Zoltan biss die Zähne zusammen, als das Seil ihm in den Hals schnitt.
Sie führten ihn mit sich wie einen verdammten Hund an der Leine. Der Pfeil in seinem Rücken tat höllisch weh. Glücklicherweise hatte die Königin nicht die Blutkonserven in seiner Jacke getroffen, als sie mit dem Schwert auf ihn eingestochen hatte. Sie hatte dabei kaum seine Haut angeritzt, die Wunde blutete viel weniger als die an seinem Rücken.
Trotzdem reichte der Duft nach so viel Blut aus, seine Vampirsinne zu stimulieren, und er brauchte jedes bisschen seiner Selbstkontrolle, um nicht der lodernden Kraft nachzugeben, die in seinen Adern schwelte. Ohne sie zu zügeln, hätten seine Vampirinstinkte dafür gesorgt, dass er sich freiteleportierte, der Königin ihr Schwert entriss und alle in Vampirgeschwindigkeit enthauptete. Innerhalb von Sekunden könnten sie alle tot sein. Na ja, alle außer Neona. Mit den Jahrhunderten hatte er ausgezeichnete Selbstkontrolle entwickelt.
Leise knurrend gestand er sich ein, dass es wahrscheinlich nicht die beste Möglichkeit war, ihr Vertrauen zu gewinnen, wenn er ihre Mutter und ihre Freundinnen enthauptete. Er musste diese Frauen davon überzeugen, dass er ihr Verbündeter war, also musste er freundlich zu ihnen sein. Keine glühenden Augen und Fangzähne.
Bei all den Schmerzen, die er ertrug, musste er sich fragen, ob er nicht eigentlich ein Idiot war. Er hätte sich direkt nach dem Abschuss des Pfeils fortteleportieren können. Doch nachdem Neona vor ihn gesprungen war, hatte sein einziger Instinkt daraus bestanden, sie zu retten. Er war so schockiert gewesen, dass er gehandelt hatte, ohne nachzudenken. In fast achthundert Jahren konnte er sich an niemanden erinnern, der je versucht hätte, ihn zu retten. Immer war er es gewesen, der für das Retten und das Beschützen zuständig gewesen war.
Aber Neona hatte versucht, ihn zu retten. Bedeutete es, dass sie ihn liebte?
Er sah sie von der Seite an, als sie an der Feuerstelle in der Mitte ihres kleinen Dorfes zum Stehen kamen. Vielleicht war ihre Liebe nur von kurzer Dauer. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn noch einmal retten würde, wenn sich die Gelegenheit ergab. Er hatte das Entsetzen auf ihrem Gesicht gesehen, als seine Fangzähne herausgesprungen waren.
Jetzt zweifelte sie an ihm, das spürte er. In ihrer Haltung lag eine misstrauische Distanz, und sie zögerte dabei, ihm in die Augen zu sehen. Sie sagte nichts, als eine der Frauen sein Seil um einen Pfahl wand und daran zog, bis er nur noch eine Fußlänge entfernt war. Er drehte sich, um ihr kleines Dorf ins Auge nehmen zu können, aber der Pfeil in seinem Rücken stieß gegen den Pfahl und sorgte für eine weitere Schmerzexplosion.
Hatten sie vor, ihn hier hinzurichten? Die Ironie traf ihn wie eine Faust in den Magen. Seine Mutter hatte man auf dem Dorfplatz an einen Pfahl gefesselt, und sein Vater hatte nichts getan, um sie zu retten. Jetzt, achthundert Jahre später, spielte sich die gleiche tragische Szene noch einmal ab. Würde Neona ihm den Rücken zukehren und ihn sterben lassen? Hielt sie ihn für eine Kreatur des Bösen, wie sein Vater es von seiner Mutter geglaubt hatte?
Er blickte zu Neona, aber sie hatte den Kopf abgewendet. Sie weigerte sich, ihn anzusehen.
