Mensch oder Monster? fragte Neona sich zum hundertsten Mal.
Er sah menschlich aus. Küsste wie ein Mensch. Blutete wie ein Mensch. Fühlte Schmerz wie ein Mensch. Und er war der Junge, den sie vor all den Jahrhunderten geheilt hatte. Ein Junge, der fast gestorben war, um seine Mutter zu beschützen.
Er war noch die gleiche edle Person. Er war zu dem Mann herangewachsen, der versucht hatte, sie zu beschützen, als er dachte, sie würde von einem Leoparden angegriffen. Der Mann, der einen Pfeil in den Rücken hingenommen hatte, damit sie nicht verletzt wurde. Er war der Mann, nach dem sie sich noch immer sehnte. Mensch.
Aber sobald sie sich davon überzeugt hatte, kam ihr wieder eine Erinnerung in den Sinn. Fangzähne, scharf und tödlich, die ihm aus dem Mund sprangen. Monster.
Sie schauderte trotz des heißen Wassers, in dem sie saß. Freddie und Freya hatten sie in ihr Haus geschleppt, um sie auf das vorzubereiten, was sie ihre Hochzeitsnacht nannten. Während sie die Wanne mit heißem Wasser und Blütenblättern füllten, hatten sie sie mit anrüchigen Scherzen geneckt. Freya hatte darauf bestanden, Neona die Haare mit einer besonderen Seife zu waschen, die sie aus Wildblumen kochte, die jeden Frühling in ihrem Tal blühten.
„Du hast so ein Glück“, sagte Freya, während sie Neona die Haare ausspülte. „Du hast dir so einen schönen Mann geschnappt!“
Mensch oder Monster? fragte Neona sich wieder, und ihre Panik stieg weiter an. Wie konnte sie die Nacht mit ihm verbringen?
„Er ist sehr stark und gut aussehend.“ Freddie suchte etwas in der Kiste am Fuß ihres Betts.
„Und dir so ergeben.“ Freya seufzte. „Wenn ich daran denke, wie er sein Leben riskiert hat, um hierherzukommen und dich zu sehen …“
„Ich weiß!“ Freddie zog ein Paar Slipper aus roter Seide heraus. „Und dann hat er sich geweigert, sie seinen Schmerz aufnehmen zu lassen.“
Freya seufzte wieder. „So ein schöner Mann!“
Oder ein schönes Monster. Neona zog in der kleinen Holzbadewanne die Knie an.
An der Tür klopfte es, und Tashi schlüpfte herein. „Er sagt, er möchte sich dreißig Minuten ausruhen.“
Freya schnaubte. „Wofür wohl.“
„Er sagt, er hat Neona eine Uhr geschenkt.“ Tashi sah sich im Raum um.
Neona zeigte auf ihre Kleider, die sie auf Freyas Bett abgelegt hatte. „In dem kleinen Beutel.“
Tashi und Freddie stürzten sich auf ihre Sachen und durchsuchten sie.
„Gefunden!“ Freddie zog die Uhr heraus. „Lieber Himmel! Ist die schön!“
Tashi berührte die Uhr ehrfürchtig. „Die Katze glitzert.“
„Eine Katze?“ Freya lief zu ihnen, um sie sich anzusehen. „Ich liebe Katzen!“ Sie nahm ihrer Schwester die Uhr ab. „Ich wünschte, ein Mann würde mir solche Geschenke machen.“
„Für uns sind auch Geschenke da, weißt du noch?“ Freddie setzte sich auf die Bettkante. „In der Hütte unseres Vaters.“
„Das ist so aufregend!“ Freya bewunderte die Uhr und grinste Neona dann an. „Du hast so ein Glück!“
Neona seufzte. Wie konnte es Glück sein, sich in einen Vampir zu verlieben? Sie gab es nur ungern zu, aber genau das musste er sein. Es erklärte die Fangzähne und wie er sich so schnell bewegen konnte. Die rot glühenden Augen mussten echt gewesen sein. War das ein Zeichen von Hunger? Wenn sie die Nacht mit ihm verbrachte, würde er sie dann als seine Braut ansehen? Oder wäre sie der Hochzeitsschmaus?
