gebraucht wurden, um dieses heilige Tal zu beschützen. Außerdem war es gefährlich, sich auf eine Beziehung zu einem Mann einzulassen. Man durfte ihnen die Geheimnisse von Beyul-La niemals anvertrauen. Deswegen waren sie dort nicht gestattet. Und es war auch nicht sinnvoll, dass die Frauen von Beyul-La ihr Tal verließen, um mit einem Mann zusammenzuleben. Neona hatte mehrere Dörfer in Tibet und Nepal gesehen, und in allen lebten die Frauen armselige, unterwürfige Leben. Kein Leben, das eine Kriegerin je für sich akzeptieren konnte.

Aber jetzt war etwas Neues passiert, was Neona ihre Fassungslosigkeit über Tashis angebliche Affäre noch einmal überdenken ließ. Zoltan hatte sie geküsst. Selbst jetzt noch kribbelten ihre Lippen bei dem Gedanken an seinen Mund auf ihrem. Wenn es diese Art von Aufregung war, die Tashi genoss, dann konnte Neona verstehen, warum man sich einen Liebhaber nehmen wollte. Sie hatte nicht gewollt, dass Zoltan aufhörte. Seine Lippen und seine Hände hatten tief in ihr eine Sehnsucht geweckt. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an das Gefühl seiner Hand auf ihrer Brust.

„Das Brot ist fertig“, verkündete Lydia und riss Neona damit wieder zurück in die Wirklichkeit. Lydia stapelte die heißen Brotfladen in einen Korb und reichte ihn herum.

Neona löffelte Reis in sechs Schüsseln, die sie herumreichte, bis jede von ihnen eine hatte. Wieder wurde sie von Trauer erfasst. In diesen Augenblicken war es schwer, sich nicht daran zu erinnern, dass noch vor zwei Wochen elf von ihnen um das Feuer gesessen hatten. Jetzt war dort, wo neben ihr ihre Schwester Minerva gesessen hatte, ein leerer Platz.

Minerva konnte aus dem Gemüse, das sie in ihrem Garten anbauten, und den Wildkräutern und den Beeren, die im Tal sprossen, köstliche Salate zubereiten. Neona hatte noch nicht versucht, die Rezepte ihrer Schwester nachzuahmen. Allein der Gedanke daran trieb ihr Tränen in die Augen.

„Hier.“ Nima schnitt den Fischen die Köpfe ab und gab sie in eine hölzerne Schüssel. „Die kannst du deiner Katze geben, Neona.“

„Danke.“ Neona brachte die Schüssel zu Zhan herüber. Glücklicherweise hatte die Königin ihr Haustier akzeptiert. Der Leopard hatte sich den Respekt von allen verdient, indem er jede Maus erlegte, die versuchte, in ihre Speisekammer zu kommen.

Neona stellte die Schüssel vor ihn hin und kraulte ihm die Ohren aus Dank dafür, dass er ihr Geheimnis bewahrt hatte.

„Der Kater beschwert sich schon wieder“, murmelte Lydia, während sie sich eine Portion Fisch in ihre Schüssel füllte.

Tashi nickte. „Er sagt, er hat den Fisch satt und möchte lieber Kaninchen.“

Neona warf ihrem Haustier einen eindringlichen Blick zu. Dieser Racker. Wollte er sie so wissen lassen, dass sein Schweigen einen Preis hatte? „Morgen gehe ich auf Kaninchenjagd, in Ordnung?“

Der Leopard stieß mit dem Kopf gegen ihre Hand und schnurrte.

Neona kehrte auf ihren Platz dicht am Feuer zurück und stocherte in ihrem Abendessen herum. Vielleicht sollte sie morgen Abend an der gleichen Stelle jagen, an der sie Zoltan begegnet war. Vielleicht würde sie ihn wiedersehen.

Vielleicht verlor sie den Verstand. Sie riss ihr Fladenbrot in zwei Stücke. Beziehungen zu Männern endeten immer auf die gleiche Weise. Katastrophal. Hätte sie nur einen Funken Verstand, würde sie sich wünschen, ihm nie wieder zu begegnen. Sie würde alles über ihn vergessen. Auch seine letzten Worte, die ihr immer wieder durch den Kopf hallten.

Vergiss mich nicht.

Nachdem er von seinem unerwarteten Abenteuer Hunger bekommen hatte, teleportierte Zoltan sich direkt in die Küche im Keller seiner Burg.