Teleportier dich einfach nach Hause. Rette dich selbst, und vergiss sie. Ihm stiegen Tränen in die Augen. Er hatte gedacht, sie wäre die Eine, die Richtige. Wenn er jetzt ging, gab er damit zu, dass es vorbei war, dass sie ihn aufgegeben hatte. Er ballte die Hände zu Fäusten. Ertrag es nur noch ein paar Sekunden. Gib ihr eine Chance.
Die drei Frauen, die Bögen trugen, richteten ihre Pfeile auf ihn, und die Königin hob einen Arm. Jede Sekunde würde sie diesen Arm fallen lassen, und dann würden die Pfeile fliegen. Er sah Neona noch ein letztes Mal an. Tränen liefen ihr die Wangen hinab.
„Halt!“, schrie sie und kam gerannt, um sich vor ihn zu stellen.
Ihm zog sich das Herz in der Brust zusammen. Sie glaubte noch immer an ihn.
„Zur Seite!“, brüllte die Königin.
„Tötet ihn nicht.“ Neona fiel auf die Knie und legte die Hände wie zum Gebet zusammen. „Ich flehe Euch an, erweist uns die gleiche Gnade wie zuvor schon Calliope. Dieser Mann ist mein Partner.“
Zoltan öffnete den Mund, um ihr zuzustimmen, wurde aber von der Königin unterbrochen.
„Wir haben keine Partner! Selbst Calliopes Partner hat sie verlassen.“
„Aber wegen ihm haben wir Freddie und Freya.“ Neona deutete auf zwei Bogenschützinnen. „Ich könnte uns weitere Töchter schenken. Wir brauchen mehr Frauen, das wisst Ihr auch.“
Eine der Frauen ließ ihren Bogen sinken. „Das stimmt. Was schadet es, ihn am Leben zu lassen, bis er ein Kind gezeugt hat?“
„Ich stimme Freddie zu.“ Eine zweite Frau ließ ihren Bogen sinken. „Er könnte in der Hütte unseres Vaters leben.“
Das muss Freya sein, dachte Zoltan. Sie sah ihrer Schwester, Winifred, fast zum Verwechseln ähnlich. Der einzige Unterschied war der goldene Schimmer in Winifreds braunen Augen, während die von Freya ins Grüne gingen.
„Zu gefährlich“, sagte die dritte Bogenschützin. „Er könnte entkommen und anderen von uns erzählen.“
Die Königin nickte. „Lydia hat recht. Wir können ihm nicht erlauben, dieses Tal lebendig zu verlassen.“
„Er kann bei mir im Haus bleiben.“ Neona stand auf. „Bitte. Ich will so sehr eine Tochter.“ Sie sah sich nach Zoltan um, ohne ihm in die Augen zu sehen. „Dieser Mann ist stark und schmucken Antlitzes. Ich glaube, er könnte mir eine außerordentliche Tochter schenken.“
„Er scheint stark zu sein“, sagte Winifred. „Der Pfeil muss ihm schreckliche Schmerzen bereiten, aber er hat kein einziges Mal gestöhnt.“
„Leichtfüßig muss er ebenfalls sein“, fügte Freya hinzu. „Er hat es geschafft, sich an Tashi vorbeizuschleichen.“
Die Königin starrte ihn wütend an. „Wie hast du es an unserer Wache vorbeigeschafft?“
„Ich komme in Frieden …“
„Männer sind niemals friedlich“, zischte Nima und sah dann ihre Tochter an. „Siehst du, wie er vermeidet, uns die Wahrheit zu sagen? Man kann ihm nicht vertrauen. Er verdirbt dich und sorgt dafür, dass du deine heilige Pflicht vergisst.“
„Nein!“ Neona schüttelte den Kopf. „Es ist Teil unserer Pflicht, Töchter für die Zukunft zu zeugen. Dieser Mann kann mir eine schenken.“
Zoltan zuckte innerlich zusammen. War das nur eine Strategie, um ihn am Leben zu erhalten, oder empfand sie wirklich so? War er nicht mehr als ein Samenspender für sie?
