11. Kapitel

Am nächsten Abend nach Sonnenuntergang erwachte Zoltan mit einem Ruck im versteckten Schlafzimmer seines Stadthauses.

Mit einem Schub frischer Energie duschte er, zog sich an und teleportierte sich in die Küche seiner Burg, um zu frühstücken. Das Gute daran, ein Vampir zu sein, dachte er, während er darauf wartete, dass seine Flasche Blut in der Mikrowelle warm wurde, war, dass er, egal wie viele Sorgen er hatte, immer schlief wie ein Toter. Wortwörtlich.

Jetzt war er wieder am Leben, und die Sorgen waren zurück. War Neona mit verantwortlich für den Mord an seinem Vater und den Tod so vieler Dorfbewohner im Jahre 1241? Wie konnte er ihr so eine Frage stellen?

Unschuldige oder Mörderin? Es kam immer wieder zu der gleichen Frage zurück. Er wollte an ihre Unschuld glauben, aber die Realität führte ihm etwas anderes vor – Neona, die ihn in jener ersten Nacht mit Pfeilen beschoss. Mit dem Schwert nach ihm schlug. Verdammt, gerade letzte Nacht hatte sie ihm das Messer an die Brust gesetzt. Aber damit hatte sie ihn überzeugen wollen zu verschwinden. Sie versuchte nicht mehr, ihn umzubringen. Sie wollte ihn beschützen.

Würde sich das ändern, wenn sie herausfand, dass er ein Vampir war?

Die Mikrowelle piepte, und während er seine Flasche herausnahm, warf er einen Blick auf die Uhr. Würde sie sich um Mitternacht wieder in der Hütte mit ihm treffen?

„Mist!“ Er knallte die Flasche auf den Tisch. Die Uhr! Er hatte ihr eine Uhr versprochen!

„Verdammt.“ Er hatte ja gewusst, dass er etwas vergessen hatte.

„Da bist du ja.“ Howard kam in die Küche, ein neues Satelliten-Telefon in der Hand. „Das habe ich dir mitgebracht.“

Zoltan ignorierte ihn und kippte schnell seine Flasche mit Blut hinunter. Er würde sich in die Stadt teleportieren. In der Hauptstraße gab es einen Juwelier, der sich auf das Touristengeschäft spezialisiert hatte. Der alte Janos hatte sicher einige hübsche Uhren.

Howard stellte das Telefon neben ihn auf die Anrichte. „Heute sind Pakete für dich gekommen. Zwei Kartons voller Bücher. Aber ehe du gehst …“

„Ich muss erst noch kurz weg.“

„Was? Wohin?“

„In die Stadt.“ Zoltan warf die leere Flasche in die Recyclingtonne. „Ich muss eine Uhr kaufen.“

„Du hast eine Uhr.“

Zoltan knirschte mit den Zähnen. „Sind Bären immer so verdammt neugierig?“

„Ah. Die ist für deine Freundin.“

„Tu mir einen Gefallen und pack die Bücher alle in eine Tragetasche. Und in der Waffenkammer liegen auf dem Tisch einige Waffen. Pack die auch für mich ein. Ich bin bald wieder da.“

„Das solltest du auch besser“, sagte Howard schnell, ehe er sich teleportieren konnte. „Wir haben die Mumie heute Morgen verlegt, und Elsa will sicher sein, dass du zufrieden damit bist.“

„Schön.“ Zoltan teleportierte sich in eine dunkle Gasse in der Nähe des Dorfplatzes, wo die zwei Straßen, Hauptstraße und Dorfstraße, sich kreuzten.

Einige Dorfbewohner saßen vor dem Gasthaus und tranken, während andere vor dem Restaurant saßen und aßen. Einige winkten und grüßten ihn, als er sich auf den Weg zum Juwelier machte. Er winkte zurück und zog dann an der Tür. Abgeschlossen. Verdammt noch mal. Hatte Janos schon Feierabend?

Er teleportierte sich ins Innere des Ladens. „Janos!“ Der alte Mann wohnte hinter seinem Laden, konnte ihn also hören. „Janos?“

„Ich komme!“

Zoltan ging zur ersten Vitrine und suchte nach einer Damen-Uhr. Ketten, Ringe … ein Paar Eheringe stach ihm ins Auge. Schlicht, aber elegant.

