8. Kapitel

Als Zoltan sich in die Küche teleportierte, fand er dort Russell, der mit Howard am Tisch saß.

Zwischen dem Ex-Marine und dem Wer-Bären herrschte angestrengtes Schweigen. Eine große Schachtel Donuts stand auf dem Tisch, und Howard war langsam dabei, sie zu vernichten. Vor Russell stand eine offene Flasche Blissky, eine Mischung aus synthetischem Blut und Whisky.

„Ah, da bist du ja. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich mich einfach selbst bedient habe.“ Russell füllte sich sein Glas und goss ein weiteres für Zoltan ein.

„Was ist los?“ Zoltan setzte sich Russell gegenüber.

„Willst du, dass er mithört?“ Russell zeigte mit dem Kopf auf Howard.

„Ich werde nicht gehen.“ Howard griff nach einem weiteren Donut.

„Was mithört?“, fragte Zoltan. „Ich war gerade beschäftigt, es sollte also lieber …“

„Es ist wichtig“, erwiderte Russell. „Howard hat mir gesagt, dass du dich heute mit einer Amazonen-Kriegerin getroffen hast. Du hast also die Frauen gefunden, die den Pfeil gemacht haben, den du mir abgenommen hast?“

„Ja.“ Zoltan beugte sich vor, die Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt. „Was kannst du mir über sie erzählen?“

„Nicht viel. Sie sind ein verschwiegener Haufen.“ Russell leerte sein Glas Blissky in einem Zug. „Sie sind in Gefahr wegen Master Han.“

„Warum?“, fragten Zoltan und Howard gleichzeitig.

„Ich weiß es nicht.“ Russell goss sich noch ein Glas ein. „Ich spioniere Lord Liao jetzt schon eine Weile aus. In seinem Lager kann ich mehr erfahren, weil er und seine Soldaten sich untereinander beschweren. In Master Hans Lager komme ich nicht an ihn heran. Er wird zu schwer bewacht, und niemand traut sich dort, irgendetwas zu sagen, aus Angst, dafür von Han umgebracht zu werden.“

„Toller Typ“, murmelte Howard.

Russell nickte. „Ich habe belauscht, wie Lord Liao mit seinen Untergebenen gesprochen hat, und er dreht langsam durch. Anscheinend hat Master Han gesagt, dass er die zwei Vampir-Lords, die umgebracht worden sind, nicht vermisst. Und er hat geprahlt, dass er den Dämon Darafer nicht braucht, um die Weltherrschaft an sich zu reißen. Er sagt, er schafft es auch allein. Also macht Liao sich Sorgen, dass seine Tage gezählt sind, wenn er Master Han seinen Wert nicht beweisen kann.“

„Und den kann er beweisen, indem er die Frauen von Beyul-La angreift?“, fragte Zoltan.

Russell riss die Augen auf. „Das sind sie also? Nicht einmal das haben sie mir verraten.“

„Beyul-La?“, hakte Howard nach, während er sein Telefon aus der Tasche zog. „Wie schreibt man das?“

„Online wirst du nichts finden“, sagte Zoltan zu ihm. „Ich habe schon nachgesehen. Es ist ein verstecktes Tal im Himalaya. Ich weiß nicht, warum, aber Männer sind dort nicht gestattet. Als ich mich dem Ort zum ersten Mal genähert habe, hat eine der Frauen versucht, mich umzubringen.“

„Meine Güte“, flüsterte Howard. „Was haben die dort zu verbergen?“

Zoltan war ratlos. „Ich weiß es nicht.“

„Was auch immer es ist“, sagte Russell, „Master Han will es. Und Liao ist entschlossen, es für ihn zu besorgen.“

Zoltan zuckte zusammen. „Sie sind jetzt nur noch zu sechst. Sie können sich nicht gegen eine Armee aus Supersoldaten wehren.“

Russell nickte. „Deswegen bin ich hier. Um zu sehen, was wir unternehmen können.“ Er sah Howard genervt an. „Wahrscheinlich solltest du lieber Angus davon berichten.“

„Wir könnten eine Gruppe entsenden, die mit ihnen Kontakt aufnimmt“, schlug Howard vor. „Angus könnte mit …“

„Sie werden versuchen, jeden Mann umzubringen, der sich ihnen nähert“, unterbrach Zoltan ihn. „Sie glauben nicht, dass man Männern vertrauen kann.“

Howard lehnte sich stirnrunzelnd zurück. „Aber du hast dich mit einer von ihnen getroffen?“

Zoltan nickte. „Neona.“

„Der Heilerin?“, fragte Russell.