Die Königin sah ihn angeekelt an. „Er wird dir nichts als Leid bringen. Lydia, bring Tashi her. Ich will wissen, wie dieser Mann sich an deiner Tochter vorbeischleichen konnte.“
Lydia wurde blass. „Ja, Euer Majestät.“ Sie verließ das Dorf.
„Winifred, reiß ihm den Pfeil heraus“, befahl die Königin. „Mal sehen, ob er so stark ist, wie du meinst.“
„Ja, Euer Majestät.“ Winifred reichte ihren Pfeil und Bogen an ihre Schwester weiter und trat dann hinter ihn.
Das Gesicht verziehend wendete Neona sich ab. Zoltan war sich nicht sicher, was sie empfand. Sie versuchte offensichtlich, ihn am Leben zu halten, aber gleichzeitig weigerte sie sich auch, ihm in die Augen zu sehen.
Er spürte, wie Winifred die Hände fest gegen seinen Rücken presste, und machte sich mit zusammengebissenen Zähnen bereit. Jede Sekunde war es so weit. Er schloss die Augen, damit niemand ihr Aufglühen bemerken konnte.
Brennender Schmerz explodierte entlang seines Rückens. Er keuchte auf, aber es gelang ihm, ein Stöhnen zu unterdrücken und seine Fangzähne nicht hervorspringen zu lassen.
„Er ist draußen“, verkündete Winifred hinter ihm. „Er verliert sehr schnell Blut.“
Er atmete zischend ein. Er würde trinken müssen. Bald.
„Ich lege dir die Hände auf, um dich zu heilen“, flüsterte Neona ihm zu. „Das stoppt die Blutung und nimmt dir den Schmerz.“
Er öffnete die Augen und sah sie streng an. „Das wirst du nicht tun.“
Sie hob den Blick, bis sie ihm in die Augen sah. „Es gibt keinen Grund für dich, Schmerzen zu leiden.“
„Ich werde nicht zulassen, dass du meinen Schmerz in dir aufnimmst.“
„Interessant.“ Winifred trat vor ihn und musterte ihn neugierig. „Ich glaube, er mag dich, Neona.“
„Ich habe ihr versprochen, ihr kein Leid zu bringen“, sagte Zoltan leise.
Neona wendete sich ab, aber in ihren Augen sah er Tränen glänzen.
„Das ist so … lieb.“ Winifred und ihre Schwester sahen sich amüsiert an.
Die Königin betrachtete ihn verächtlich. „Und schon fängt es an. Er wird euch täuschen, indem er euch Gefühle vortäuscht, und eure Zuneigung erschleichen, indem er lügt. Ich sollte ihn umbringen, ehe er euch alle verdirbt.“
Zoltan betrachtete die Königin. Wie hatte sie all die Jahrtausende an ihrem Hass festhalten können? Man sollte meinen, dass jemand nach ein paar Tausend Jahren irgendwann gelassener wurde. „Ihr müsst mich nicht umbringen. Ich werde eh bald verbluten.“
„Ich hole schnell Verbandszeug und Medizin.“ Neona rannte in eines der Gebäude.
Winifred betrachtete ihn, die Arme verschränkt. „Also, wie bist du Neona begegnet?“
„Wir haben uns vor fünf Tagen zum ersten Mal gesehen.“ Er versuchte sich an einer Verbeugung, aber das Seil um seinen Hals hielt ihn davon ab. „Höchst erfreut. Mein Name ist Zoltan.“
„Ich bin Freddie, und das ist meine Schwe…“
„Still!“ Die Königin warf Winifred einen wütenden Blick zu. „Er weiß jetzt schon zu viel.“
„Ich habe mich darauf gefreut, euch alle kennenzulernen“, fuhr Zoltan fort, als wären sie bei einem ganz normalen Zusammenkommen. „Ich habe auch Geschenke mitgebracht. Sie sind in der Hütte im benachbarten Tal. Eine Sammlung Jagdmesser und weitere Waffen. Ein paar Bücher …“
„Waffen?“, fragte Winifred.
