Starr vor Staunen sah Zoltan ihr nach, wie sie den Bachlauf hinabrannte, ihr zahmer Leopard hinter ihr hertrottend.
Alles, was sie von ihm gewollt hatte, war eine Tochter? Hatte sie geplant, ihn in ihr Bett zu zerren und ihn dann nie wiederzusehen? War er nichts weiter als eine verdammte Samenbank?
Wut kochte in ihm hoch. Sie wies ihn zurück, ohne ihm eine richtige Chance gegeben zu haben. Noch wütender machte ihn der Gedanke, dass sie ihn von Anfang an zurückgewiesen hätte, wenn sie die Wahrheit wüsste. Sie hätte ihn für vollkommen nutzlos erachtet. Verdammt, wahrscheinlich hätte sie ihn umgebracht. Denn die Wahrheit lautete, sein Sperma war tot.
Verdammt noch mal. Er konnte ihr Juwelen und schöne Kleider geben. Herrenhäuser und Schlösser. Er konnte ihr Lust bereiten. Mit der Zeit hätte er ihr auch Liebe schenken können. Als Vampir konnte er ihr sogar Unsterblichkeit schenken. Aber sie wollte das eine, das er ihr nicht geben konnte. Ein Kind.
Wieder zurückgewiesen. Aus dem gleichen verdammten Grund. Mit den Jahrhunderten hatte er sich in ein paar Frauen verliebt. Die Affären hielten ein Jahr oder zwei, aber sie endeten alle auf die gleiche Weise. Der Lockruf der Unsterblichkeit verblasste, und dann verließen sie ihn jedes Mal für einen Mann, der ihnen Kinder schenken und mit ihnen gemeinsam alt werden konnte.
Vor ein paar Jahren war etwas passiert, das Zoltan die Hoffnung gegeben hatte, den Teufelskreis aus Zurückweisung durchbrechen zu können. Ein brillanter Vampir-Wissenschaftler, Roman Draganesti, hatte herausgefunden, wie man ihre Vampir-DNS in lebendiges menschliches Sperma einsetzen konnte. Jetzt zeugten die Vampire mit sterblichen Frauen Kinder wie verrückt. Theoretisch könnte er Neona also Kinder schenken, aber dazu mussten sie zu Romatech in New York reisen, wo Roman arbeitete.
Zoltan war sich nicht sicher, ob sie jemals einverstanden sein würde, so weit zu reisen, um sich künstlich befruchten zu lassen. Roman könnte ihr wahrscheinlich eine Tochter garantieren, wenn es das war, was sie wirklich wollte. Aber würde sie dann von Zoltan erwarten, sie mit ihrer Tochter zusammen zurück nach Tibet zu bringen und sie niemals wiederzusehen? Er würde weder sie noch ihr Kind im Stich lassen, verdammt noch mal!
Und warum zum Teufel konnte ihn eine Frau nicht einmal so mögen, wie er war? War es so unmöglich, ihn zu lieben, dass man ihn nur wegen der Kinder wollte, die er möglicherweise zeugen konnte? Deswegen war er in der Vergangenheit zurückgewiesen worden, aber er würde nicht einfach rumsitzen und das noch weiter mit sich machen lassen. Nicht von Neona. Sie war anders. Irgendwie war ihr Schicksal mit seinem verbunden. Sie hatten eine Verbindung. Er war sich nicht sicher, wie, aber er wusste in seinem tiefsten Inneren, dass sie zusammengehörten.
Er rannte Neona in Vampirgeschwindigkeit nach, um sie einzuholen. Sechs Fußlängen hinter ihr verlangsamte er sein Tempo zu einem schnellen Gehen.
Die Katze sah ihn an und fauchte. Verzieh dich.
Nein. Er sah Neonas Rücken finster an. „Das war es also? Du gibst einfach auf?“
Die Katze schnaufte. Tolle Idee, sie anzubrüllen. Dadurch wird sie dich mit Sicherheit mögen.
