12. Kapitel

Wartete er wieder in der Hütte auf sie?

Seufzend setzte Neona sich ins Gras neben das Grab ihrer Schwester. Heute Nacht war es unmöglich, sich mit ihm zu treffen. Ihre Mutter war misstrauisch geworden, also hatte sie den anderen Frauen befohlen, abwechselnd an der Felswand Wache zu stehen, wo sie die Strickleiter verwahrten.

Neona hatte ihren zahmen Leoparden mit dem Auftrag zur Hütte geschickt, Zoltan nicht in die Nähe der Felswand zu lassen, wo man ihn sehen konnte, aber sie wusste nicht, ob Zhan sie verstanden hatte. Immerhin war er in die richtige Richtung davongegangen. Sie hatte es nicht gewagt, ihm eine Nachricht mitzugeben, denn wer auch immer gerade Wache stand, könnte sie entdecken, und das wäre dann der Beweis, dass sie sich tatsächlich heimlich mit jemandem traf.

Am Abend zuvor hatte sie sich noch einen Vortrag von ihrer Mutter darüber anhören müssen, wie wertlos Männer waren. Man konnte ihnen niemals vertrauen. Sie wollten immer nur Sex und Macht. Und das konnten sie beides von den Frauen von Beyul-La bekommen.

Das Becken voll Wasser des Lebens im Thronsaal der Höhle erlaubte es den Frauen, ihre heilige Pflicht bereits seit vielen Jahrhunderten zu erfüllen. Männer würden nie akzeptieren, dass sie ihrer Pflicht ergeben waren. Alles, was sie sehen würden, war eine Möglichkeit, ewig zu leben als die reichsten und mächtigsten Männer der Welt. Deswegen musste jeder Mann, der von ihrem Geheimnis erfuhr, hingerichtet werden. Es war brutal, das gab die Königin zu, aber es funktionierte. Das Geheimnis war stets gewahrt geblieben.

In all den Jahrhunderten hatte es nur eine Ausnahme von der Regel gegeben. Frederic. Er war dem Tode nah gewesen, als Calliope ihn in den Bergen gefunden hatte. Sie hatte ihnen einen improvisierten Unterschlupf gebaut, und in den Tagen, die seine Heilung gebraucht hatte, hatten sie sich ineinander verliebt. Sie hatte Nima angefleht, ihn im benachbarten Tal leben zu lassen, und Frederic war es gelungen, sie davon zu überzeugen, dass er ihnen helfen konnte. Die Außenwelt wäre dabei, sich rapide zu verändern, hatte er gesagt, und sie wären hilflos in ihrem Umgang damit, wenn sie nicht darauf vorbereitet waren.

Nima hatte zuerst gezweifelt, aber nachdem Winifred geboren war und die Gabe zeigte, mit geflügelten Kreaturen kommunizieren zu können, hatte die Königin ihre Meinung geändert. Ein Jahr später wurde Freya geboren und besaß ebenfalls eine nützliche Gabe – sie konnte die Ernte gedeihen lassen. In der Zwischenzeit brachte Frederic ihnen Englisch bei und alles, was er von der Außenwelt wusste. Die Liebe zu seiner Frau und ihren Töchtern war so stark, dass er sein Exil aus seiner Heimat gerne hingenommen hatte. Aber das hatte sich nach der Geburt seines Sohnes geändert. Die Gefangenschaft, die er für sich selbst hingenommen hatte, konnte er für seinen Sohn nicht akzeptieren. Als Franklin sechs Jahre alt war, alt genug, um zur Schule zu gehen, hatte sein Vater ihn mit zurück nach England genommen.

Für Nima war sein Verlassen der Beweis dafür, dass alle Männer gleich waren. Letztendlich konnte man ihnen nicht vertrauen.

Doch Zoltan war davon überzeugt, dass Frederic ihr Geheimnis bewahrt hatte. Er war ihnen treu geblieben. Neona wollte glauben, dass man einigen Männern vertrauen konnte, denn sie hoffte, Zoltan wäre einer von ihnen. Er wusste zu viel. Sie konnte nur beten, dass er sich als vertrauenswürdig und verschwiegen erwies.