„Mylord?“ Janos kam langsam in den Verkaufsraum gehumpelt. Er war vor langer Zeit im Zweiten Weltkrieg verletzt worden. „Ich wollte gerade zu Abend essen.“

„Entschuldige, dass ich dich gestört habe. Ich werde nicht viel von deiner Zeit in Anspruch nehmen. Ich brauche eine Uhr.

Janos’ Blick richtete sich auf Zoltans Handgelenk. „Ihr habt eine Uhr.“

„Ich brauche eine Damen-Uhr.“

Janos keuchte auf.

War das wirklich so schockierend? „Ich habe schon Schmuck für Frauen gekauft“, knurrte Zoltan.

„Nicht, solange ich am Leben bin.“ Janos trat näher. Seine Augen funkelten aufgeregt. „Ist es etwas Ernstes mit ihr, Mylord? Wird es in der Burg bald eine Gräfin geben?“

Zoltan verzog das Gesicht. Wirklich zu schade, dass er keine Zeit mehr gehabt hatte, die blöde Uhr im Internet zu bestellen. Jetzt würde Janos tratschen, und ehe die Nacht vorüber war, wäre das ganze Dorf mit seinen Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt.

„Hier drüben habe ich einige sehr schöne Verlobungsringe.“ Janos eilte hinter die erste Vitrine, erstaunlich geschmeidig für einen Mann, der hinkte.

„Ich möchte eine Uhr“, murmelte Zoltan. „Und ich möchte, dass nichts davon an die Öffentlichkeit gerät.“

„Oh.“ Janos’ Schultern sackten zusammen. „Nun gut.“ Er humpelte zu einer anderen Vitrine, als würde er auf einmal wieder Schmerzen leiden. „Ich fürchte, es sind gerade nicht viele da. Der Reisebus heute Nachmittag war voller frisch verheirateter Paare, die haben die besten aufgekauft.“

„Was?“ Entsetzen breitete sich in Zoltan aus, als er sah, dass die Uhrenvitrine fast leer war. „Ich brauche nur eine. Eine hübsche.“

„Ich habe neue bestellt, nachdem der Bus wieder gefahren war. Sie sind in ein paar Tagen hier.“

„Ich brauche heute Abend etwas!“

Janos zuckte zusammen. „Nun, wie Ihr seht, haben wir noch einige Herrenuhren. Und diese hier.“ Er nahm eine Uhr aus der Vitrine und legte sie auf ein Stück schwarzen Samt. „Die sind sehr beliebt, besonders bei den jungen Frauen. Ich nehme an, Eure Freundin ist etwas jünger als Ihr?“

Zoltan verzog das Gesicht. Sie war vielleicht über zweitausend Jahre alt. Er betrachtete die Uhr mit ihrem grellen pinkfarbenen Armband und der glitzernden Verzierung. „Was ist das? Eine Katze?“

„Hello Kitty“, murmelte Janos. „Ich kann Euch dafür einen ausgezeichneten Preis machen.“

Zoltan nahm die Uhr in die Hand und betrachtete sie eingehend.

„Mag sie Katzen, Mylord?“

Er lachte auf. „Ich glaube schon. Pack sie ein. Und wenn die neue Lieferung kommt, leg mir die teuerste Uhr zurück.“

„Sehr wohl, Mylord. Selbstverständlich. Dann geht diese aufs Haus, ja?“

„Vielen Dank, Janos.“ Zoltan steckte sich die kleine Geschenkschachtel in die Jackentasche und teleportierte sich zurück in die Burg. Er fand Howard in der Waffenkammer, wo er gerade die Schachtel mit den Pfeilen in eine große Tasche stopfte.

„Gut, du bist wieder da.“ Howard legte die restlichen Bücher in die bereits übervolle Tasche und bemühte sich, den Reißverschluss zu schließen. „Ich habe Elsa versprochen, dass du in der Kapelle vorbeisiehst. Heute Morgen vor der Führung habe ich Alastair geholfen, die Mumie zu verlegen, und Domokos war uns die ganze Zeit auf den Fersen und hat uns gewarnt, dass du einen Wutanfall bekommst, wenn ihr irgendetwas passiert.“

„Ich bekomme keine Wutanfälle.“

Howard sah ihn neugierig an. „Domokos hat gesagt, sie bedeutet dir sehr viel, aber er hat nicht erklärt, warum.“

„Ich gehe gleich hin.“

Howard richtete sich auf. „Warte. Du brauchst noch …“

Zoltan aber hatte sich bereits in den Hof teleportiert und sah sich im Mondlicht um. Das Hauptgebäude, wo er und seine Angestellten lebten, war in ausgezeichneter Verfassung, da er es erst vor ungefähr zwanzig Jahren hatte renovieren lassen, aber der Ostflügel und der Turm sahen schlimm aus. Sie waren jetzt mit gelbem Band abgesperrt.