Halt den Mund, Kater. „Rede mit mir, Neona. Warum hast du plötzlich deine Meinung geändert?“
Sie ging immer weiter. „Ich habe beschlossen, dass es nicht klug wäre.“
„Quatsch. Du hast Angst. Was für eine Kriegerin bist du? Ich dachte, die wären viel mutiger.“
Sie wirbelte zu ihm herum, die geballten Fäuste erhoben und bereit, auf ihn einzuschlagen. „Ich habe dich einmal besiegt. Ich kann es wieder tun.“
„Dann mach doch!“ Er breitete die Arme aus, um sich ihr zu ergeben. „Fessel mich und fall über mich her.“
„Ich möchte das nicht mehr!“
„Warum nicht?“ Er trat näher auf sie zu. „Hast du Angst, du könntest Gefühle für mich entwickeln? Gott verhüte, dass du dich mir nahe fühlen könntest, während ich in dir bin.“
Sie holte mit der Faust nach ihm aus, er aber sprang zurück.
Oh, du machst ja prima Fortschritte, spottete der Leopard.
Verzieh dich! „Weißt du, was mich richtig sauer macht?“ Er kam noch näher. „Dass ich für dich nur eine blöde Samenbank bin. Ich bin mehr als meine Fähigkeit, Kinder zu zeugen. Und du bist auch verdammt viel mehr als deine Fähigkeit, ein Kind zu gebären!“
Sie starrte ihn blinzelnd an.
Die Katze fauchte. Hör auf, sie anzuschreien, sonst reiße ich dir den Fuß ab.
Erst nachdem ich ihn dir in den Hals gestopft habe. Zoltan warf der Katze einen genervten Blick zu, senkte dann seine Stimme und zeigte zurück auf die Hütte. „Warum gehen wir nicht wieder rein und unterhalten uns? Ich dachte, dass wir uns wirklich gut verstehen.“
Sie ließ langsam die Fäuste sinken. „Ich kann nicht mit dir … befreundet sein.“
„Warum nicht? Ich mag dich. Ich dachte, du magst mich auch. Wir haben angefangen, einander kennenzulernen. So machen Paare das, wenn …“
„Wir können kein Paar sein!“
„Doch!“ Er packte sie sanft, aber energisch bei den Schultern. „Ich gebe dich nicht auf.“
Ihr Gesicht verzerrte sich schmerzvoll. „Du musst. Für uns gibt es keine Zukunft. Männer sind hier nicht gestattet.“
„Warum nicht?“
„Sie sind nicht … notwendig.“
„Quatsch. Jede Gemeinschaft braucht ein paar Männer.“
Sie löste sich aus seinem Griff und trat zurück. „Unsere nicht.“
Er schnaubte. „Wie baut ihr eure Häuser?“ Er deutete auf die Hütte. „Hat die nicht Frederic gebaut?“
„Er hat geholfen, aber wir können das auch ohne einen Mann. Wir haben unsere eigenen Häuser alle allein gebaut.“
„Was ist mit Schutz? Ein Mann kann euch be…“
„Wir können uns selbst beschützen.“
Nicht vor einer Armee. Aber Zoltan wollte sie nicht an den Tod ihrer Schwester erinnern. Das wäre zu grausam. „Männer können noch auf viele andere Weisen nützlich sein.“
Sie sah ihn zweifelnd an. „Wirklich?“
„Natürlich. Ein Mann kann … Feuer machen.“
Sie zuckte mit den Achseln. „Das kann ich auch.“
„Ein Mann kann Nahrung für seine Familie besorgen.“
„Ich bin eine ausgezeichnete Jägerin.“
„Ein Mann kann pflügen und den Acker bestellen.“
„Wir haben einen Esel.“
Also bitte! „Einen Mann kann man nicht durch einen Esel ersetzen. Das sind sture Geschöpfe, die nicht machen, was man ihnen sagt.“
Sie hob eine Augenbraue. „Und da gibt es einen Unterschied?“
Er knirschte mit den Zähnen.
Die Katze gähnte. In diese Falle bist du mit offenen Augen getappt, Trottel.