So sehr sie auch mit ihm zusammen sein wollte, wenn sie wollte, dass er am Leben blieb, war es am besten, die Sache mit ihm vollkommen zu beenden. Wie viele Jahre würde sie an ihn denken, von ihm träumen? Er wäre irgendwo auf der Welt, während sie hierblieb, für immer an ihre heilige Pflicht gebunden.

„Ich darf das Tal jetzt nicht mehr verlassen“, flüsterte Neona ihrer Schwester zu. War sie zu einer Gefangenen geworden, wie Minerva sie immer gewarnt hatte? Konnte sie den Rest ihres Lebens ohne Liebe leben? Ohne Zoltan?

Sie legte die Hand auf die Erde über dem Grab ihrer Schwester. „Zu ihm fühle ich mich hingezogen wie zu keinem anderen Mann. Er ist aufregend. Er überrascht mich. Bringt mich zum Lachen. Und zum Brennen.“ Sie vergrub die Finger in der Erde. „Er lässt mich das Unmögliche herbeisehnen.“

Und doch hatte er etwas an sich, das sich immer wieder in ihre Gedanken schlich. Letzte Nacht hatte er ihr das Messer abgenommen und sie herumgewirbelt, um sie zu packen, und das alles unglaublich schnell. Auch an seinen Augen war etwas merkwürdig gewesen. Sie war sich nicht mehr sicher, ob es nur eine Spiegelung des Feuers gewesen war. Und dann war es ihm noch irgendwie gelungen, aus der Hütte zu entkommen, ohne gesehen zu werden.

Ein geheimnisvoller Mann. Selbst das fand sie anziehend an ihm. Sie fand ihn geistig und körperlich im gleichen Maße aufregend.

Sie ließ den Klumpen Erde los und rieb ihre Hände aneinander. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken, wer er war oder wo er herkam. Sie durfte ihn nie wiedersehen. Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie blinzelte sie fort. Denk an etwas anderes.

Im Licht des drei Viertel vollen Mondes entdeckte sie den Pfeil, den Zoltan in der Nacht zuvor benutzt hatte, um ihr durch Zhan eine Nachricht zu überbringen. Er lag dicht neben ihr auf der Erde. Er musste ihn im Wald gefunden haben, wo sie in der ersten Nacht ein paarmal auf ihn geschossen hatte. Sie sollte zurückgehen, um die verschossenen Pfeile einzusammeln, aber sie durfte das Tal nicht verlassen. Sie durfte ihn nie wiedersehen.

Die Tränen begannen zu fallen.

„Neona“, flüsterte eine Stimme hinter ihr.

Eine männliche Stimme. Keuchend drehte sie sich um.

Er stand ein Stück den Berg hinauf am Waldrand. Seine Gestalt war noch halb in den Schatten verborgen, als er auf sie zutrat.

„Nein!“, flüsterte sie und sprang auf. Sie sah sich nervös um und rannte dann zu ihm. „Zoltan.“ Sie stieß ihn in den schützenden Wald zurück.

Er fasste sie an den Armen. „Geht es dir gut?“

„Nein! Du machst mir Angst. Wenn sie dich hier erwischen, bringen sie dich um!“

„Ich musste nachsehen, ob es dir gut geht.“

„Ja, bei mir ist alles gut. Jetzt geh bitte!“

„Du hast geweint.“ Er wischte ihr mit dem Daumen die Wange ab.

Diese einfache Geste ließ noch mehr Tränen kommen, und sie klammerte sich an ihn, während er sie fest in seinen Armen hielt. Nur ein paar Minuten, dachte sie, als sie ihm die Arme um den Hals schlang. Nach diesen paar Minuten würde sie ihn für immer loslassen.

„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht“, flüsterte er, ihr den Rücken reibend. „Hast du Ärger bekommen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nur die übliche Ansprache darüber, dass man Männern nicht vertrauen kann.“

„Mir kannst du vertrauen.“ Er ließ sie los und nahm eine Schachtel aus seiner Jacke. „Ich hatte dir versprochen, dir heute eine Uhr mitzubringen, und das habe ich getan.“

Sie nahm die Schachtel von ihm an und drehte sich auf der Stelle um, die Umgebung absuchend.