Er sauste zur Kapelle herüber. Vor fünfhundert Jahren errichtet, waren die Steinmauern immer noch die ursprünglichen, aber das Dach und die Buntglasfenster hatte er vor zweihundert Jahren ersetzen lassen müssen.

Im Inneren der Kapelle fand er Elsa, mit einer Sprühflasche Glasreiniger und einer Rolle Papiertücher bewaffnet, die fleißig dabei war, den Glaskasten zu polieren, in dem sich die Mumie befand. Die hölzernen Stühle hatte man entfernt, um Platz für den Glaskasten zu schaffen, der jetzt auf einigen Holzkisten ungefähr auf Hüfthöhe lag.

„Guten Abend“, sagte Zoltan.

Elsa erschrank und drehte sich zu ihm um. „Oh, du bist gekommen.“ Sie stellte die Flasche und die Papiertücher auf das Fensterbrett. „Die Scheibe war ganz verschmiert von den Fingerabdrücken der Touristen. Ich wollte sichergehen, dass du mit dem neuen Zuhause der Mumie zufrieden bist.“

Zoltan ging um den Glaskasten herum und betrachtete die vertraute Gestalt darin. „Sie sieht gut aus.“

Elsa kam näher. „Ich dachte schon, dass es eine Frau sein könnte, aber ich war mir nicht sicher. Hast du sie gekannt?“

Zoltan nickte, und sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. „Sie fände es wahrscheinlich amüsant, in einer Kapelle untergebracht zu sein.“

„Warum? War sie sehr religiös?“

Ehe Zoltan antworten konnte, kam Howard in die Kapelle gerannt und kam aprupt zum Stehen.

Er starrte Zoltan finster an. „Musstest du dich unbedingt teleportieren? Weißt du nicht, dass Laufen gesund ist?“

„Als würde das meine Lebenserwartung verlängern! Warum hast du so lange gebraucht?“ Die Ironie in seinen Worten war nicht zu überhören.

„Du hast dein Satelliten-Telefon in der Küche liegen lassen.“ Howard reichte es Zoltan.

„Weißt du was?“ Elsa griff sich ihren Mann und zog ihn mit sich zu dem Glaskasten. „Zoltan hat mir gerade erzählt, dass die Mumie eine Frau ist. Das hatte ich aber schon vermutet. Siehst du die langen Haare? Und sie ist ziemlich klein, einen Meter fünfzig ungefähr, wobei Männer damals wohl auch kleiner gewesen sind.“

Howard beugte sich über den Kasten und verzog das Gesicht. „Alles, was ich sehe, ist ein verschrumpeltes schreckliches Ding. Warum sollte man etwas so Gruseliges behalten wollen?“

Zoltan zuckte bei Howards Worten zusammen, während er das Telefon einsteckte.

„Oh nein“, schimpfte Elsa mit ihrem Mann. „Sie ist wirklich interessant. Wenn man genau hinsieht, kann man jede Menge Details entdecken. Zum Beispiel ihr Kleid. Noch ein Grund, warum ich gleich dachte, es sei eine Frau, obwohl Männer früher glaube ich auch lange Roben getragen haben. Aber sieh dir die Ärmel und den Rocksaum an. Kannst du die Stickerei erkennen? Sie ist mit der Zeit ziemlich abgewetzt, aber ich wette, sie war wunderschön, als sie noch neu war.“

„Aber sieh dir das an.“ Howard deutete auf die rechte Hand der Mumie. Sie war ausgestreckt, die Finger gespreizt wie die Krallen eines Raubvogels. „Es sieht aus, als würde sie einen packen wollen. Wie gruselig ist das bitte?“

„Es sieht wirklich ein bisschen erschreckend aus“, gab Elsa zu und drehte sich dann zu Zoltan um. „Weißt du, warum sie ihre Hand so hält?“

Er nickte. „Sie wurde mit einer Bibel unter der Hand begraben, damit ihre Seele nicht nach Rache suchend auf Erden wandelt. Mit den Jahrhunderten ist die Bibel verrottet, ihre Hand aber ist in dieser Haltung erstarrt.“

„Gruselig“, wiederholte Howard, und Zoltan warf ihm einen genervten Blick zu.