In Zoltan flackerte die Wut so heftig auf, dass es ihn selbst überraschte. Verdammt noch mal. Er war eifersüchtig, weil Russell ihr zuerst begegnet war. „Woher kennst du sie?“

„Ich kenne sie kaum, du kannst dich also entspannen“, meinte Russell trocken.

War es so offensichtlich? Zoltan lehnte sich zurück und setzte eine gleichgültige Miene auf. „Wie bist du ihr begegnet?“

„Ich habe ein paar Monate damit verbracht, Lord Liao durch Tibet zu folgen. Er hat in den Dörfern gefragt, wo er das versteckte Tal der Kriegerinnen finden kann. Anscheinend haben die Frauen davon gehört, denn sie haben angegriffen. Sie waren in der Unterzahl, aber so wilde Kämpfer, dass ich mich ihnen angeschlossen habe, um zu helfen.“ Russell stürzte sein Glas Blissky herunter und knallte es auf den Tisch. „Ich war so kurz davor, diesen Bastard Liao umzubringen, aber er hat sich teleportiert. Dann ist der Rest seiner Armee geflohen. Ich war verwundet und habe das Bewusstsein verloren. Als ich aufgewacht bin, war ich in einer Hütte. Frederics Hütte haben sie das Haus genannt.“

Zoltan nickte. „Ich weiß, wo das ist.“

„Später habe ich herausgefunden, dass ich ihrer Königin das Leben gerettet habe, und sie sich deswegen verpflichtet gefühlt haben, mich gesund zu pflegen“, fuhr Russell fort. „Sie hatten sich Pferde aus einem benachbarten Dorf geliehen und sie benutzt, um mich und ihre Toten zurückzubringen. Ich lag bewusstlos in der Hütte, und als die Sonne aufging, habe ich also angefangen zu brutzeln. Sie haben gemerkt, dass ich ein Vampir bin und alle Fenster verrammelt.“

„Was haben sie dazu gesagt, dass du ein Vampir bist?“

„Als ich aufgewacht bin, haben sie mich angestarrt, als wäre ich irgendein Monster. Dann haben sie mir eine Schale Blut zu trinken gegeben.“ Russell verzog das Gesicht. „Hat furchtbar geschmeckt. Sie hatten es von einem Esel entnommen.“

Howard lachte.

Zoltan grinste nur in sich hinein. Der blöde Esel war doch zu etwas gut.

Russell schenkte sich ein weiteres Glas ein. „Sie waren erstaunt, dass mein Körper von selbst geheilt war. Die Wunden der Schlacht und die Verbrennungen durch das Sonnenlicht waren alle verschwunden, ohne dass ihre Heilerin etwas tun musste.“

Zoltan nickte, erleichtert, dass Neona den Schmerz von Russell nicht hatte spüren müssen.

„Sie waren schockiert, dass ich mich in der Schlacht auf ihre Seite gestellt hatte. Sie wissen von Vampiren, aber sie dachten, wir wären alle böse. Ich habe versucht, ihnen zu erklären, dass es eine Gruppe guter Vampire auf der Welt gibt, die es sich zum Ziel gemacht haben, die Sterblichen zu beschützen. Und ich habe ihnen gesagt, dass ich entschlossen bin, Master Han eigenhändig umzubringen. Ihnen gefiel das. Sie fanden, ich wäre dafür besser geeignet als sie selbst, da ich ebenfalls untot bin. Nachdem ich also versprochen hatte, niemandem von ihnen zu erzählen, haben sie mich gehen lassen. Ich hätte mein Wort gehalten, aber ich befürchte, dass sie in Gefahr sind.“

„Es war richtig, uns davon zu erzählen“, versicherte Zoltan ihm. „Ich mache mir auch Sorgen um sie.“

„Dieser Pfeil, über den du mehr wissen wolltest …“ Russell schenkte sich den Rest Blissky in sein Glas. „Die Heilerin hat ihn mir gegeben. Lord Liao hat ihre Schwester umgebracht, also hat sie mich gebeten, ihren Pfeil zu benutzen, um ihn zu töten.“ Er nippte an seinem Glas. „Und wenn du ihn noch hast, hätte ich ihn gerne zurück.“

„Ich hole ihn dir.“ Soweit Zoltan wusste, steckte er immer noch in dem Baumstamm, an den er die Nachricht geheftet hatte.