Tashi setzte sich neben Freddie auf das Bett. „Vielleicht sollten wir Neonas Mann akzeptieren. Immerhin ist er Dohnas Sohn. Und er will uns dabei helfen, Lord Liao zu besiegen.“
Freya legte die Uhr auf den Nachttisch. „Ich frage mich, ob er irgendwelche Freunde hat. Es ist so schwer, hier einen passenden Mann zu finden.“
Tashi zuckte mit den Achseln. „Ich habe einen gefunden.“
Freddie grinste. „Das haben wir uns schon gedacht.“
Tashi nickte. „Ich kann mich nur ein Mal im Monat mit ihm treffen.“ Ihre Schultern sackten zusammen. „Ich habe es so satt, ein Geheimnis daraus zu machen. Und ich habe es satt, den ganzen Weg ins Dorf zu gehen, nur um ihn sehen zu können. Ich wünschte, ich könnte dort leben. Oder er könnte hier leben.“
Freddie zuckte zusammen. „Das würde die Königin niemals erlauben.“
Tashi seufzte. „Ich weiß.“
Während Neona sich mit dem Kamm durch die langen nassen Haare fuhr, fragte sie sich, ob es an der Zeit war, dass ihre Welt sich veränderte. Warum musste Tashi eine so traurige Situation ertragen? Minerva war ebenfalls unglücklich gewesen. So unglücklich, dass sie den Lebenswillen verloren hatte.
Neona biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste, ihre Gedanken grenzten an Meuterei. „Wenn du ihn liebst, solltest du bei ihm leben. Was soll die Königin dir schon antun? Dich rauswerfen? Das ist doch genau, was du willst.“
Die anderen Frauen keuchten auf.
„Aber unsere heilige Pflicht“, flüsterte Freya.
„Die würde weiterhin erfüllt werden, solange wir anderen noch hier sind.“ Neona sah Tashi mitfühlend an. „Ich will nicht, dass du unglücklich bist.“
In Tashis Augen schimmerten Tränen. „Ich habe darüber nachgedacht, mit ihm wegzulaufen. Schließlich hatte ich noch zwei Schwestern, die sich um meine Mutter und meine Großmutter kümmern konnten. Aber ich hätte nie damit gerechnet, sie in der Schlacht zu verlieren. Großmutter auch. Meine Mutter leidet so sehr. Wie kann ich sie jetzt alleine lassen?“
Neona nickte. Fast drei Wochen waren seit der Schlacht vergangen, aber die emotionalen Wunden klafften immer noch weit offen in den Überlebenden.
Freya schniefte. „Ich wünschte, diese Schlacht wäre nie geschehen. Wie konnten wir fünf von uns verlieren?“
„Ich weiß!“ Freddie sprang auf. „Wir haben noch nie jemanden verloren. Wir sind bisher immer siegreich gewesen!“
Tashi verzog das Gesicht. „Ich habe in mehr Schlachten gekämpft, als ich mich erinnern kann. Wir hatten noch nie Probleme dabei, den Feind zu besiegen.“
„Wir mussten zuvor auch noch nie gegen einen Vampir kämpfen“, murmelte Freya.
„Stimmt. Wir haben immer gegen sterbliche Männer gekämpft.“ Tashi schauderte. „Dieser verdammte Vampir!“
Freddie ballte die Hände zu Fäusten. „Ich hasse Vampire!“
Neona zuckte zusammen. Wie konnte sie den anderen Frauen je gestehen, dass Zoltan zu den Untoten gehörte? Ihre Mutter suchte bereits nach einem Grund, ihn umzubringen. „Vielleicht sind einige Vampire gut. Wie dieser Russell. Er hat der Königin das Leben gerettet.“
Tashi legte nachdenklich den Kopf zur Seite. „Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte. Es kommt mir komisch vor, dass ein Vampir gut sein soll.“
Freya nickte. „Das ist, als würde man den Himmel grün nennen oder das Gras blau.“
„Aber er hat meiner Mutter das Leben gerettet“, beharrte Neona. „Und er hat versprochen, Lord Liao für uns zu töten.“
Freddie zuckte mit den Achseln. „Wenn man dem Versprechen eines Vampirs glauben kann.“
Seufzend wendete Neona sich wieder dem Kämmen zu. „Nicht nur Lord Liao ist das Problem. Seine Soldaten waren anders. Stärker und schneller als alle sterblichen Männer, die ich je gesehen habe.“
Freddie nickte. „Das stimmt. Sie hatten etwas Bizarres an sich.“
Freya winkte ab. „Lasst uns nicht mehr über die Schlacht reden. Wir sollten feiern! Neona hat einen herrlichen Mann gefunden, und bald werden wir ein neues kleines Mädchen haben!“
Wie konnte sie die Nacht mit einem Vampir verbringen? Mit zitternden Händen fiel es Neona schwer, den Kamm durch eine Klette in ihrem Haar zu bekommen.