Geh deine Flöhe kauen. Zoltan stemmte die Hände in die Hüften. „Ein Esel hat keine Hände. Er kann keine Reparaturen im Haus vornehmen. Oder kochen. Oder putzen.“
„Das kann ich alles selbst.“
„Was ist dann mit den zehn Höhepunkten, die du möchtest? Kannst du das auch selbst?“
Sie reckte ihr Kinn. „Wer sagt, dass ich das nicht schon getan habe?“
Verdammt noch mal. Zoltan zermarterte sich das Hirn. „Ich weiß! Was, wenn du ein Einmachglas nicht aufbekommst? Dafür brauchst du einen Mann!“
Jämmerlich, murmelte die Katze.
Sie zuckte mit den Achseln. „Wir benutzen keine Gläser mit Deckeln. Wir binden ein Stück Tuch um …“
„Was, wenn du eine Umarmung brauchst? Und wage es nicht, wieder von dem blöden Esel anzufangen!“
Sie lachte.
„Na also! Siehst du? Du brauchst mich, damit ich dich zum Lachen bringe.“
„Ehrlich gesagt hat der Esel mich schon einige Male zum Lachen gebracht.“
Er warf ihr einen finsteren Blick zu. „Ich werde mich nicht an einem Esel messen lassen.“
„Du musst dich überhaupt nicht messen.“ Ihre Miene wurde traurig. „Ich sollte dich nie wiedersehen.“
„Ich gebe dich nicht auf.“ Er trat dichter zu ihr. „Wer wird dir mitten in der Nacht zuhören? Mit wem wirst du deine Geheimnisse teilen?“
Sie keuchte und riss die Augen weit auf. „Hast du mich gehört?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das kannst du nicht. Ich war allein.“
„Was gehört?“
„Nichts.“ Ihr stiegen Tränen in die Augen.
„Du trauerst um deine Schwester, das verstehe ich.“
Sie schloss kurz die Augen. „Du kannst nicht verstehen, wie lange wir zusammen waren, oder wie lange wir getrennt sein werden.“
Der erste Teil des Satzes kam ihm merkwürdig vor, da er angenommen hatte, dass sie nur ungefähr zweiundzwanzig Jahre mit ihrem Zwilling verbracht haben dürfte. Doch den Rest ihres Lebens allein zu bewältigen, verursachte ihr offensichtlich Leid.
Als ihr eine Träne die Wange hinablief, strich er sie mit dem Daumen fort. „Ich könnte eine sehr lange Zeit bei dir sein. Vertrau mir.“ Er küsste sie auf die Wange.
Sie fing an zu beben. „Männern kann man nicht vertrauen.“
„Ich würde dir niemals wehtun. Vertrau mir.“ Er küsste sie auf die andere Wange.
„Männern kann man nicht …“
Er brachte sie zum Schweigen, indem er ihren Mund mit seinem verschloss. Zuerst spannte sie sich an und legte ihm die Hände gegen die Brust. Aber als er sanft und beharrlich die Lippen bewegte, vergruben ihre Finger sich langsam in seiner Jacke. Er vertiefte den Kuss, und sie öffnete ihm stöhnend ihren Mund.
Ja. Er erkundete ihren Mund und machte ihn sich zu eigen. Sie würde ihm gehören. Das war kein Fehler. Der Pfeil, dessen Herkunft ihn seit fast achthundert Jahren beschäftigte, hatte ihn zu ihr geführt. Sie kannte die Antworten, die er so lange gesucht hatte. Sie hatte sein Herz berührt, das so lange erstarrt gewesen war. Ihr Schicksal war miteinander verbunden, das spürte er in seinen Knochen. Sie war die Frau, auf die er jahrhundertelang gewartet hatte.
Er verteilte Küsse auf ihrem Gesicht und ihren Hals hinab. Ihre Atemzüge wurden schneller und aufgeregter. Sie legte ihm die Hände in den Nacken.
Er wurde hart und fragte sich, wie weit er in dieser Nacht gehen wollte. So sehr er ihren Körper auch begehrte, es schien ihm nicht fair, sie zu nehmen, solange sie glaubte, dass sie dadurch schwanger werden konnte.