„Bücher?“ Freyas Augen fingen an zu leuchten.
„Genug!“, befahl Nima verärgert. „Ist euch nicht klar, was er vorhat? Schmeichelei, Manipulation und Täuschung. Er versucht, uns zu vernichten.“
„Ich will helfen“, beharrte er. „Ihr seid in Gefahr durch Master Han und Lord …“
„Ich wusste es!“ Die Königin zog ihr Schwert und richtete es auf sein Herz. „Du bist ein Spion von Lord Liao.“
„Nein. Ich bin auf Eurer Seite.“
„Du lügst.“ Sie presste ihre Schwertspitze gegen seine Jacke.
Es würde ihm schwerfallen, die Königin zu überzeugen. Zoltan entschied, dass es Zeit war, seinen Trumpf auszuspielen. „Ihr könnt mir vertrauen. Ich bin diesem Ort durch mein Blut verbunden. Ich bin Dohnas Sohn.“
Keuchend wich die Königin zurück. Das Schwert fiel ihr aus der Hand und mit einem dumpfen Knall zu Boden.
Winifred und Freya sahen sich schockiert an, ehe sie sich wieder ihm zuwendeten.
In der Zwischenzeit kam der Leopard auf die Lichtung gerannt. Oh nein. Sie haben dich erwischt? Ich habe doch gesagt, du sollst dich nicht erwischen lassen. Warum bist du voller Blut?
Zoltan knirschte mit den Zähnen. Ich bin angeschossen worden.
Was machen wir denn da? Zhan rannte im Kreis um ihn herum. Ich weiß! Ich beiße die Königin in den Knöchel. Dann rennst du los. Neona kann mit uns zusammen im Wald leben, und wir gehen jeden Tag auf Kaninchenjagd! Das wird toll!
Kater, ich bin an einen verdammten Pfahl gefesselt.
Oh. Das ist ein Problem. Zhan versuchte, den Pfahl zu erklimmen, fiel aber auf halber Höhe wieder auf den Boden. Keine Sorge! Ich mache dich los. Er griff den Pfahl an und hieb mit seinen Krallen danach.
Zoltan schnaubte. In diesem Tempo würde der Kater ihn in ungefähr zwölf Stunden befreit haben. Er würde sich vorher teleportieren müssen, um der Sonne zu entgehen. Und wenn er nicht bald etwas zu trinken bekam …
„Du lügst!“ Königin Nima war aus ihrer Schockstarre erwacht, um ihn anzubrüllen.
„Es ist die Wahrheit“, sagte Zoltan. „Mein Vater war Graf Czakvar aus Transsilvanien. Er hat eine neue Frau aus dem Osten mitgebracht, die man Donna Maria genannt hat. Als die Mongolen 1241 in das Dorf einfielen, wurden die meisten seiner Bewohner getötet. Die Überlebenden haben Donna Maria die Schuld gegeben und sie eine Hexe genannt. Mein Vater hatte gerade seinen ältesten Sohn in der Schlacht verloren, und in seiner Verzweiflung …“
„Willst du seine Taten entschuldigen? Er war ein Monster!“ Nimas Gesicht wurde rot vor Wut.
Zoltan musste schlucken. Er hatte das ungute Gefühl, dass Neonas Mutter seinen Vater umgebracht hatte. Verdammt noch mal. Nachdem er achthundert Jahre die Wahrheit gesucht hatte, zögerte er jetzt davor, die endgültige Frage zu stellen.
„Euer Majestät.“ Winifred zog die Königin zurück. „Lasst Euch nicht von ihm aufregen. Er muss lügen.“
„Genau“, stimmte Freya ihr zu. „Wie kann er 1241 schon gelebt haben?“
Die drei Frauen stellten sich dicht zusammen, sprachen eindringlich auf Tibetisch miteinander und warfen ihm dabei verstohlene Blicke zu.