Tashi sah sie besorgt an. „Ich hoffe, du verliebst dich nicht in ihn. Du weißt, was passiert, wenn du erst einmal schwanger bist …“
Der Kamm fiel Neona aus der Hand und platschend ins Badewasser. Sie könnte es nicht ertragen, Zoltan sterben zu sehen. Selbst wenn er Fangzähne hatte. Aber es gab einen einfachen Weg, seine Hinrichtung zu verhindern. Wenn sie nie mit ihm schlief, konnte sie auch nicht schwanger werden. Der Gedanke daran, mit ihm zu schlafen, war ohnehin zu beängstigend. Sie hatte gesehen, wie er auf einen Augenblick intensiven Schmerzes reagiert hatte. Was, wenn das Gleiche auch bei extremer Lust geschah? Würden seine Fangzähne hervorschnellen und sich in ihrem Hals vergraben?
„Lasst uns nicht an die Zukunft denken“, beschloss Freya. „Es ist Neonas erste Nacht mit einem neuen Partner. Sie muss perfekt werden!“
Freddie trat wieder an die Kiste am Fuß ihres Betts. „Ich finde, sie sollte das hier anziehen.“ Sie nahm ein weißes Kleid heraus, das mit rosafarbenen Blüten bestickt war.
Tashi keuchte. „Daran kann ich mich erinnern! Es hat Calliope gehört. Sie hat es zu der Zeremonie getragen, die sie mit Frederic gefeiert hat.“
Freddie legte das weiße Kleid auf ihr Bett. „Mutter hat uns davon erzählt. Vater hat sich geweigert, bei ihr zu liegen, ehe sie einander Treue geschworen hatten.“ Sie drehte sich mit leuchtend goldbraunen Augen zu Neona um. „Es wäre uns eine Ehre, wenn du es trägst.“
„Oh ja!“ Freya legte die Hände ineinander. „Sag ja, Neona. Unsere Mutter hat dich so gern gehabt.“
Neona stiegen Tränen in die Augen. Sie hatte Calliope auch geliebt. Als Heilerinnen hatten sie viel voneinander lernen können. „Das werde ich.“
„Ja!“ Freya sprang auf. „Du wirst wie eine echte Braut aussehen!“
Freddie grinste. „Du musst so aufgeregt sein!“
Neona wurde noch angespannter. Bald würde sie Zoltan gegenübertreten müssen, und sie wusste nicht, was sie tun oder zu ihm sagen sollte.
Tashi nahm die Uhr in die Hand. „Wir haben noch fünfzehn Minuten übrig.“
In Neonas Brust machte sich Panik breit. Mensch oder Monster? Wie konnte sie die Nacht mit ihm verbringen? Irgendwann würde er hungrig werden, und dann wäre sie die Einzige in seiner Nähe. „Habt ihr Wein da?“
Lachend griff Freddy nach dem Krug mit Reiswein. „Trinken wir etwas!“
Freya fand vier tönerne Becher und füllte sie. „Auf Neona und ihre Hochzeitsnacht!“
Zoltan teleportierte sich in Neonas Haus, als ihm nur noch drei Minuten blieben.
Eine der Truhen war fast leer. Minervas, nahm er an. Dort verstaute er seine Reisetasche und die kleine Kühlbox. Dann fing er an, zunehmend nervöser im Raum auf und ab zu gehen. Würde Neona ihn akzeptieren? Er erinnerte sich, wie entsetzt sie ausgesehen hatte, als seine Fangzähne herausgesprungen waren.
Er musste sie davon überzeugen, dass er ungefährlich war. Er sah hinab auf die Kleidung, die er sich neu angezogen hatte. Da er erwartete, ihr einen Heiratsantrag zu machen, hatte er sich schick angezogen, aber jetzt wurde ihm klar, dass die neuen Sachen sie erschrecken könnten. Es wäre besser, so auszusehen, wie sie ihn beim letzten Mal gesehen hatte. Ohne Oberteil, nur in Jeans.
In Vampirgeschwindigkeit zog er sich Anzug, Krawatte und Lederschuhe aus. Er nahm ein Paar Jeans aus der Reisetasche und zog sie an. Dann warf er die neue Kleidung in die Truhe, nicht ehe er daran gedacht hatte, die kleine schwarze Schachtel aus seiner Anzugtasche zu nehmen.
Er öffnete die Schachtel, um die Ringe zu betrachten. Hatte er den Verstand verloren, jemanden heiraten zu wollen, den er erst vor fünf Nächten kennengelernt hatte? Nein, berichtigte er sich. Begegnet waren sie sich zum ersten Mal im Jahre 1241, als Neona ihm das Leben gerettet hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie aber schon. Sie hatte von ihm geträumt. Und es war ihr Pfeil in Russells Köcher gewesen, der ihn hergeführt hatte. Es war seine Suche nach der Wahrheit, die ihn hergeführt hatte.
Die Wahrheit war, dass er sie liebte. Er hatte fast achthundert Jahre auf sie gewartet. Warum sollte er noch eine verdammte Nacht länger warten? Er hatte von Anfang an die Vermutung gehabt, dass ihre Schicksale miteinander verknüpft waren. Jetzt wusste er es mit Sicherheit.