„Warum hat man geglaubt, dass sie Rache nehmen will?“, fragte Elsa.

Zoltan trat dichter an den Kasten heran. „Sie wurde von den Dorfbewohnern ermordet.“

Elsa keuchte entsetzt auf. „Warum?“

„Das ist eine lange Geschichte.“ Zoltan legte seine Hand auf die Glasscheibe, über die ausgestreckte Hand der Mumie. „Man hat geglaubt, sie wäre eine Hexe.“

„Oh.“ Elsa riss die Augen auf. „Deswegen hast du gesagt, dass sie es komisch fände, hier in der Kapelle zu liegen.“

„Sie wurde als Hexe hingerichtet?“, fragte Howard.

Zoltan seufzte. Howard und Elsa sahen ihn beide fasziniert an, offensichtlich würden sie ihn mit Fragen löchern, wenn er ihnen nicht von sich aus mehr erzählte. „Die Dorfbewohner konnten sich nicht entscheiden, ob man sie steinigen oder verbrennen sollte, deswegen haben sie beides getan. Und dann konnte man sie natürlich nicht in heiliger Erde auf dem Kirchhof begraben, also hat man sie in eine Höhle gesteckt und darin versiegelt. Jahre später gab es einen Erdrutsch, bei dem die Höhle geöffnet wurde und die Dorfbewohner festgestellt haben, dass sich ihre Leiche mumifiziert hatte.“

Howard verzog das Gesicht. „Also haben die sie rausgeholt und in einen Glaskasten gesteckt? Warum sollten die sich etwas so Gruseliges ansehen wollen?“

Zoltan versuchte sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. „Sie meinten, es wäre die beste Möglichkeit, sie im Auge zu behalten. Um sicherzugehen, dass sie auch tot blieb.“

„Aber du hast sie doch gekannt, oder?“, fragte Elsa. „War sie wirklich eine Hexe?“

„Nein. Ich habe immer an ihre Unschuld geglaubt. Der Graf war damals ein Kaufmann, der auf der Seidenstraße nach China gereist ist. Er hatte seine Frau verloren, als sie ihm seinen Sohn gebar, also wird er einsam gewesen sein. Von einer seiner Reisen ist er mit einer neuen Frau aus dem Osten zurückgekehrt. Die Dorfbewohner wussten nichts mit ihr anzufangen. Sie sprach ihre Sprache nicht, sie war keine Christin, und sie sah fremdartig aus. Sie hat sich zwar zum Christentum bekehrt und sich Donna Maria genannt, aber die Leute waren weiter misstrauisch. Als die Mongolen das Dorf überfallen und die meisten seiner Einwohner getötet haben, zeigten die Überlebenden den Finger auf sie. Sie kam aus dem Osten, also musste sie für die Invasion der Mongolen verantwortlich sein.“

„Sie wurde zum Sündenbock“, schlussfolgerte Howard.

„Genau“, stimmte Zoltan ihm zu. „Alle hatten den Großteil ihrer Familien verloren, sie waren also begierig darauf, jemandem die Schuld geben zu können. Sie haben Donna Maria auf dem Dorfplatz an einen Pfahl gebunden und entschieden, sie hinzurichten.“

„Aber sie war mit dem Grafen verheiratet“, protestierte Elsa. „Er muss sich doch für seine Frau eingesetzt haben.“

Zoltan schüttelte den Kopf. „Der älteste Sohn des Grafen wurde von den Mongolen ermordet. Er war davon so tief erschüttert, dass der giftige Tratsch aus dem Dorf bei ihm auf fruchtbaren Boden fiel. Er hat angefangen, selbst zu glauben, dass er eine Hexe mit nach Hause gebracht hatte. Der Gedanke, dass der Tod seines Sohnes und der aller anderen letztendlich seine Schuld waren, ließ ihn tief verzweifeln. Also hat er nichts getan, um seine Frau zu retten.“

„Die arme Frau“, meinte Elsa, „sie muss sich so hintergangen gefühlt haben.“

„Da bin ich mir sicher.“ Zoltan sah sie traurig an. „Aber gleichzeitig verstehe ich auch, warum die Leute dachten, sie wäre eine Hexe. Sie konnte mit Tieren und mit Vögeln kommunizieren.“

Elsa erstarrte. „Ich kann mit Tieren kommunizieren. Und meine Tante mit Vögeln. Gott sei Dank leben wir jetzt, wo wir uns keine Sorgen mehr machen müssen, dass man uns deswegen zu Tode steinigt.“