Kater, was erzählen sie? fragte Zoltan.
Zhan ließ von dem Pfahl ab, um zuzuhören. Sie fragen sich, wie du mehrere Jahrhunderte alt sein kannst. Die Königin ist sehr aufgebracht. Sie meint, Dohna hätte möglicherweise etwas von dem Wasser des Lebens mitgenommen, um es dir zu geben. Es darf nicht an einen Mann gegeben werden.
Wasser des Lebens? Das also war ihr Jungbrunnen. Zoltan sah sich um. Ist es der Bach, der hier durchs Tal fließt?
Nein, der Teich in der Höhle. Geh da aber nie rein. Wenn sie dich da erwischen, bringen sie dich mit Sicherheit um.
In dem Moment verließ Neona das Gebäude mit den Armen voll Verbandsmaterial. „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“ Sie eilte auf Zoltan zu. „Ich musste noch Verbände machen. Wir haben die meisten vor drei Wochen nach der Schlacht aufgebraucht.“
Zhan trottete auf sie zu und rieb sich an ihren Beinen. „Braves Kätzchen“, flüsterte sie, während sie eine Schüssel und einen Krug neben Zoltan auf den Boden stellte. In einem Korb befanden sich in Streifen gerissenes weißes Leinen und ein Tontopf. Sie zog das Messer aus der Hülle an ihrem Bein und schnitt durch die Seile, die seine Hände zusammenbanden.
„Neona“, flüsterte er. „Danke.“
Sie ignorierte ihn, ganz auf seine Hände konzentriert.
„Was machst du da, Neona?“ Die Königin nahm das Schwert, das sie fallen gelassen hatte.
„Seine Hände müssen frei sein, damit ich ihm die Jacke ausziehen kann.“ Neona legte ihr Messer weg, zog ihm dann die Jacke aus und warf sie zur Seite. Der Leopard kam gerannt, um an ihr zu schnüffeln.
Die Königin steckte ihr Schwert ein. „Du hast seine neueste Lüge verpasst. Er behauptet, Dohnas Sohn zu sein.“
Neona keuchte auf und sah ihm in die Augen. „Wie kann das sein?“
„Das fragen wir uns auch alle“, murmelte Nima mit einem Blick auf Winifred und Freya. „Wie kann er so lange überlebt haben?“
Neona wurde blass.
Erinnerte sie sich an die Fangzähne, die sie gesehen hatte? Zoltan sah sie eindringlich an und fragte sich, ob sie allen verraten würde, dass er ein Vampir war.
Sie griff wieder nach ihrem Messer, schnitt mit zitternden Händen durch sein T-Shirt und riss es auf. „Wir wissen nicht, ob Dohna einen Sohn hatte.“
„Du denkst also auch, dass er lügt?“, fragte Nima.
„Ich weiß nicht, was ich von ihm denken soll“, sagte Neona leise. Sie goss Wasser in die Schüssel, befeuchtete dann ein Stück Tuch und wischte das Blut aus der kleinen Stichwunde an seinen Rippen.
„Ich bin noch der Gleiche“, flüsterte Zoltan.
Sie ignorierte ihn und öffnete den Tontopf, um etwas Salbe daraus auf die kleine Wunde zu schmieren.
„Woher weiß er überhaupt von Dohna?“, verlangte die Königin zu wissen. „Hast du ihm von ihr erzählt?“
Neona zuckte schuldbewusst zusammen.
„Da siehst du, wie er deine Worte verdreht, um uns zu täuschen.“
Neona antwortete nicht. Sie nahm einen Streifen Leinen und wickelte ihn um seinen Oberkörper, um die kleine Wunde zu verbinden.