Draußen klirrte etwas und dann wurde gelacht. Es klang, als würden Topfdeckel aus Metall aneinandergeschlagen. Er legte die Schmuckschachtel auf dem Bett ab und ging auf Socken zur Tür. Mit seinem Super-Gehör nahm er die Stimmen draußen wahr.
„Ihr seid alle betrunken“, schimpfte Lydia. „Wie wollt ihr die Nacht über das Haus bewachen? Wir dürfen den Gefangenen nicht entkommen lassen!“
Jemand schnaubte. „Ich glaube kaum, dass er heute Nacht entkommen will!“
Die anderen lachten.
Lydia war empört. „Lasst euch von der Königin nicht so sehen. Sie hat heute in der Höhle zu tun.“
Der Höhle? Wo das Wasser des Lebens war? Irgendwann würde Zoltan sich hereinschleichen müssen, um davon zu kosten. Er hatte dafür extra eine leere Flasche mitgebracht.
Der Riegel an der Tür quietschte. „Geh rein, Neona“, befahl Lydia. „Ihr anderen schlaft euren Rausch aus. Ihr könnt die Tagwache übernehmen.“
Zoltan trat zwischen die Betten zurück, damit es so nicht aussah, als hätte er gelauscht.
Als Neona hereingestolpert kam, stand ihm der Mund offen. Sie sah schöner aus als je zuvor. Sie roch nach Wildblumen und sah in weißer Seide einfach himmlisch aus. Den vorderen Teil ihrer Haare trug sie geflochten und um ihren Kopf gewickelt wie eine Krone. In den Zopf hatte sie Wildblumen gesteckt, die sie wie eine Märchenprinzessin aussehen ließen. Der hintere Teil ihrer Haare hing ihr offen den Rücken hinab wie ein glänzender schwarzer Vorhang. Eingestickt erblühten weitere Blumen auf ihrem weißen Seidenkleid und ihren roten Seidenschuhen.
Sie sah ihn an und riss die Augen auf. Als die Tür hinter ihr zuschlug, sprang sie erschreckt zur Seite und bekam einen Schluckauf. Sie zuckte zusammen und hielt sich eine Hand vor den Mund. Der trompetenförmige Ärmel ihres Kleides fiel zurück bis zu ihrem Ellenbogen und deckte auf, dass sie die Hello-Kitty-Uhr an ihrem Handgelenk trug.
Er lächelte. „Du siehst wunderschön aus.“
Sie runzelte die Stirn. „Du auch.“ Sie betrachtete seine nackte Brust und legte die Stirn in noch tiefere Falten. „Du hast den Verband abgemacht.“
„Er war ein wenig blutig, und ich wollte mich waschen.“ Er trat einen Schritt auf sie zu.
Sie wich zurück. „Haben die Wunden nicht geblutet?“
Er schüttelte den Kopf. „Die Salbe, die du daraufgetan hast, hat gut gewirkt.“ Er trat noch einen Schritt auf sie zu. „Danke, dass du mich gerettet hast. Zweimal.“
Sie trat an den Tisch. Die Schüssel und der Krug standen noch immer unberührt darauf. Sie spähte in den Krug und strich mit den Fingern über die trockene Schüssel.
Zweifellos fragte sie sich, wie er blitzsauber mit feuchtem Haar vor ihr stehen konnte. Sie sah ihn misstrauisch an und ging langsam um den Tisch herum.
„Vorsicht.“ Er trat auf sie zu, besorgt, dass ihr langes Kleid zu nah ans Feuer kam.
Sie nahm das Messer von dem nicht angerührten Teller mit Essen und richtete es auf ihn. „Komm nicht näher.“
Er seufzte. So viel zu seiner Hochzeitsnacht. Und das Messer war eindeutig nur dazu gedacht, Marmelade auf Brot zu streichen. „Du solltest dir ein schärferes Messer suchen, wenn du mich umbringen willst.“
Ihre Miene fiel in sich zusammen. „Ich will dich nicht umbringen.“
„Das erleichtert mich.“
„Ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll.“ Traurig betrachtete sie das Messer in ihrer Hand. „Vielleicht sollte ich den Esel anstechen.“ Sie hatte wieder einen Schluckauf. „Armer Esel.“
Zoltans Mundwinkel zuckten. „Ich glaube, du bist betrunken.“
Sie kniff die Augen zusammen. „Ich glaube, du lachst über mich.“
„Niemals.“ Er wischte sich das Lächeln vom Gesicht.