Howard griff nach einem Donut. „Ich glaube, diese Kriegerinnen werden uns gute Verbündete gegen Master Han sein.“

Zoltan nickte. „Ich treffe mich weiterhin mit Neona, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Und ich werde die Frauen davon überzeugen, dass wir auf ihrer Seite sind. Sie sind so in der Unterzahl, dass sie unsere Hilfe dabei brauchen werden, Lord Liao und Master Han zu besiegen.“

„Klingt gut.“ Howard biss in seinen Donut. „Und Russell muss mehr Informationen herausfinden. Wir müssen wissen, was Han und Liao von diesen Frauen wollen.“

„Wird gemacht“, erwiderte Russell.

„Nimm ein Satelliten-Telefon mit, damit wir dich erreichen können“, fügte Howard hinzu.

Russell schnaubte. „Nein danke.“ Er verschwand.

„Verdammt noch mal“, murmelte Howard und stopfte sich den Rest von seinem Donut in den Mund.

Zoltan schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Ich mache mich auch auf den Weg.“

Howard sprang auf. „Wohin?“

„Nach oben in die Bibliothek. Brauche ich deine Erlaubnis?“

„Nein. Aber ich will mit dir über die Führungen reden. Sie sind ein riesiges Sicherheitsrisiko, ich frage mich also, warum du sie überhaupt gestattest. Soweit ich sagen kann, brauchst du das Geld jedenfalls nicht.“

„Brauche ich auch nicht“, sagte Zoltan und brachte die leeren Gläser zur Spüle. „Aber die Dorfbewohner brauchen es. Das Restaurant, das Hotel und die Geschäfte laufen wegen der Touristen. Und die Frauen, die die Führung machen, bekommen einen guten Lohn. Der Busfahrer verdient den Lebensunterhalt für seine ganze Familie. Die Frauen, die die Schals und den Schmuck herstellen, der in den Läden …“

„Okay, verstanden.“ Howard hob ergeben seine Hände. „Und du vertraust all diesen Leuten damit, dich zu beschützen?“

Zoltan warf die leere Blissky-Flasche in den Recycling-Container. „Es funktioniert seit Jahrhunderten. Ich beschütze sie, und sie erweisen mir den gleichen Gefallen.“

„Es braucht nur einen unzufriedenen Dorfbewohner, der deine Geschichte für eine schöne Summe an die Medien verkauft.“

„Und die anderen Dorfbewohner würden den Medien berichten, dass er verrückt ist.“ Zoltan seufzte. „Hör zu. Es wird immer Legenden über Vampire geben, besonders in diesem Teil der Welt. Wenn man versuchen würde, es völlig zu vertuschen, sieht es nur verdächtig aus. Es ist besser, einfach mitzuspielen, wie ein Scherz, an den keiner richtig glaubt.“

„Kann schon sein.“ Stirnrunzelnd schloss Howard die Schachtel mit den Donuts. „Aber es ist immer noch mein Job, dich zu beschützen. Wie sieht es mit deinen Sicherheitsvorkehrungen in Budapest aus? Hast du dort Leibwächter?“

„Ich habe einen Butler und eine Haushälterin, die beide im Haus leben. Sie sind verheiratet und die Einzigen, die wissen, wo die geheime Tür zu meinem Schlafzimmer versteckt ist. Ich verschließe und verriegele die Tür von innen, es kann also niemand hereinkommen, wenn ich mich nicht vorher hineinteleportiere und aufschließe.“

„Ein anderer Vampir könnte sich hineinteleportieren.“

Zoltan schnaubte. „Dazu müssten sie erst wissen, wo das Zimmer ist. Und tagsüber werden sie sich nicht teleportieren, weil sie ebenso tot sind wie ich. Vertrau mir, Howard. Mein Sicherheitssystem ist nicht hochmodern, aber es funktioniert.“