„Ich sage die Wahrheit“, erwiderte Zoltan. „Woher sonst sollte ich wissen, dass meine Mutter mit Vögeln und mit Tieren kommunizieren konnte? Die Dorfbewohner haben sie für eine Hexe gehalten und sie für den Angriff der Mongolen verantwortlich gemacht.“
„Und dann hat dein sogenannter Vater sie umbringen lassen?“, brüllte Nima. „Wenn du der bist, der du zu sein behauptest, dann bist du der Sohn des Mannes, der uns verraten hat!“
Neona sah ihn misstrauisch an, während sie den Verband verknotete.
„Auch ich mache meinem Vater Vorwürfe“, sagte Zoltan. „Ich habe versucht, meine Mutter zu retten. Man hat Steine nach ihr geworfen, und ich habe mich ihnen in den Weg gestellt. Und als sie eine Fackel geworfen haben, bin ich auf die Scheite gesprungen, damit sie kein Feuer fingen. Es hat mir den Rücken verbrannt …“
Neona schrie auf und stolperte zurück. „Du … oh mein Gott, du bist der Junge?“
„Du bist dort gewesen?“, fragte Zoltan. Es schien jetzt eindeutig, dass die Frauen von Beyul-La sein Dorf angegriffen hatten, aber ihm zog sich der Magen zusammen bei dem Gedanken an Neona bei einem Amoklauf.
„Du erinnerst dich an ihn?“, fragte Nima ihre Tochter.
„Als wir angekommen sind, hatten die Dorfbewohner den Scheiterhaufen gerade in Brand gesteckt. Dohna war bereits tot, und vor ihr auf dem Boden lag ein Junge.“ Neona drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu Zoltan um. „Du bist es. Deswegen habe ich angefangen, diesen Traum zu haben.“
Sie zog ihm das T-Shirt aus, während sie hinter ihn trat, und benutzte es dann, um ihm das Blut vom Rücken zu wischen. „Oh Gott. Du bist es wirklich.“
Sie stolperte vor ihn, und das blutige T-Shirt rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden. „Ich habe dich nicht erkannt. Oder vielleicht doch. Ich habe angefangen, den Traum zu haben.“ Sie betrachtete sein Gesicht. „Kannst du dich an irgendetwas erinnern?“
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin am nächsten Tag ein paar Meilen vom Dorf entfernt aufgewacht.“
„Also spricht er die Wahrheit?“, fragte Nima.
Neona nickte mit tränenfeuchten Augen. „Ich erinnere mich an die Brandnarbe. Und die Narben an seinem Rücken und seinen Schultern. Ich habe sie alle berührt und ihnen den Schmerz genommen.“
Zoltan konnte es kaum glauben. „Du … du hast mich geheilt?“
Eine Träne lief ihr die Wange hinab. „Als ich dich zum ersten Mal sah, wie du vor Dohna gelegen hast, wusste ich, dass du versucht hast, sie zu retten. Du warst dem Tode nah, also habe ich dich da weggeholt, um dich zu heilen.“
„Du hast mir das Leben gerettet“, flüsterte er. Neona war bei ihm gewesen, weit vom Dorf entfernt. Sie war damit beschäftigt gewesen, ihn zu heilen, statt die Dorfbewohner umzubringen. Unschuldige oder Mörderin? Seine Neona war unschuldig.
Er sah die Königin an. Kein Zweifel, dass sie Teil des Massakers gewesen war. Und da sie die Anführerin war, schien es sehr wahrscheinlich, dass sie auch diejenige gewesen war, die seinen Vater umgebracht hatte.
Die Königin bemerkte seinen Blick und erstarrte. „Warum bist du hergekommen? Willst du deinen Vater rächen?“
Er stöhnte innerlich auf. Anscheinend stimmte seine Theorie. „Ich wollte nur Antworten.“ Er atmete tief durch. „Im Augenblick will ich nur aufhören zu bluten.“
„Oh, natürlich! Tut mir leid.“ Neona nahm das feuchte Tuch, um ihm den Rücken zu säubern. Dann schmierte sie ihn mit etwas Salbe ein und wickelte einen Verband um ihn. „Diese Medizin stillt die Blutung und hält die Wunde sauber.“
Winifred trat näher heran. „Dann bist du wirklich Dohnas Sohn?“
Er nickte. „Ich war vierzehn, als sie gestorben ist.“
„Wie kannst du so lange überlebt haben?“, verlangte Nima zu wissen.