„Es ist niemand in der Nähe“, versicherte er ihr. „Ich habe schon nachgesehen.“

„Aber wie bist du hergekommen? Es gibt nur einen Weg in dieses Tal, und der wird bewacht.“ Sie sah sich noch einmal um. „Man muss dich gesehen haben.“

„Niemand hat mich gesehen.“ Er deutete auf die Schachtel. „Ich habe schon die Zeit für dich verändert.“

Wie war ihm das gelungen? Neona sah den Berg hinauf. Das Gebirge um Beyul-La war hoch und heimtückisch. Es brauchte mehrere Tage, um auf diesem Weg ins Tal zu kommen. Die einzige Gruppe, die es je versucht hatte, war Frederics Expedition gewesen, und bis auf ihn waren alle Teilnehmer gestorben.

„Ist schon gut, Neona“, sagte Zoltan leise.

Sie schüttelte den Kopf. „Du bist hier nicht sicher. Du hättest nicht kommen dürfen.“

„Ich habe dir eine Uhr versprochen, also konnte nichts mich aufhalten.“

Sie war entzückt. Er hielt sein Wort. Sie öffnete die Schachtel und starrte hinein. Das war etwas ganz anderes als die Taschenuhr, die Frederic gehört hatte.

„Die ist nicht so toll, ich weiß“, murmelte Zoltan. „Ich habe eine bessere bestellt …“

„Sie ist wunderschön“, flüsterte Neona und berührte die glitzernde Katze. „Viel zu schön, um sie in der Tasche zu verstecken.“

„Man trägt sie am Handgelenk. Hier, ich zeige es dir.“ Er nahm die Uhr aus der Schachtel und machte sie an ihrem Handgelenk fest.

„Die Farben sind so leuchtend.“ Sie betastete das Armband und keuchte erstaunt auf. „Es ist ganz stark und doch biegsam. Was ist das für ein wundersames Material?“

„Plastik“, murmelte er.

„Das ist ja fantastisch!“

„Ich besorge dir eine aus Gold und Diamanten …“

„Nein! Ich liebe diese hier.“ Sie lächelte über das glitzernde Kätzchen. „Zhan wird sie auch gefallen.“

„Ich habe ihn unten bei der Hütte gesehen.“

„Oh, gut.“ Sie drehte ihr Handgelenk und bewunderte, wie die Uhr im Mondlicht funkelte. „Ich habe ihn geschickt, um dich von der Felswand fernzuhalten, damit man dich nicht sieht.“ Seufzend löste sie die Uhr von ihrem Handgelenk. „Die darf auch niemand sehen.“

„Versteck sie, wenn du musst, aber bitte akzeptier sie.“

Sie sah zu ihm hoch.

„Akzeptier mich.“

„D-das ist unmöglich. Du musst begreifen, dass sie dich umbringen, wenn sie dich hier finden.“

„Ich bleibe in Frederics Hütte.“

„Ich fürchte, selbst dort ist es nicht sicher.“ Sie steckte die Uhr in den Leinenbeutel, der von der Schärpe um ihre Taille hing. „Du weißt zu viel.“

„Frederic muss auch etwas gewusst haben. Und er durfte hier leben.“

„Er war der Einzige.“ Neona blickte den Hügel hinab zu den Gräbern. „Calliope hat auf Knien um ihn gefleht.“

„Wie haben sie sich kennengelernt?“

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Wir haben die ganze Nacht lang Zeit.“ Zoltan setzte sich auf den Boden und klopfte auf den Platz neben sich.

Sie sah sich noch einmal um. Vielleicht war es hier wirklich sicher. Die anderen würden niemals glauben, dass es ihm gelungen war, sich an dem Wachposten vorbeizuschleichen. Sie setzte sich mit verschränkten Beinen neben ihn, während er die langen Beine ausstreckte und sich auf seine Ellenbogen stützte. Der Boden war weich durch ein dickes Polster aus getrockneten Nadeln der Pinien und Fichten.

Sie erzählte ihm die Geschichte von Calliope und Frederic, achtete aber darauf, nichts von der heiligen Pflicht der Frauen zu verraten.