„Ich habe ein bisschen Wein getrunken. Vier Gläser. Nein, fünf.“ Sie reckte ihr Kinn. „Der ist jetzt in meinem Blut, ich warne dich. Ich schmecke bestimmt nicht gut.“
Seine Mundwinkel zuckten wieder. Sie würde ihm immer noch köstlich schmecken. „Hast du deswegen getrunken?“
„Teilweise. Aber ich wollte auch den Mut, um mit …“ Sie schwankte zur Seite und hielt sich gerade noch rechtzeitig am Stuhl fest.
„Mit mir zu schlafen?“
„Nein!“ Sie richtete das Messer auf ihn. „Ich kenne dein Geheimnis. Du bist ein Monster!“
„Ich kenne dein Geheimnis. Du bist eine zweitausend Jahre alte Schrulle.“
Sie keuchte empört auf. „Ich bin keine Schrulle!“
„Ich bin kein Monster.“
„Du hast Fangzähne!“
„Du hast graue Haare.“
„Wirklich?“ Erstaunt griff sie sich in die Haare, ohne daran zu denken, dass sie noch das Messer in der Hand hielt.
„Vorsicht!“ In Vampirgeschwindigkeit rannte er zu ihr, riss ihr das Messer aus der Hand und zog sie vom Kamin weg.
„Geh weg!“ Sie schubste ihn gegen die Brust.
Er ließ sie los, blieb aber vor ihr stehen.
„Weg!“ Sie schubste wieder, aber er rührte sich nicht. Sie schob ihn noch einmal von sich. „Du bist wie ein Felsen.“
Sie hielt inne, die Finger noch gegen seine Brust gedrückt. Ihre Augen wurden groß. „So … hart.“ Ihre Fingerspitzen gingen auf Erkundungstour. „Und doch weich.“
Er atmete zur Beruhigung tief durch, als sie mit den Fingern seinen Oberkörper hinabglitt und die nackte Haut streichelte. Er musste die Kontrolle behalten und durfte sie nicht damit verschrecken, dass seine Augen rot aufleuchteten.
„Du fühlst dich wie ein Mensch an“, flüsterte sie.
„Ich bin menschlich.“
„Nein!“ Sie ballte eine Hand zur Faust und schlug gegen seine Brust, um jeden Satz zu unterstreichen. „Du bist ein Vampir. Mit Fangzähnen. Du bekommst Hunger. Und du wirst mich beißen.“
„Werde ich nicht.“
„Ich vertraue dir nicht …“
„Ich werde dich nicht beißen. Hier, ich beweise es dir.“ Er ging zu der Holztruhe und nahm die kleine Kühlbox heraus. „Ich habe mir jede Menge Blut mitgebracht.“ Er zeigte ihr eine Flasche und öffnete sie, um ein paar Schlucke zu trinken.
Sie riss entsetzt die Augen auf.
Verdammt. Statt sie zu beruhigen, machte er ihr Angst. Er stellte die Flasche schnell zurück in die Kühlbox.
Sie hatte noch einmal einen Schluckauf. „Wo hast du das ganze Blut her?“
„Das ist synthetisches Blut. In einer Fabrik hergestellt.“
„Du hast es nicht … von jemandem abgezapft?“
„Nein, das wird künstlich hergestellt. Alle guten Vampire trinken synthetisches Blut. Wir greifen niemanden mehr an, um zu trinken.“ Er öffnete wieder die Holztruhe, um die Kühlbox hineinzustellen.
Sie stolperte näher, um schnell hineinzusehen. „Du hast Kleider hier? Wo hast du die her?“
„Ich bin kurz nach Hause gegangen. Ich kann mich innerhalb von Sekunden an einen anderen Ort teleportieren.“
Sie blinzelte ihn an. „So verschwindest du? Du tele…porkierst?“
Seine Mundwinkel zuckten. „Teleportierst.“
„Oh. Du hast dich also … nach Hause teleportiert?“ Als er nickte, sah sie ihn fassungslos an. „Warum bist du dann zurückgekommen?“
Ihm wurde ganz mulmig zumute. „Du … willst mich hier nicht haben?“
„Hier sind Menschen, die dich umbringen wollen. Wenn du auch nur ein wenig Verstand hättest, würdest du fortbleiben!“
„Dann machst du dir also Sorgen um mich?“ Er lächelte. „Ich bedeute dir etwas?“
Sie verschränkte die Arme. „Ich will nicht darüber reden.“
„Du meinst, du willst nicht zugeben, dass ich dir etwas bedeute.“
Sie sah ihn unverwandt an. „Warum bist du zurückgekommen?“
„Ich kann dich nicht allein hier zurücklassen, um alle Schuld auf dich zu nehmen. Nicht, wenn ich will, dass du mir vertraust.“ Er drehte sich um und schloss den Deckel der Holztruhe.