Aus dem Kühlschrank nahm er sich eine Flasche AB negativ, weil sie ihn an Neona erinnerte, und stellte sie dann in die Mikrowelle, wo ihm die Zeit auf der Uhr auffiel. Fast Mitternacht. Er war dreieinhalb Stunden fortgewesen.

Als sein Handy anfing, wieder und wieder zu läuten, sah er nach. Über dreißig verpasste Anrufe und Textnachrichten? Darum würde er sich später kümmern. Erst einmal brauchte er etwas zum Essen, eine Dusche und frische Kleidung.

Er stürzte die halbe aufgewärmte Flasche hinunter, ehe er die Treppe hinauf in die große Halle ging. Überrascht entdeckte er Elsa, die bei der Eingangstür auf- und abging. Sollte sie nicht mit ihrem Mann oben sein?

Er nahm noch einen Schluck Blut. „Alles in Ordnung?“

Keuchend wirbelte sie zu ihm herum. „Zoltan! Dir geht es gut!“

„Ja, natü…“

„Wir waren krank vor Sorge!“ Sie kam mit großen Schritten auf ihn zu.

„Ist er wieder da?“, dröhnte Howards Stimme von der Treppe, die in die Waffenkammer führte. Er musste mit seinem übermenschlichen Gehör mitbekommen haben, was seine Frau gerufen hatte. Der Wer-Bär kam von der Treppe in die große Halle gerannt.

„Guten Abend.“ Zoltan nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche. „Hattet ihr einen schönen …“

„Wo zum Teufel bist du gewesen?“ Howard kam finster blickend auf ihn zu. „Als wir vom Abendessen zurückgekommen sind, warst du nicht da! Milan war außer sich, weil er dich nirgendwo finden konnte, und du hast einige wichtige Meetings in Budapest verpasst.“

„Ach ja, richtig.“ Zoltan zuckte schuldbewusst zusammen. Er hatte den Abschluss seines letzten Immobiliengeschäfts vollkommen vergessen. Und dann war da noch das Meeting mit der Gesellschaft für Denkmalschutz. „Keine Sorge. Das lässt sich alles nachholen.“

„Darum geht es nicht!“ Howard knirschte mit den Zähnen. „Das ist meine erste Nacht hier als Sicherheitschef, und ich habe meinen Kunden verloren!“

„Ich war nicht verloren. Ich wusste genau, wo ich war.“

Ich aber nicht.“ Howard sah ihn fassungslos an. „Wir haben versucht, dich anzurufen, aber du bist nicht an dein verdammtes Telefon gegangen. Weißt du, wie peinlich es war, Angus zu berichten, dass du vermisst wirst?“

Zoltan stöhnte innerlich auf. „Du hast Angus angerufen?“

„Ja. Er war in Tiger Town in China, deswegen war er noch wach. Er ist sofort hergekommen und hat Mikhail mitgebracht. Angus und ich haben die Burg und das Gelände abgesucht. Mikhail und Milan sind in Budapest und suchen dich dort. Oh, ich muss ihnen sagen, dass es dir gut geht.“ Howard zog sein Telefon aus der Tasche und fing an zu schreiben.

„Ach du liebe Zeit!“ Elsa beugte sich dichter zu Zoltan heran. „Ist das getrocknetes Blut an deiner Stirn?“

Howard sah auf. „Wurdest du angegriffen? Ich brauche einen vollständigen Bericht.“ Er schickte seine Nachrichten ab und steckte das Telefon wieder in die Tasche.

Zoltan atmete tief durch. „Mir ist klar, dass du es gewöhnt bist, Kinder zu beschützen wie Tino und Sofia, aber lass mich dir etwas erklären. Ich bin in meiner dritten Amtszeit als Zirkelmeister von Osteuropa. Ich bin Vorsitzender einer der größten Firmen in Ungarn und Rumänien. Und ich bin fast achthundert Jahre alt. Ich erstatte niemandem Bericht.“

Howard starrte ihn ungerührt an. „Jetzt schon.“

Zoltan runzelte die Stirn. Er hätte sich nie auf so etwas einlassen sollen. Howard und seine Frau verhielten sich wie Kindermädchen. Gerade jetzt ging Elsa um ihn herum und schüttelte den Kopf, als hätte sie ihn mit der Hand in der Keksdose erwischt.