„Moment mal.“ Howard hob die Hand und sah Zoltan eindringlich an. „Kannst du nicht auch mit Tieren kommunizieren?“

„Was?“ Elsa riss die Augen auf. „Kannst du das wirklich?“

Zoltan nickte. „Das liegt in meiner Familie.“ Er berührte das Glas über dem Gesicht der Mumie. „Das und die mandelförmigen Augen.“

Elsa keuchte auf. „Oh mein Gott …“

Howard erstarrte. „Soll das heißen …?“

Zoltan nickte. „Deswegen hat mein Steward gesagt, sie sei mir wichtig.“

Howard blinzelte und lachte dann auf. „Deine Mommy ist eine Mumie?“

Elsa gab ihm einen Klaps gegen den Arm und flüsterte: „Mach dich nicht lustig.“ Sie drehte sich zu Zoltan um. „Es tut mir so leid, dass deine Mutter derart leiden musste. Ich bin mir sicher, sie war eine gute Frau.“

„Ja.“ Howard trat zerknirscht von einem Fuß auf den anderen. „Tut mir leid, dass ich sie gruselig genannt habe.“

„Mehrmals.“ Zoltan sah ihn schief an. „Ich sollte jetzt gehen.“

Howard nickte. „Ich habe die Tasche mitgebracht. Sie steht draußen neben der Tür.“

„Danke.“ Zoltan warf noch einen letzten Blick auf seine Mutter. Er war sich zu neunundneunzig Prozent sicher, dass sie aus Beyul-La stammte. Das würde ihre seltsame Gabe erklären. Und auch, dass sie ein solches Geheimnis aus ihrer Vergangenheit gemacht hatte.

War Neona mit den anderen Frauen gekommen, um den Tod seiner Mutter zu rächen? Gehörte der Pfeil an der Wand seiner Waffenkammer Neona? Unschuldige oder Mörderin?

Er musste heftig schlucken. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten war er dabei, sich in eine Frau zu verlieben. Er musste ihr Vertrauen gewinnen, aber sie war überzeugt davon, dass man Männern nicht vertrauen konnte. Basierte diese Vermutung auf dem, was seiner Mutter zugestoßen war? Denn für ihn gab es keinen Zweifel daran, dass sein Vater seine Mutter auf die grausamste Weise hintergangen hatte. Als sie ihren Ehemann am meisten gebraucht hatte, hatte er ihr den Rücken zugekehrt. Sie einem schrecklichen Tod überlassen.

Das war der Hauptgrund, warum Zoltan den Tod seines Vaters nie hatte rächen wollen. Er fand immer, dass der Graf bekommen hatte, was er verdiente. Trotzdem wollte er Antworten.

Was war an jenem Tag im Jahre 1241 geschehen? Er hatte versucht, seine Mutter zu beschützen, hatte sich vor sie gestellt und einige der Steine abgefangen, die man auf sie geschleudert hatte, sogar einige der Flammen. Doch irgendwie war er am nächsten Tag ein paar Meilen vom niedergebrannten Dorf entfernt aufgewacht, ohne sich erinnern zu können, wie er dorthin gekommen war. Wusste Neona etwas?

Aber wie konnte er sie das fragen, ohne dabei preiszugeben, wer er war? Würde sie ihm je vertrauen, wenn sie erfuhr, dass er der Sohn des Verräters war? Und ein Vampir noch dazu?

Nicht zum ersten Mal wurde ihm klar, dass es alles andere als einfach werden würde, Neona zu umwerben. Es war nicht so, als könnte er sie einfach mit Küssen und Schokolade verführen. Um sich für ihn zu entscheiden, musste sie eine Denkweise ablegen, die möglicherweise seit Jahrhunderten in ihr verankert war.

Schweren Herzens nahm er die Tasche in die Hand und teleportierte sich in die Nähe von Frederics Hütte.

Sie war nirgends zu sehen.

Zoltan stellte die schwere Tragetasche auf den Boden der Hütte und fragte sich, was er tun sollte. Die Strategie, die er am Abend zuvor benutzt hatte, würde nicht noch einmal funktionieren.

Die Sorge belastete ihn schwer. Was, wenn sie in Schwierigkeiten war? Wie weit würde die Königin gehen, um dafür zu sorgen, dass Neona Beyul-La nicht verließ? Er würde sie nicht aufgeben. Wenn er sich erst einmal etwas vorgenommen hatte, zog er es auch durch.