Neona verzog das Gesicht, als sie die Schusswunde an seiner Schulter betrachtete. „Wenn du dich teleportieren kannst, wohin du willst, warum bist du dann nicht verschwunden, als Lydia den Pfeil geschossen hat?“
„Der Pfeil hätte dich getroffen.“ Er sah sie streng an. „Wirf dich nie wieder so vor mich!“
„I-ich habe nicht nachgedacht.“
Er hob eine Augenbraue. „Man könnte auf die Idee kommen, dass ich dir etwas bedeute.“
„Das heißt gar nichts. Ich bin eine Heilerin. Es ist von Natur aus mein Instinkt, Menschen vor Schmerzen zu bewahren.“ Sie streckte die Hand nach seiner Schulter aus. „Soll ich dich jetzt heilen?“
„Nein.“ Er griff nach ihrer Hand. „Es wird in meinem Todesschlaf heilen.“
„Todesschlaf?“ Schaudernd nahm sie ihre Hand zurück. „Wenn alles verheilt, während du … schläfst, warum hast du dann noch immer die alten Narben auf deinem Rücken?“
„Da war ich noch sterblich. Erst vierzehn Jahre alt.“
Sie sah ihn einen Augenblick sehr ernst an und geriet dann wieder ins Schwanken.
Er hielt sie an den Schultern fest. „Vielleicht solltest du dich hinlegen.“
Sie schüttelte den Kopf, und eine der Wildblumen löste sich aus ihrem Zopf und segelte auf den Boden. „Ich kann nicht glauben, dass du es wirklich bist. Der Junge. Weißt du, dass du der einzige männliche Mensch bist, den ich je geheilt habe?“
„Das wusste ich nicht.“
Sie legte ihm die Hände auf die Brust und ging dann hinter ihn, wobei sie sich an ihm festhielt, um das Gleichgewicht zu halten. „Ich erinnere mich so deutlich daran.“ Sie berührte die Brandnarbe auf seinem Rücken. „Als wäre es gestern gewesen.“
Er atmete tief ein. „Ich bin noch die gleiche Person. Nur ein wenig älter.“
Sie berührte ein paar Narben an seinen Schulterblättern. „Diese habe ich zuerst geheilt.“ Sie fuhr mit der Hand seinen Nacken hinauf bis zu seinem Kopf und vergrub die Finger in seinem feuchten Haar, um ihm den Kopf zu streicheln. „Hier hattest du einen schlimmen Schnitt. Angeschwollen und blutend. Das war der Schlag, von dem du bewusstlos geworden bist.“
Er schloss die Augen, um das Gefühl ihrer Finger zu genießen.
Sie fuhr mit der Hand seinen Hals hinab bis zu der roten Narbe, die seinen Rücken verunstaltete. „Hier hatte ich Angst, dich anzufassen. Ich wusste, es würde schrecklich wehtun.“
„Aber du hast es getan. Du hast mich gerettet.“
„Ich habe von diesem Tag geträumt, seit wir uns das erste Mal im Wald wieder begegnet sind. Irgendwie habe ich tief in mir drinnen gewusst, dass du es bist.“
Er drehte sich langsam zu ihr um. „Dann bin ich der Mann deiner Träume.“
Sie musste wieder hicksen. „Oder ein Albtraum.“
Er zupfte ihr eine Wildblume aus den Haaren. „Ich würde dir niemals wehtun.“
„Du tust mir weh. Mein Herz schmerzt wegen dir.“
„Liebstes.“ Er fuhr ihr mit der Blume die Wange hinab. „Es muss nicht wehtun. Wenn du mich so akzeptieren kannst, wie ich bin …“
„Du bist ein Vampir.“
„Der dich liebt.“ Er küsste sie auf die Stirn.
„Das solltest du nicht sagen.“
„Aber es stimmt.“ Er küsste sie auf die Nase.
„Warum küsst du mich?“
„Weil ich dich liebe.“ Er fuhr mit den Lippen über ihre. „Wir waren von Anfang an füreinander bestimmt.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe Angst, dass du mich beißt.“
„Ich habe dich schon geküsst, ohne dich zu beißen.“ Er vergrub die Nase an ihrem Hals. „Ich habe an deinem Hals geknabbert, ohne dich zu beißen.“ Er legte die Hand um ihre Brust. „Ich habe deine Brüste geküsst, ohne dich zu beißen.“
Sie stöhnte und sah ihn unter schweren Lidern an. Dann zuckte sie zusammen und schreckte zurück. „Deine Augen werden rot!“
„Das bedeutet nur, dass ich dich begehre …“
„Nein!“ Sie griff nach dem Messer, das auf den Boden gefallen war. „Ich habe mich entschlossen, und nichts wird mich umstimmen.“ Sie richtete das Messer auf ihn. „Ich werde nicht mit dir Unzucht treiben.“
Er hob seine Augenbrauen. „Gut. Ich würde dich auch viel lieber lieben.“
„Das ist noch schlimmer!“ Sie gestikulierte mit dem Messer. „Geh ins Bett.“
„Komm mit mir.“
„Nein! Das ist dein Bett. Das hier ist meins.“ Sie kroch auf das andere Bett und lehnte sich dann an die Wand, die Knie an die Brust gezogen. Sie hatte eine Hand um die Knie gelegt und richtete mit der anderen das Messer wieder auf ihn.