„Es tut mir leid, dass ich sie nicht kennenlernen durfte“, sagte Zoltan. „Sie klingt sehr mutig.“

„Das war sie.“ Neona deutete auf den Grabhügel auf der rechten Seite. „Das dort ist Calliopes Grab.“

Er setzte sich auf, damit er die Hügel sehen konnte. „Welcher gehört deiner Schwester?“

Neona musste heftig schlucken. „Der dritte von rechts.“

„Sie hätte ich auch gerne kennengelernt. Wer sind die anderen?“

Sie sah ihn misstrauisch an. „Willst du das wirklich wissen?“

„Ja. Das ist dein Leben, und ich möchte daran teilhaben.“

Ihr stiegen wieder Tränen in die Augen. „Die anderen Hügel gehören zu denen, die in der Schlacht vor zwei Wochen gestorben sind. Nein, es sind jetzt schon fast drei Wochen. Vor fünf Tagen sind wir uns begegnet.“

Er nickte. „Fünf herrliche Tage.“

Sie lächelte ihn sehnsüchtig an und deutete dann auf die Grabhügel. „Neben Calliope liegt ihre älteste Tochter, Farah. Farahs Vater war ein persischer Soldat. Sie war … ein wenig älter als Winifred und Freya.“

„Ein paar Jahrhunderte älter?“

Nach einer Pause nickte Neona. Er wusste es bereits, es brachte also nichts mehr, deswegen zu lügen. „Neben Farah liegt meine Schwester, Minerva. Die nächsten beiden sind Lydias Töchter. Pemas Vater war Tibeter, und Mahimas Vater stammte aus Indien. Das letzte Grab gehört Lydias Mutter, Anjali.“

Zoltan verzog das Gesicht. „Lydia muss untröstlich sein.“

„Ja.“ Eine Träne lief Neona die Wange hinab. „Sie hat noch eine Tochter übrig. Tashi.“

„Was passiert, wenn eine von euch einen Sohn bekommt?“

Neona seufzte. „Calliope ist das passiert und auch meiner Schwester.“

Zoltan drehte sich zu ihr um. „Dann hast du einen Neffen? Wo ist er?“

„Die Königin hat ihn in ein buddhistisches Kloster dreißig Meilen von hier entfernt gebracht. Er müsste jetzt ungefähr sieben Jahre alt sein.“

Zoltan sah sie fassungslos an. „Die Königin ist seine Großmutter. Wie konnte sie ihn fortgeben? Wie könnte ein Kind euch hier schon schaden?“

Neona zuckte zusammen. Zoltans Einwände klangen so sehr wie ihre eigenen. „Ich weiß, unsere Gepflogenheiten ergeben keinen Sinn für dich.“

„Nein, tun sie nicht. Ihr beschwert euch, dass man Männern nicht trauen kann und dass sie euch verlassen, aber ihr habt selbst einen kleinen Jungen im Stich gelassen.“

„Ich weiß! Es hat meine Schwester fast umgebracht. Sie hat wochenlang nur geweint. Und danach war sie nie mehr ganz dieselbe. Ich glaube, sie hat in der letzten Schlacht nicht so gekämpft, wie sie gekonnt hätte.“

„Verdammt“, flüsterte er und nahm dann Neonas Hand. „Das tut mir leid.“

„Es war falsch. Das weiß ich jetzt.“ Sie blickte traurig auf das Grab ihrer Schwester, bis es ihr vor den Augen verschwamm. „Ich hätte für sie kämpfen müssen. Ich hätte darum kämpfen müssen, das Baby zu behalten.“

„Mach dir keine Vorwürfe. Du hast immer gesagt, dass Männer hier nicht gestattet sind. Es muss schwer sein, sich gegen jahrhundertealte Tradition aufzulehnen.“

„Ich mache mir aber Vorwürfe.“ Sie entzog ihm ihre Hand, als ihr eine Träne die Wange hinablief. „Ich schäme mich. Ich musste erst meine Schwester verlieren, ehe ich angefangen habe, die Dinge infrage zu stellen.“

„Kannst du mir sagen, was hier los ist? Was kann so wichtig sein, dass deine Schwester so ein Leid ertragen musste?“

Neona schniefte. „Wir haben eine … heilige Pflicht. Mehr kann ich dir nicht erklären. So ist es immer gewesen.“

„Aber manchmal können die Dinge sich mit der Zeit ändern.“

Sie schüttelte den Kopf. „Unser Pakt bindet uns in alle Ewigkeit.“

„Ein Pakt? Mit wem?“

Verdammt. Sie redete wieder zu viel. Sie atmete langsam ein und aus, um ihre Nerven zu beruhigen.