„Sieh dir deine Sachen an!“, nörgelte Elsa. „Deine Jacke ist zerrissen, und du bis voller Dreck und Laub.“

„Milan kann den Anzug in die Reinigung bringen.“ Zoltan bewegte sich auf die Haupttreppe zu. „Wenn ihr mich jetzt entschuldigt, ich möchte …“

„Ich bin noch nicht fertig.“ Howard vertrat ihm den Weg. „Wo bist du gewesen?“

„Es ist Freitagabend. Du bist nicht der Einzige, der eine Verabredung hatte.“

Howard gab einen verächtlichen Laut von sich. „Vorhin hast du gesagt, du hättest keine Freundin. Und was für eine Verabredung schlägt einem den Kopf blutig? Wenn dir ein Feind auf der Spur ist, muss ich das wissen. Wo zum Teufel bist du gewesen?“

Zoltan schluckte seine wachsende Frustration herunter. Diese Leute würden ihn ja doch nicht in Ruhe lassen, bis er geantwortet hatte. „Na schön. Ich habe … in Tibet gegen eine Amazonen-Kriegerin gekämpft.“

Elsa riss erstaunt die Augen auf.

Howard starrte ihn ein paar Sekunden lang ausdruckslos an, dann schnaubte er. „Nein, im Ernst. Wo bist du gewesen?“

„Geht es ihm gut?“, rief Angus, als er in Vampirgeschwindigkeit zur Tür hereingerast kam.

„Mit mir ist alles vollkommen in Ordnung“, verkündete Zoltan. „Es gab keinen Grund, so einen Aufriss …“

„Du warst über drei Stunden lang vermisst.“ Angus’ Kilt raschelte, als er abrupt vor Zoltan zum Stehen kam. „Und du hast Feinde. Wir hatten jedes Recht, uns Sorgen zu machen.“ Er kniff die grünen Augen zusammen. „Hast du einen Schlag auf den Kopf bekommen?“

Zoltan winkte ab. „Das heilt in meinem Todesschlaf.“

„Warum bist du nicht ans Telefon gegangen?“, fragte Angus.

„Ich war außer Reichweite. Wenn ich wieder gehe, nehme ich ein Satelliten-Telefon mit.“

Angus nickte. „Und wohin wäre das?“

Zoltan runzelte die Stirn. Aus irgendeinem Grund scheute er sich davor, es jemandem zu erzählen. Neona hatte nichts von ihm verraten, und er wollte ihr den gleichen Gefallen erweisen.

„Vorhin hat er Tibet gesagt“, murmelte Howard. „Aber ich weiß nicht, ob das ein Scherz sein sollte.“

„Tibet?“ Angus hob eine Augenbraue. „Hat das irgendetwas mit Master Han zu tun? Oder mit Russell? Ich habe gehört, du stattest ihn mit Verpflegung aus.“

„Es hat mit keinem von beiden zu tun. Es ist etwas Persönliches. Wenn ihr mich jetzt entschuldigt …“ Zoltan griff nach dem Geländer und fing an, die Haupttreppe zu erklimmen. Wenn er bloß fort von all diesen Leuten kommen konnte, würde er Zeit für sich haben, um in Ruhe an Neona denken zu können. Und seinen nächsten Schritt zu planen.

„Ist alles in Ordnung mit ihm?“, fragte Mikhail.

Und noch einmal. Zoltan drehte sich um und sah, dass Mikhail sich gerade mit Milan zusammen in die große Halle teleportiert hatte.

„Sir!“ Milan rannte auf ihn zu. „Wir haben ganz Budapest nach Ihnen abgesucht. Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht.“

„Mir geht es prächtig, wie ihr seht.“ Zoltan warf Angus einen wütenden Blick zu. „Mir war nicht klar, dass ich mir erst die Erlaubnis einholen muss, mein eigenes Haus verlassen zu dürfen.“

Mikhail grinste. „Ja, dem geht es gut. Wenn es euch nichts ausmacht, kehre ich sofort nach Moskau zurück. Pam arbeitet heute, und ich lasse sie dabei nicht gerne allein.“

Zoltan hob eine Hand. „Gute Nacht, alter Freund.“

Mikhail lachte auf. „Ich hoffe, sie war es wert.“ Er teleportierte sich davon.

„Sie?“, fragte Milan.

Zoltan zuckte mit den Achseln. „Mikhail mutmaßt nur etwas.“

Angus betrachtete die Wunde an Zoltans Schläfe. „Wenn du dich wirklich mit einem Mädchen getroffen hast, ist sie nicht sehr glücklich mit dir.“

„Nichts, womit ich nicht zurechtkomme“, murmelte Zoltan.