Aber er konnte für sie da sein. Ihr einen der Höhepunkte schenken, auf die sie bestand. Er ließ seine Hand auf die Vorderseite ihrer Tunika gleiten und legte sie auf ihre Brust. Die Seide war so dünn, dass er spürte, wie ihre Brustspitze sich zusammenzog.
„Neona“, flüsterte er ihr ins Ohr, „lass uns in die Hütte zurückgehen.“
Sie lehnte sich zurück und sah ihn nervös an. „Jetzt bist du in Stimmung?“
„Ja.“ Er packte sie um die Hüften und zog sie fest an seine Härte.
Sie keuchte auf. „Du … du vibrierst.“
„Tue ich?“ Er sah an sich hinab und merkte dann, dass es das Satelliten-Telefon war, das in seiner Tasche vibrierte. Verdammt noch mal. Wenn er sich nicht meldete, würde Howard dann Mikhail schicken, um nach ihm zu sehen?
„Einen Augenblick nur.“ Er trat zurück und nahm das Telefon aus seiner Tasche. „Warum zur Hölle rufst du an, Howard?“
„Auch dir einen guten Abend“, knurrte Howard. „Russell ist auf einmal hier aufgetaucht und besteht darauf, mit dir zu reden. Ich habe versucht, aus ihm herauszubekommen, was das Problem ist, aber er sagt, er müsse mit dir reden. Irgendwas wegen eines Pfeils.“
Zoltan zuckte zusammen. Er würde gehen müssen. „Ich bin in ein paar Minuten da.“ Er legte auf.
Neona betrachtete neugierig das Telefon. „Du konntest mit jemandem reden, der weit weg ist?“
Hatte sie noch nie ein Telefon gesehen? „Ja.“ Er ließ es in seine Tasche gleiten. „Ich fürchte, ich muss gehen.“
Sie nickte und trat zurück. „So ist es am besten. Ich sollte mich nicht mit dir …“
„Sag das nicht.“ Er berührte ihre Schulter. „Morgen Nacht komme ich wieder. Triff dich um Mitternacht in der Hütte mit mir.“
Sie sah ihn traurig an. „Leb wohl, Zoltan.“ Sie drehte sich um und ging den Bach entlang.
Machs gut, Verlierer. Die Katze trottete ihr hinterher.
Ich werde sie gewinnen, Kater. Darauf kannst du dich verlassen. Zoltan sah ihr noch eine Minute nach und trat dann hinter einen Baum, um sich nach Hause zu teleportieren.
Neona kehrte zu der Felswand zurück, wo der Bach, der durch Beyul-La floss, als Wasserfall hinabtoste.
Die Strickleiter war noch da, aber ihr wurde klar, dass sie nicht nach Hause gehen konnte, nicht, solange sie noch ihre schönsten Kleider trug. Seufzend machte sie sich auf den Weg zurück zu Frederics Hütte, wo sie ihre Jagdkleidung gelassen hatte.
Auf ihrem Weg sah sie sich im Wald um. Wohin war Zoltan gegangen? Ins Dorf? Das war ungefähr fünfzehn Meilen entfernt, und nur ein Trampelpfad wies den Weg. Hatte er im Nachbartal ein Pferd angebunden?
Sie schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, so viel über ihn nachzudenken. Auch wenn es ihr gefallen hatte, in seinen Armen zu liegen. Wenn er sie küsste, vergaß sie alle Logik. Warum hatte sie ihn nicht länger festhalten können? Voller Schmerz wurde ihr klar, dass es doch passiert war. Sie war dabei, sich in ihn zu verlieben. Sie begehrte ihn.
Aber wie konnte sie ihn jemals haben?
Sie betrat die Hütte und ließ ihren Blick durch den Raum wandern. Dort waren das bestickte Banner, das er bewundert hatte, die Bücher, die er sich angesehen hatte, und die goldene Pralinenschachtel, die er mitgebracht hatte.