„Wie hat das alles hier angefangen?“, fragte Zoltan. „Warum seid ihr so überzeugt davon, dass Männer der Feind sind?“

Sie wischte sich die Wangen ab. „Das ist eine lange Geschichte.“

„Ich muss nirgendwo hin.“

Sie betrachtete ihn eingehend und fragte sich, wie viel sie ihm erzählen sollte, wie weit sie ihm vertrauen konnte. „Es hat angefangen, ehe ich geboren wurde.“

„Und wann war das?“

Sie biss sich auf die Unterlippe, weil sie nicht wusste, wie er reagieren würde. „Frederic hat geschätzt, dass ich über zweitausend Jahre alt bin.“

Zoltan atmete scharf ein. „Okay. Das habe ich mir auch in etwa gedacht.“

„Hast du? Wie?“

Einer seiner Mundwinkel hob sich. „Ich bin scheinbar intelligent. Und wenn ich das sagen darf, für dein Alter siehst du wirklich gut aus.“

„Stört es dich?“

Er schnaubte. „Ich bin der letzte Mann auf der Welt, der geglaubt hätte, dass er sich in eine ältere Frau verliebt.“ Er erstarrte plötzlich und sah sie entsetzt an. „Wenn du das Tal verlässt, wirst du dann zu einer zweitausend Jahre alten Leiche?“

„Nein. Ich würde nur anfangen, natürlich zu altern.“

Er stieß seinen Atem aus. „Das ist eine Erleichterung. Dann könntest du mit mir gehen.“

„Nein!“

Er nahm sie an den Händen. „Warum nicht? Du weißt, dass wir zusammengehören.“

„Ich habe es dir doch gesagt. Wir haben einen heiligen Pakt geschlossen. Ich muss hierbleiben, um meine Pflicht zu erfüllen.“

„Die da wäre?“

„Das kann ich dir nicht sagen.“

Stöhnend ließ er ihre Hände los und sich zu Boden fallen.

Sie sah sich um, damit sie sicher sein konnte, dass niemand in ihrer Nähe war.

„Na schön“, murmelte er. „Dann bleibe ich eben hier bei dir.“

Sie drehte sich zu ihm um. „Das geht nicht. Es ist nicht sicher …“

„Verdammt noch mal.“ Er starrte sie wütend an. „Du machst es einem wirklich schwer, dich zu umwerben.“ Als sie lächelte, hob er die Augenbrauen. „Findest du das lustig?“

Sie lächelte noch breiter. „Ich kann nicht anders. Ich mag, dass du mich nicht aufgeben willst.“

In seinen Augen funkelte es belustigt. „Dann hast du Glück, denn einen stureren Mann als mich wirst du nirgends finden. Ich gebe niemals auf.“

„Und bescheiden bist du auch.“

„Darauf kannst du dich verlassen.“ Er streckte sich und legte sich die Hände hinter den Kopf. „Erzähl mir, wie alles angefangen hat.“

„Wie was angefangen hat?“

„Dass ihr ein Kult aus männerhassenden Kriegerinnen mitten im Nirgendwo geworden seid.“

„Dich hasse ich nicht.“

„Du hast ein paarmal versucht, mich umzubringen.“

„Das war bedauernswert.“

„Warum?“ Seine Mundwinkel zuckten. „Weil es dir nicht gelungen ist?“

„Die Nacht ist noch jung.“

„Du kleines …“ Er zog sie hinab, bis sie auf dem Rücken lag, und beugte sich über sie. Als sie zu ihm hochlächelte, lächelte er zurück. „Du bist meine männerhassende Kriegerin, vergiss das nicht.“

Sie berührte seine Wange. „Werde ich nicht.“

„Gut.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Nase, legte sich dann neben sie und nahm sie in die Arme. „Dann erzähl mir die Geschichte.“