Seufzend setzte er sich auf die Kante des anderen Betts. „Das Messer brauchst du nicht, Neona. Ich verstehe, wenn man Nein zu mir sagt.“
Sie runzelte die Stirn und schloss die Hand fester um den Messergriff. „Ich musste noch nie die Nacht allein mit einem Vampir verbringen.“
„Ich werde dir nicht wehtun.“ Er nahm die schwarze Schachtel vom Bett und stellte sie auf den Nachttisch. Es sah nicht so aus, als würde er in dieser Nacht noch zu seinem Antrag kommen.
„Was ist in der Schachtel?“
„Das zeige ich dir später.“
Sie gähnte.
„Du bist es gewohnt, in der Nacht zu schlafen, nicht? Du kannst schlafen, wenn du möchtest.“
„Ich muss dich im Auge behalten.“
Er schnaubte. „Meinst du, ich fliege durch den Raum und greife dich an?“
„Bist du nicht so zum Vampir geworden? Hat nicht ein anderer dich angegriffen?“
Er seufzte. „Manchmal passiert es so. In meinem Fall habe ich darum gebeten.“
Sie riss schockiert die Augen auf. „Warum solltest du so etwas getan haben?“
„Ich habe innerhalb von einer Woche meinen Bruder und meine Eltern verloren. Ich war vierzehn Jahre alt und plötzlich ein Graf, verantwortlich für eine zerstörte Burg und ein niedergebranntes Dorf. Der einzige Freund, der mir noch blieb, war ein alter Vampir. Istvan. Er hat mir mit Rat und Geld zur Seite gestanden, damit ich die Burg und das Dorf wieder aufbauen konnte. Er hat mir dabei geholfen, die Mongolen zu schlagen, als sie ein zweites Mal eingefallen sind. Und er hat mein Reich beschützt, wenn ich auf der Suche nach Antworten war.“
„Er war ein guter Freund“, flüsterte Neona.
Zoltan nickte. „Mein bester Freund. Und mir wie ein zweiter Vater. Ich hatte den Pfeil, mit dem mein echter Vater erschossen wurde, und habe jeden Sommer damit verbracht, nach jenen zu jagen, die ihn ermordet und mein Dorf zerstört haben.“
„Ich bin mir nicht sicher, wer deinen Vater umgebracht hat.“
„Ich weiß.“ Er lächelte sie an. „Du bist bei mir gewesen und hast mich geheilt. Aber ich wollte trotzdem Antworten, und ich habe nicht aufgegeben.“
Ihr Blick wurde weich. „Du bist schon immer stur gewesen.“
„Ja. Als ich neunundzwanzig wurde, habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen, dass ich zu alt und gebrechlich werden würde, um mit der Suche weiterzumachen, deshalb habe ich Istvan gebeten, mich zu verwandeln. Und das hat er getan. Er sagte etwas davon, dass meine Mutter eine uralte Seele war und dass er immer gewusst hätte, mir stünde das gleiche Schicksal bevor. Für mich hat es damals keinen Sinn ergeben, aber jetzt tut es das.“
„Was ist aus Istvan geworden?“
„Er ist im großen Vampirkrieg von 1710 gestorben.“
Sie blinzelte. „Es gab einen Vampirkrieg?“
„Ja.“ Seine Mundwinkel hoben sich. „Keine Sorge, die Guten haben gewonnen.“
„Aber du hast deinen besten Freund verloren. Du musst daraufhin sehr einsam gewesen sein.“
„Jetzt nicht mehr.“ Er lächelte sie an. „Ich habe dich gefunden.“
Sie runzelte die Stirn. „Lächle mich nicht an. Das fühlt sich komisch an.“
Er lächelte noch breiter.