Angus grinste. „Dann verschwinde ich wieder. Emma wartet in London auf mich. Ich habe meine Mädchen seit drei Wochen nicht gesehen.“ Er teleportierte sich davon, um bei seiner Frau sein zu können.

„Also, ist die Amazonen-Kriegerin echt?“, fragte Howard. „War sie es, die dich angegriffen hat?“

Zoltan ignorierte seine Fragen. „Milan, in dreißig Minuten bin ich bereit für Budapest. Versuch, neue Termine für die Meetings zu machen, die ich verpasst habe. Und ruf die Agentur an, die für die Führung verantwortlich ist.“

„Ja, Sir.“ Milan zog einen kleinen Block und einen Stift aus seiner Jackentasche und machte sich Notizen. „Gibt es ein Problem mit der Führung?“

„Führung?“, fragte Howard. „Welche Führung?“

„Jeden Dienstag und Donnerstag finden hier am Nachmittag Führungen statt“, erklärte Elsa.

Howard verzog das Gesicht. „Eine Meute Fremde, die durch die Burg tobt?“

„Eine geführte Tour für Touristen“, murmelte Zoltan. „Sie sind immer mit ihrem Führer zusammen.“

„Wie kannst du dir da sicher sein?“, wollte Howard wissen. „Hat der Führer eine Ausbildung im Umgang mit Menschenmengen? Ist er bewaffnet?“

„Das wäre nicht sehr einladend, oder? Zwei ältere Frauen aus dem Dorf verdienen sich ein bisschen was dazu als Burgführer.“

„Bei den Touristen ist das sehr beliebt“, fügte Milan lächelnd hinzu. „Sie wollen alle ein echtes Vampirschloss sehen.“

„Was?“ Howard erstarrte. „Du bewirbst diesen Ort als Vampirschloss? Heiliger Vater. Das ist ein Albtraum für die Sicherheit!“

Zoltan winkte lässig ab. „Das ist alles nur Spaß. Die Touristen glauben nicht wirklich daran.“

Howard sah ihn fassungslos an. „Es braucht nur einen Spinner mit einem Pflock und der Entschlossenheit, die Burg zu durchsuchen, bis er dich gefunden hat. Und du wärest komplett schutzlos in deinem Todesschlaf …“

„In meinem Haus in Budapest“, unterbrach Zoltan ihn. „An den Tagen, an denen die Führungen stattfinden, schlafe ich nicht hier, Howard. Ich bin nicht derart alt geworden, indem ich mich wie ein Idiot verhalte.“

Howard kniff die Augen zusammen. „Wie sehen deine Sicherheitsvorkehrungen in Budapest aus?“

Zoltan stöhnte. „Ich hatte keine Ahnung, dass du so gnadenlos sein kannst.“

„Ich wusste nicht, dass du so leichtsinnig bist, wenn es um deine eigene Sicherheit geht.“ Howard verschränkte die Arme. „Aber keine Sorge. Ich bringe das alles in Ordnung.“

Zoltan fragte sich, was man tun könnte, damit der Wer-Bär in seinen Winterschlaf fiel. „Milan, sag den Führern, der Ostflügel und der Turm müssen während der Tour ausgespart werden, solange dort renoviert wird. Die Arbeiten fangen Montag an, es wird also gleich die Tour am Dienstag betroffen sein.“

„Wird gemacht.“ Milan machte sich eine Notiz und rückte dann seine Brille zurecht. „Wenn ich das anmerken dürfte, die Touristen werden sehr enttäuscht sein, die Hauptattraktion im Turm zu verpassen.“

„Ach, das erinnert mich.“ Elsa drehte sich zu Zoltan um. „Alastair macht sich Sorgen, dass der Holzkasten, den wir um die Mumie gebaut haben, nicht als Schutz ausreicht, falls eine Steinmauer einbricht. Er meint, wir sollten sie lieber an einen sicheren Ort bringen, zum Beispiel in die Kapelle. Dann kann sie auch Teil der Tour bleiben.“

Zoltan nickte. „In Ordnung, aber passt auf …“

„Augenblick mal.“ Howard hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. Fassungslos sah er erst seine Frau an, dann Zoltan. „Hier gibt es eine Mumie?“

„Oh ja.“ Milan nickte. „Eine sehr alte Mumie. Sehr beliebt bei den Touristen.“

Howard raufte sich die Haare. „Hier ist es ja verrückt.“

Zoltan lächelte ihn schief an. „Willkommen in Transsilvanien.“ Er eilte die Treppe hoch und ließ den Wer-Bären stehen, dem es endlich die Sprache verschlagen hatte.