„In Ordnung.“ Sie sah zu den Sternen hinauf. „Vor vielen Jahrhunderten haben die Männer angefangen, Schwerter aus Eisen zu schmieden und einander damit umzubringen, um Land und Macht zu gewinnen. Es gab einen Maharadscha dort, wo jetzt Nordindien ist. Seine Armee hat große Teile von Indien, Pakistan und Nepal erobert, hat getötet und zerstört, ohne Gnade zu zeigen. Je mehr Land und Macht er sich aneignete, desto grausamer wurde er. Die Menschen in den umliegenden Gebieten zitterten vor Angst, dass seine Armee als Nächstes über sie herfallen würde. Die Dörfer haben versucht, ihn zu beschwichtigen, indem sie ihm ihre schönsten Mädchen als Konkubinen schickten.“

„Hat es funktioniert?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Wenn die Konkubine ihm gefiel, ließ er ihre Familie am Leben. Drei junge Frauen wurden zu ihm geschickt, eine aus Indien, eine aus Nepal und eine aus Tibet. Vor Angst und Verzweiflung wendeten sie sich einander zu und wurden Freundinnen. Nachdem der Maharadscha sie vergewaltigt hatte, waren sie verstört und nicht mehr dazu in der Lage, ihm die Ehrerbietung entgegenzubringen, nach der er verlangte. Er hat ihre Familien umgebracht und sie dann seinen Wachen überlassen.“

Zoltan verzog das Gesicht. „Was für ein Widerling.“

„Es wurde noch schlimmer. Der Maharadscha ist in der Schlacht gefallen, und sein Sohn und Erbe beschloss, dass einige Konkubinen seines Vaters bei seiner Beerdigung als menschliches Opfer dargebracht werden sollten. Die drei Frauen waren unter den Auserwählten.“

„Mist.“ Zoltan setzte sich auf. „Was wurde aus ihnen?“

Sie setzte sich ebenfalls auf. „Sie sind entkommen.“

„Ja!“ Er stieß seine Faust triumphierend in die Luft.

Sie lächelte, erfreut darüber, wie die Geschichte ihn fesselte. „Sie sind nach Norden in die Berge geflohen in der Hoffnung, die Soldaten, die sie verfolgten, dort von ihrer Spur abbringen zu können. Die Nepalesin wusste, wie man die Berge überquerte, und danach führte sie die Tibeterin. Sie fanden dieses Tal, genannt Beyul-La, und schworen, nie wieder einem Mann zu vertrauen.“

„Sind sie noch am Leben?“

Neona seufzte. „Nur eine. Meine Mutter, Königin Nima. Sie war die Tibeterin, die dieses verborgene Tal gefunden hat. Irgendwann hat sie bei einem griechischen Soldaten gelegen und Minerva und mich zur Welt gebracht, aber das geschah aus Notwendigkeit. Ich glaube nicht, dass sie je verwinden konnte, was der Maharadscha ihr angetan hat.“

„Wer waren die anderen?“

Neona deutete auf das letzte Grab auf der linken Seite. „Anjali stammte aus Nordindien. Sie hat bei einem griechischen Soldaten gelegen, um Calliope zu zeugen, und dann bei einem römischen Soldaten, um Lydia zu bekommen. Tashi, Winifred und Freya sind ihre Enkelinnen.“

„Und die Dritte? Die Nepalesin?“

Neona zog ihre Knie eng an sich. „Wir reden nicht gerne über sie.“

„Warum nicht?“

„Sie hat sich verliebt und uns verlassen. Die Königin hat sie gewarnt, dass man Männern nicht vertrauen kann, dass ihr Liebhaber sie hintergehen wird. Und das hat er getan. Er hat sie einen schrecklichen Tod sterben lassen.“

Zoltan sog langsam die Luft ein. „Wie war ihr Name?“

„Dohna.“

„Donna Maria“, flüsterte er.