Der Tee hatte zu lange gezogen, aber sie brauchte etwas Starkes. Sie trank ihn, während sie in der Hütte aufräumte, das Feuer löschte und die goldene Schachtel unter einigen Decken in der Holztruhe versteckte. Sie spülte die Teekanne und die Tasse draußen im Bach, und als sie wieder in die Hütte zurückgekehrt war, zog sie sich ihre braune und grüne Leinentunika und die Hose dazu an. Sie verstaute ihre gute Kleidung in ihrer Tasche und schwang sie sich gemeinsam mit ihrem Köcher voller Pfeile auf den Rücken.
Sie nahm ihren Bogen und ging zurück zu der Felswand. Zhan begleitete sie den ganzen Weg.
Sie tätschelte ihm den Kopf. „Zoltan musste gehen. So ist es am besten, denke ich. Ich sollte dankbar sein, dass nicht mehr geschehen ist.“ Sie hätte ihn lieben und dann verlieren können. Sie hätte einen Sohn verlieren können. Die Beziehung jetzt zu lösen war der einzige Weg, sich diesen Kummer zu ersparen. Und warum fühlte sie sich dann so elendig traurig und allein?
Während Zhan die Felswand erklomm, indem er von einem Vorsprung zum nächsten sprang, kletterte sie die Strickleiter hinauf. Oben angekommen, zog sie die Leiter ein. Und die Tränen begannen zu fallen. Mit jedem Zug verurteilte sie sich selbst zu einem langen Leben in Einsamkeit. In ihrem Leben gab es keinen Platz für einen Mann. Zoltan mochte in der nächsten Nacht wiederkommen, aber sie würde nicht auf ihn warten. Lieber einsam leben, als zu riskieren, dass ihr das Herz in Stücke brach.
Sie ließ das Ende der Leiter zu Boden fallen. Es war aus.
„Wie war die Jagd?“, fragte eine Stimme hinter ihr.
Die Königin. Neona wischte sich schnell das Gesicht ab. „Kein Glück heute Abend, ich versuche es bei Sonnenaufgang wieder.“ Sie atmete tief durch und drehte sich zu ihrer Mutter um. „Ihr könnt gerne mitkommen, wenn Ihr mögt.“
„Ich habe morgen in der Höhle zu tun.“ Königin Nima legte den Kopf zur Seite und musterte Neona. „Hast du auf unserem Gebiet irgendjemanden gesehen?“
Ihr zog sich der Magen zusammen. „Nein.“
Nima sah auf das benachbarte Tal hinaus. „Die Eule ist auf meinem Fensterbrett gelandet und hat mir erzählt, dass sie einen Eindringling gesehen hat.“
Neona musste schlucken. Hatte ihre Mutter sie in ihrer feinsten Kleidung gesehen?
„Wir müssen besonders wachsam sein“, fuhr Nima fort, „besonders jetzt, wo wir am Anfang eines neuen Zyklus stehen.“
„Ich verstehe“, murmelte Neona.
„Ich fürchte, Lord Liao wird weiter nach unserem Tal suchen. Er hat vielleicht Spione geschickt.“ Nima drehte sich zu ihrer Tochter um. „Jeder Mann, der unser Tal oder unsere Geheimnisse entdeckt, muss hingerichtet werden.“
Neona nickte. „Ja.“
Ihre Mutter hob eine Augenbraue. „Die korrekte Antwort lautet ‚Ja, Euer Majestät‘. Glaubst du, mir wäre nicht aufgefallen, dass du seit zwei Wochen meinen Titel nicht mehr benutzt?“
Neona schluckte eine plötzliche Wut herunter. „Ich hatte andere Dinge im Kopf.“
„Den Tod deiner Schwester.“ Nima nickte. „Ich verstehe, dass du trauerst. Deswegen habe ich dich bisher für den Mangel an Respekt nicht gerügt.“
Neona schnaubte verächtlich. „Trauert Ihr etwa nicht? Minerva wurde vor unseren Augen erstochen!“
„Wir alle riskieren den Tod, wenn wir in die Schlacht ziehen. Das weißt du. Lass uns jetzt nach Hause gehen.“ Nima fing an, den Pfad ins Tal hinabzugehen.