Ein Geräusch vor der Tür erregte seine Aufmerksamkeit. Stand die Hütte unter Beobachtung? Er teleportierte sich nach draußen und versteckte sich hinter einigen Bäumen. Bald wurde ihm klar, woher das Geräusch stammte. Der Schneeleopard wälzte sich in einem Laubhaufen.

Kater! rief er. Wo ist Neona?

Lass mich in Ruhe. Zhan rollte sich auf den Rücken. Das Ende der Welt ist gekommen.

Was? Zoltan rannte zu ihm. Ist Neona in Schwierigkeiten?

Verdammt. Ich bin verdammt. Du siehst mich vielleicht nie wieder.

Warum? Ist Neona irgendetwas passiert?

Sie lassen sie nicht mehr aus dem Tal. Also war sie heute nicht auf der Jagd. Der Kater drehte sich um und stieß ein verzweifeltes Heulen aus. Meine Futterschüssel ist leer!

Zoltan schnaufte verächtlich. Deswegen machst du dir Sorgen? Du bist ein Leopard, du Memme. Geh dir dein eigenes Kaninchen jagen.

Zhan schauderte und sträubte das Fell. Das wehrt sich vielleicht und beißt mich.

Du Riesenbaby. Zoltan stemmte sich die Hände in die Hüften. Weißt du nicht, dass du ein gefährlicher Jäger sein solltest?

Wirklich? Zhan sah ihn mit großen Augen an. Zeigst du mir, wie das geht?

Nicht jetzt. Ich mache mir Sorgen um Neona. Weißt du, wo sie ist?

Wie soll ich dir das beantworten, wenn ich am Verhungern bin?

Ich bringe dir etwas zum Essen.

Zhan setzte sich auf. Wirklich?

Zoltan teleportierte sich in die Küche zurück und leerte drei Dosen Thunfisch in eine Plastikschüssel. Da er sich vielleicht auf die Suche nach Neona machen musste, stopfte er sich auch ein paar Beutel mit Blut in die Jackentaschen, dann teleportierte er sich zurück.Wow! Der Leopard sprang zurück. Wie hast du das gemacht? Hast du das Essen?

Hier. Zoltan stellte die Schüssel vor den Leoparden hin, der sich sofort darauf stürzte. Geht es Neona gut?

Zhan sah zwischen zwei Bissen zu ihm hoch. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie bei den Grabhügeln.

Ich weiß, wo das ist.

Nimm nicht die Strickleiter. Auch nicht den Weg am Wasserfall entlang. Oben auf der Felswand steht ein Wachposten. Sie wird dich sehen und voller Pfeile schießen.

Ich komme schon klar. Zoltan kam eine Idee, als er dem Leoparden beim Essen zusah. Er zog sein Satelliten-Telefon aus der Tasche und rief Milan an. „Gibt es etwas Neues von dem Stück Land in Tibet?“

„Ich fürchte, es sind schlechte Neuigkeiten, Sir“, antwortete Milan. „Das Land gehört der chinesischen Regierung, und die weigert sich, an einen Ausländer zu verkaufen.“

„Ich verstehe. Dann lass es uns anders versuchen. Wir machen aus dem Land ein Naturschutzgebiet für Schneeleoparden. Ruf Howard Barr in der Burg an.“

„Den Wer-Bären? Wie kann der helfen?“

„Er kann dich mit Rajiv in Tiger Town in Verbindung setzen. Rajiv ist dort der Anführer der Tiger, und er hat die chinesische Staatsbürgerschaft. Wenn er sich bereit erklärt, unser Vermittler zu sein, können wir das Geld über ihn laufen lassen.“

Es folgte eine kurze Pause, ehe Milan sagte: „Dann rufe ich also den Bären an, damit er den Tiger anruft, um ein paar ausgedachte Leoparden zu retten?“

Zoltan schnaubte. „Der Leopard ist echt.“

„Ist er auch ein Gestaltwandler?“

„Nein, Gott sei Dank nicht. Lass mich wissen, wie es läuft.“ Zoltan steckte das Satelliten-Telefon wieder ein und klopfte sich auf die Jackentasche, in die er die Uhr gesteckt hatte. Kater, ich muss jetzt gehen. Versteck die Schüssel, wenn du fertig bist.

Okay. Zhan blickte zu ihm hoch. Letzte Nacht hat sie geweint.

Zoltan sog zischend die Luft ein.

Lass dich nicht erwischen.

Habe ich nicht vor. Er teleportierte sich dicht an die Grabhügel heran.