Sie biss sich auf die Unterlippe. „Dann gibt es wirklich gute Vampire, die gegen die bösen kämpfen?“
Er nickte. „Wir bekämpfen sie seit Jahrhunderten. In letzter Zeit kämpfen wir gegen Master Han und seine Vampir-Lords. Du hast Russell kennengelernt. Er ist entschlossener als jeder andere, Master Han zu töten.“
„Du kennst Russell?“
„Ja. Er kommt zweimal im Monat zu mir in die Burg, um sich mit Blut und Waffen einzudecken. Es war dein Pfeil in seinem Köcher, der mich dazu gebracht hat, in jener ersten Nacht nach euch zu suchen.“
„Oh.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich habe Russell gebeten, den Pfeil zu benutzen, um Liao umzubringen. Er ist das Monster, das meine Schwester ermordet hat.“
„Wir werden ihn erwischen. Die anderen beiden Lords haben wir bereits umgebracht. Und wir haben den Dämon Darafer vernichtet.“
Sie zuckte zusammen. „Einen Dämon gab es auch?“
„Ja. Keine Sorge. Wir werden Lord Liao und Master Han besiegen. Du kannst uns vertrauen.“ Zoltan spürte, wie die aufgehende Sonne anfing, ihn in den Schlaf zu zerren. Er stand auf und ließ seine Jeans fallen.
Sie erstarrte. „Was machst du da?“
„Die Sonne geht bald auf.“ Er warf die Jeans auf die Holztruhe. „Ich mache es mir bequem.“ Er streckte sich auf dem Bett aus und zog sich die Decke bis zur Hüfte, sodass sie mit dem Saum seiner schwarzen Boxershorts abschloss.
„Du schläfst gleich ein?“
„Todesschlaf.“ Er drehte sich auf die Seite, um sie anzusehen. „Ich werde vollkommen ungeschützt sein. Ich vertraue darauf, dass du mich beschützt.“
Sie sah ihm suchend in die Augen. „Warum vertraust du mir?“
„Du hast mich zweimal gerettet. Ich glaube nicht, dass du mich jetzt auf einmal sterben lassen würdest.“
„Was bedeutet Todesschlaf?“
„Ich werde tot sein. Und bei Sonnenuntergang wache ich wieder auf.“
„Wie kannst du aus dem Tod wieder erwachen?“
„Ich bin mir nicht sicher. Nur verdammt dankbar, dass es immer wieder passiert.“
Sie runzelte die Stirn. „Tut es weh? Wenn du stirbst?“
„Ein wenig“, log er. Dann setzte er sich entsetzt auf. „Wenn es aussieht, als hätte ich Schmerzen, wenn ich in den Todesschlaf falle, fass mich nicht an. Verstanden? Das ist der Schmerz des Todes, und wenn du den in dich aufnimmst, würdest du wahrscheinlich selbst sterben.“
Sie wurde blass und nickte.
Er legte sich wieder hin, als ihn eine neue Welle der Müdigkeit überkam. „Warum keine Unzucht?“
„Ist das nicht offensichtlich? Sie bringen dich um, sobald ich schwanger bin. Ich kann dein Leben also am besten schützen, indem ich dafür sorge, dass ich nie schwanger werde.“
„Du weist mich also zurück, weil ich dir etwas bedeute.“
„Ich will nicht, dass du wegen mir umgebracht wirst.“ Sie zog ihre Knie enger an sich. „Und ich vertraue dir nicht. Ich habe gesehen, wie deine Fangzähne unter starken Schmerzen hervorgesprungen sind. Sie tun es vielleicht wieder, wenn du … starke Lust empfindest.“
„Du glaubst, ich würde dich während des Höhepunkts beißen?“
„Ja.“ Ihre Wangen färbten sich rosa, während sie ihn misstrauisch ansah. „Kommt das gewöhnlich vor?“
Er gähnte. „Ich habe es unter Kontrolle.“
„Es wäre leichtsinnig von mir, dir zu vertrauen.“
„Ich verstehe. Vertrauen muss man sich verdienen.“ Er spürte, wie die Sonne ihn stärker in das tiefe schwarze Loch zerrte, aber er kämpfte darum, noch bei Bewusstsein zu bleiben. „Wir fangen klein an. Wenn ich dich dann nicht beiße, machen wir mit etwas Größerem weiter. Einverstanden?“
Sie nickte schläfrig. „Ich glaube schon.“
„Schön. Dann bekommst du morgen von mir einen kleinen Höhepunkt, und ich werde dich nicht beißen.“
Sie blinzelte. „Was?“
„Ich weiß.“ Er gähnte. „Du wolltest zehn. Wenn wir alle zehn Höhepunkte hinter uns gebracht haben, ohne dass ich dich beiße, dann weißt du, dass du mir vertrauen kannst. Und dann lieben wir uns.“
„Was? Dem kann ich nicht zustimmen!“
„Das hast du aber schon.“ Eine letzte Welle ergoss sich über ihn und riss ihn schmerzhaft mit sich. Mit seinem letzten Atemzug flüsterte er: „Morgen.“