Neona ballte die Hände zu Fäusten. Wie konnte ihre Mutter es wagen, Minervas Tod einfach so abzutun. „Wir hätten ihr Baby nie weggeben dürfen!“
Nima blieb stehen und sah sich um, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. „Das ist sieben Jahre her. Was getan ist, ist getan.“
„Für Minerva war es nie getan.“ Neona ging auf ihre Mutter zu. „Sie hat sich nie davon erholt. Wenn wir ihr Kind behalten hätten, hätte sie besser gekämpft. Dann wäre sie jetzt noch am Leben!“
Nimas Augen blitzten wütend auf. „Lass solche lächerlichen Behauptungen. Außerdem konnte ihr Sohn auf keinen Fall bleiben. Männer sind hier nicht gestattet.“
„Er war noch ein Baby! Welchen Schaden hätte er denn anrichten können?“
„Er wäre trotzdem zu einem Mann herangewachsen.“
Neona deutete auf das benachbarte Tal. „Ihr habt erlaubt, dass Frederic hier in der Nähe bleibt.“
„Aber er war nie im Tal gestattet.“ Nima machte ein angewidertes Geräusch. „Er hatte zwei Töchter mit Calliope und hat sie trotzdem verlassen. Ich hätte ihn umbringen sollen, als ich die Gelegenheit hatte.“
„Das hätte seiner Frau und seinen Töchtern sicher gefallen.“
„Spar dir den Sarkasmus“, zischte Nima. „Wir alle kennen die Regeln und wissen, warum sie bestehen. Deine Unverschämtheit entsetzt mich, aber ich will sie dieses eine Mal tolerieren, da du dich in Trauer befindest.“
Zu gütig von dir, verkniff Neona sich zu sagen. Ihre Wut wuchs noch mehr, als sie zusah, wie ihre Mutter sich umdrehte und fortging. „Was ist mit meinem Vater passiert?“
Nima blieb wie erstarrt stehen. „Du gehst zu weit. Ich habe dir verboten, je von ihm zu sprechen.“
Neona ging zu ihr. „Habt Ihr ihn umgebracht?“
Ihre Mutter drehte sich zu ihr um. „Heuchelei steht dir nicht. Wir sind Kriegerinnen.“ Sie trat näher. „Wie viele Männer hast du umgebracht, Neona?“
„Im Gemenge der Schlacht ist es Selbstschutz. Wir müssen töten, um zu überleben.“
Nima verzog spöttisch lächelnd den Mund. „Und warum denkst du, dein Vater hätte sich nicht gewehrt?“
Neona zog sich der Magen zusammen. Männer in der Schlacht zu töten war das eine, aber einen Mann umzubringen, nachdem man bei ihm gelegen hatte?
Die Königin tätschelte Neona die Wange. „Reiß dich zusammen. Wichtig ist einzig und allein, dass wir unsere heilige Pflicht erfüllen.“
„Minerva war wichtig.“
Nima schloss kurz schmerzerfüllt die Augen. „Am Ende war sie schwach. Sieh zu, dass es dir nicht auch so ergeht.“ Sie drehte sich um und ging den Pfad ins Tal hinab.
Neona blieb zurück. Tränen stachen ihr in den Augen. Zhan stieß mit dem Kopf gegen ihr Bein, und sie hockte sich neben ihn.
„Heilige Pflicht“, murmelte sie. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gehört, dass nichts wichtig war, außer das Tal und seine Geheimnisse zu beschützen. „Minerva war wichtig. Ihr Sohn war wichtig.“
Und Zoltan war wichtig. Auch wenn es höllisch wehtat, durfte sie ihn nicht wiedersehen. Er kam Beyul-La schon viel zu nahe. Nicht nur ihr Herz war einem Risiko ausgesetzt. Sein Leben wäre vorbei, wenn man ihn entdeckte.
Sie umarmte Zhan. „Liebe ist wichtig.“