Neona sah ihn an. Er sah schrecklich blass aus. „Ist alles in Ordnung?“

Er nickte. „Ich glaube, es war mir bestimmt, hierherzukommen. All die Jahre des Suchens, und endlich bin ich hier. Bei dir.“ Er drehte sich zu ihr um und hielt sie sanft an den Schultern. „Du bist es, auf die ich gewartet habe. Ich bin dabei, mich in dich zu verlieben.“

Ihr stockte der Atem. „Zoltan …“

„Neona.“ Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Liebst du mich auch?“

Ihr stiegen Tränen in die Augen. „Es ist unmög…“

„Wenn du mich liebst, ist nichts unmöglich.“

„Ich … ich möchte dir glauben.“

„Dann tu es.“ Er küsste sie auf die Stirn. „Glaube mir.“ Er küsste sie auf die Nase. „Vertrau mir.“ Er küsste sie auf den Mund. „Liebe mich.“

Sie schrie auf und schlang ihm die Arme um den Hals.

„Neona.“ Er zog sie fest an sich, strich dann mit der Nase ihre Wange entlang und ließ ihr Küsse folgen, bis er ihren Mund erreicht hatte.

Sie öffnete sich ihm, hieß ihn willkommen, liebkoste seine eindringende Zunge. Wie konnte sie ihn jemals aufgeben? Er war alles, wonach sie sich je gesehnt hatte, alles, wovon sie je geträumt hatte, alles, wonach ihr Körper sich je verzehrt hatte.

„Lass sie los! Sofort!“

Neona zuckte zusammen, als die Stimme ihrer Mutter erklang.

„Ihr seid umstellt.“ Nima stand hinter ihnen im Wald, das Schwert gezogen.

Neona sah sich entsetzt um. Winifred stand auf einer Seite, Freya auf der anderen, und beide hatten Pfeile angelegt und auf Zoltan gerichtet. Lydia stand ein Stück den Hügel hinab zwischen ihnen und den Gräbern, Pfeil und Bogen bereit. Auf diese kurze Distanz würde keine von ihnen danebenschießen.

Neona erfasste die Panik. „Nein!“

Zoltan drückte ihr die Schultern. „Bleib ganz ruhig.“

„Lass sie los und tritt zurück!“, brüllte Nima. Als er die Hände hob und ein paar Schritte zurückwich, deutete sie auf Lydia. „Töte ihn.“

„Nein!“ Neona warf sich vor ihn, als der Pfeil losgelassen wurde. Zoltan packte sie und drehte sich um, sodass er Lydia den Rücken zugekehrt hatte.

Sein Körper erstarrte, als der Pfeil ihn traf. Er fiel vorwärts auf Neona, und ein Zischen drang ihm dabei aus dem Mund. Er verzog das Gesicht, und den Bruchteil einer Sekunde sprangen seine Fangzähne heraus, ehe er den Mund schließen konnte.

Neona keuchte auf. Hatte sie das wirklich gesehen? Sie suchte in seinem Gesicht, entdeckte aber nur Schmerz in seinen Augen.

Er stöhnte vor Schmerzen, als Freddie und Freya ihn auf die Füße zwangen. Freddie fesselte ihn an den Handgelenken, während Freya ihm ein Seil um den Hals legte. Sie zerrten ihn zurück auf die mondbeschienene Lichtung, näher an die Gräber heran.

Neona erschrak beim Anblick des Pfeils, der ihm aus dem Rücken ragte, und dem dunklen Blutfleck, der sich auf seiner Jacke ausbreitete. Lydia legte einen weiteren Pfeil an und richtete ihn auf seine Brust. Nima ging auf ihn zu, das Schwert auf ihn gerichtet.

Neona rappelte sich auf. Sie musste die anderen irgendwie aufhalten. Aber hatte er wirklich Fangzähne gehabt? War er so etwas wie ein Monster?

„Wie geht es Ihnen? Mein Name ist Zoltan …“

„Habe ich dir die Erlaubnis zum Sprechen erteilt?“ Nima stieß ihn mit ihrem Schwert an.

„Tut ihm nicht weh!“ Neona rannte zu ihnen. Vielleicht hatte sie sich die Fangzähne nur eingebildet. Es war alles so schnell gegangen. Und es war dunkel.

Nima schnaubte verächtlich. „Bist du völlig von Sinnen? Dieser Mann hat unser Tal gesehen. Er wird noch heute Nacht sterben.“