Neona hielt mitten im Binden der letzten Bandage inne. „Er muss sich ausruhen. Es ist ein Wunder, dass er noch aufrecht steht.“
„Woher wusstet ihr, dass Dohna in Schwierigkeiten ist?“, fragte er. „Wie seid ihr so schnell nach Transsilvanien gekommen?“
In den Augen der Königin blitzte die Wut wieder auf. „Du bist unser Gefangener. Du hast keine Fragen zu stellen.“
Der Leopard fauchte die Königin an und rannte dann weg, um sich hinter Zoltan zu verstecken.
„Ich sollte ihn in meine Hütte bringen, damit er sich ausruhen kann“, schlug Neona vor.
„Können wir uns die Geschenke von ihm ansehen?“, fragte Winifred die Königin.
„Morgen. Heute Nacht müssen wir uns dabei abwechseln, Neonas Haus zu bewachen.“ Nima sah Zoltan voll misstrauischer Verachtung an. „Lasst euch von seiner falschen Großzügigkeit nicht täuschen. Er will etwas von uns.“
Freya schnaubte. „Er will Neona in seinem Bett.“
Errötend leerte Neona die Wasserschale. „Dafür ist er zu geschwächt.“
„Wollen wir wetten?“, fragte er leise. Sobald er die zwei Plastikbeutel mit Blut getrunken hatte, die in seiner Jacke verborgen waren, würde er viel kräftiger sein.
Sie errötete noch tiefer, während sie ihr Verbandsmaterial einsammelte. Zhan stieß mit dem Kopf gegen ihr Bein.
„Wir sind zurück“, verkündete Lydia, die sich ihnen mit ihrer Tochter näherte.
Tashi sah Zoltan stirnrunzelnd an und ließ sich dann auf die Knie fallen. „Vergebt mir, Majestät. Ich weiß nicht, wie er mir entgehen konnte. Erlaubt Ihr, dass ich ihn für Euch töte?“
„Es wäre mir eine Ehre, ihr dabei zur Seite zu stehen“, bot Lydia an.
Zoltan stöhnte innerlich auf. Noch mehr blutrünstige Frauen.
„Ich habe entschieden, ihn leben zu lassen“, verkündete Nima. „Er ist Dohnas Sohn.“
Lydia keuchte auf und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Wie ist das möglich?“
„Es stimmt“, sagte Neona. „Er ist der Junge, den ich gerettet habe.“
Tashi stand auf und sah ihn dabei neugierig an. „Jetzt ist er kein Junge mehr.“
„Ich habe einen Namen. Zoltan.“
Lydia trat näher und musterte ihn. „Er sieht ihr wirklich ein wenig ähnlich. Die Form der Augen …“
„Hast du meine Mutter gekannt?“, fragte er.
Lydia seufzte. „Es hat uns allen das Herz gebrochen, als sie mit diesem Bastard gegangen ist.“
„Es freut mich, dass wir die Gelegenheit haben, Dohnas Blutlinie dorthin zurückzuführen, wo sie hingehört.“ Nima winkte in seine Richtung. „Dieser Mann wird uns mit Neona Dohnas Enkelin schenken.“
Lydia kniff die Augen zusammen. „Wenn er Dohnas Sohn ist, ist er auch der Sohn von diesem Bastard.“
„Das stimmt“, pflichtete Nima ihr bei. „Sein Vater hat Dohna auf schlimmste Weise hintergangen. Wir können es nicht wagen, diesem Mann zu vertrauen.“ Sie zog ein Messer aus ihrem Gürtel, legte es Zoltan an die Kehle und zerschnitt damit dann das Seil an seinem Hals. „Er wird als Gefangener in Neonas Haus bleiben, bis sie schwanger ist. Dann bringen wir ihn um.“