„Das werde ich persönlich überprüfen müssen.“

Zoltan winkte ab. „Nicht heute Nacht. Kümmere dich um deine arme vernachlässigte Frau.“

„Sie wird nicht vernachlässigt!“

„Gute Nacht, Howard.“ Zoltan ging mit großen Schritten die Treppe hinauf in die Bibliothek neben der großen Halle. Er läutete, um seinen Steward, Milans Großvater, wissen zu lassen, dass er wieder in der Burg war. Dann ging er im Raum auf und ab, um über alles nachzudenken, was Neona ihm erzählt hatte.

Ihre Mutter, die Königin, konnte mit Vögeln kommunizieren. Auch Neonas verstorbene Schwester war dazu in der Lage gewesen, und eine weitere Frau, Winifred, konnte es ebenfalls. Es schien ein zu großer Zufall zu sein, dass seine eigene Mutter die gleiche Gabe besessen hatte wie diese drei anderen Frauen in Beyul-La. Seine Mutter war aus dem Osten gekommen, deswegen vermutete er, dass sie in Beyul-La gelebt hatte. Wenn dem so war, wie war es seinem Vater gelungen, sie zu finden? Wie hatte er sie davon überzeugt, nach Transsilvanien zu kommen?

Und dann wollte Neona, dass Lord Liao mit ihrem Pfeil umgebracht wurde. Gab es bei den Frauen eine lange Tradition darin, an jenen Rache zu nehmen, die eine von ihnen getötet hatten? Laut den wenigen Überlebenden von 1241 hatte eine Gruppe aus wilden Kriegern und Monstern seinen Vater und die meisten Dorfbewohner umgebracht, ehe sie die Gebäude in Brand gesteckt hatten. Waren diese Krieger die Frauen von Beyul-La gewesen? Waren sie die Monster, oder hatten sie noch etwas anderes mitgebracht? Wie waren sie eine so lange Strecke gereist? Wie waren sie hinterher verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen, bis auf den Pfeil, der seinem Vater in der Brust gesteckt hatte?

„Mylord.“ Domokos klopfte an der Tür.

„Komm.“ Zoltan hatte jahrelang versucht, Milans Großvater dazu zu überreden, ihn nicht so förmlich anzureden. Aber für Domokos blieb Zoltan ein Graf in einer langen Reihe von Grafen, also hatten alle Angestellten ihm den Respekt zu erweisen, den er verdiente.

Domokos kam mit einem Tablett herein, auf dem eine angewärmte Flasche Blut und ein Glas standen, und stellte es auf einem Tisch vor dem Kamin ab. „Möchtet Ihr ein Feuer, Mylord?“

„Nein. Mir geht es gut, danke.“

Domokos öffnete die Flasche und schenkte ein, bis das Weinglas halb voll war. Als seine Hand anfing zu zittern, eilte Zoltan ihm zu Hilfe.

„Wenn Ihr gestattet, Mylord.“ Domokos stellte die Flasche hin und sah Zoltan mit tränenfeuchten Augen an. „Darf ich sagen, wie sehr uns Milans Beförderung ehrt. Sein Erfolg wäre nicht möglich, hättet Ihr nicht für seine Ausbildung bezahlt und ihn unter Eure Fittiche genommen. Er wird sein Bestes tun, um Euch stolz zu machen.“

„Da bin ich mir sicher. Danke, Domokos. Das wäre dann alles für heute.“

„Ja, Mylord.“ Domokos verbeugte sich und humpelte zur Tür.

Wann hatte er angefangen, so zu gehen? Und wann war sein Haar silbern geworden? „Domokos.“

„Ja, Mylord?“

Zoltan zögerte. Wie lange war Domokos jetzt sein Steward? Dreißig oder vierzig Jahre? „Achtest du auf deine Gesundheit? Du kannst dich zur Ruhe setzen, wann immer du willst, bei vollem Gehalt. Lass es mich einfach wissen.“

Er lächelte. „Das weiß ich, Graf. Es gibt hier genug Angestellte, sodass ich nicht viel mehr machen muss, als sie zu beaufsichtigen. Ich übernehme diese eine Aufgabe am Abend, weil es mir ein Vergnügen ist, Euch persönlich zu bedienen.“

Selbst nach achthundert Jahren konnte es Zoltan noch überraschen, wie treu ergeben ihm die Sterblichen waren, mit denen er sich umgab. Sicher, er kümmerte sich so gut um sie, wie er konnte, aber sie schienen ihm ein größerer Segen, als er verdient hatte. „Ich bin es, der dir Dankbarkeit schuldet, Domokos. Du kümmerst dich seit … Jahren um mich.“

Domokos’ Augen funkelten amüsiert. „Seit sechzig Jahren, Mylord.“

Zoltan blinzelte. „So lange?“

Domokos lächelte. „Ja, Mylord. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Domokos.“ Zoltan sah ihm nach, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sechzig Jahre? Wie war die Zeit so schnell vergangen? Die fünf Jahre, die er mit Milan zusammengearbeitet hatte, fühlten sich wie fünf Monate an. Anscheinend war er zu einem solchen Workaholic geworden, dass die Jahre unbemerkt an ihm vorbeirauschten.

Irgendetwas in seiner Erinnerung nagte an ihm. Die sechs Frauen von Beyul-La. Er hatte sie aus der Ferne gesehen, als sie um das Feuer herumgesessen und zu Abend gegessen hatten. Sie hatten alle jung gewirkt, vielleicht Mitte zwanzig, aber das konnte nicht stimmen. Eine von ihnen war die Königin und Neonas Mutter.

Er ging an seinen Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Er brauchte mehr Informationen. Etwas Konkretes, das er nachforschen konnte. Vielleicht Frederic?

Er setzte sich hin und gab Frederic Chesterton in die Suchmaschine ein. Überrascht fand er mehrere Artikel. Frederic Chesterton war Teil einer missglückten britischen Expedition ins Himalaya-Gebirge gewesen. Sie hatten einen nördlichen Zugang zum Mount Everest vermessen wollen, aber das ganze Team war bei einem plötzlichen Schneesturm in Tibet verschollen. 1922.

Zoltan starrte entgeistert auf den Bildschirm. Das konnte nicht stimmen. Er las weiter. 1933 hatte es eine überraschende Entwicklung gegeben, als ein Mann, der sich Frederic Chesterton nannte, mit einem sechs Jahre alten Jungen in England auftauchte. Seine verbliebene Familie nahm ihn wieder auf und schwor, dass er wirklich Frederic Chesterton war. Er war um elf Jahre gealtert, hatte aber keine Erinnerung an diese Zeit. Als man versuchte, ihn für die Zeitung zu interviewen, hatte er angegeben, an Amnesie zu leiden und konnte niemandem sagen, wo er gewesen war oder wer seinen Sohn geboren hatte.

Zoltan musste schlucken. Laut Neona hatte Frederic mit Calliope zwei Töchter gehabt. Aber wenn die Mädchen in den 1920ern geboren worden waren, wären sie jetzt alte Frauen. Und alle Frauen in Beyul-La sahen jung aus.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Basierte der Mythos von Shangri-La auf der Wahrheit? War Beyul-La das Tal, in dem niemand alterte?

Er erinnerte sich daran, was Neona über ihre Schwester gesagt hatte. Der Satz war ihm damals komisch vorgekommen, aber er hatte angenommen, dass es die Trauer war, die ihre Worte färbte. Jetzt fragte er sich, ob die Trauer sie vielleicht zur Ehrlichkeit getrieben hatte.

Du verstehst nicht, wie lange wir zusammen waren und wie lange wir getrennt sein werden. Sah Neona sich einer Ewigkeit ohne ihre Zwillingsschwester gegenüber? Saß sie deswegen nachts weinend neben dem Grab ihrer Schwester? Und wie lange waren sie vor dem Tod ihrer Schwester zusammen gewesen?

Eine Erinnerung an seine erste Begegnung mit Neona blitzte in seinen Gedanken auf. Sie hatte eine Rüstung getragen, in der sie wie ein Krieger aus dem alten Griechenland aussah, der die Trojaner besiegte.

„Lieber Gott“, flüsterte er. Wie alt war Neona?