Neona spähte durch das offene Tor des Klosters.
Im Hof war es leer. Der beruhigende Klang singender Männerstimmen drang aus dem kleinen Tempel in seiner Mitte. Eine Steinmauer, die mit Tonziegeln gedeckt war, fasste das quadratische Gelände auf allen vier Seiten ein. An der rechten Mauer verlief eine Reihe aus einstöckigen Gebäuden. Privatzimmer, nahm sie an, wegen der vielen Türen. Links stand eine Reihe niedriger Tische mit Körben voller Reis und Gemüse. Ein paar Hühner pickten auf dem Boden.
Zoltan zog an der Kette neben dem Tor, und über ihnen ertönte eine Glocke. Der Gesang im Tempel verstummte.
Neona zuckte zusammen. Hoffentlich fanden die Mönche es nicht unhöflich, unterbrochen zu werden.
Zwei Mönche, glatzköpfig und in dunkelrote Kutten gekleidet, kamen aus dem Tempel. Sie legten die Hände aneinander und verneigten sich.
Neona verneigte sich ebenfalls.
Der am ältesten aussehende Mönch kam zwei Stufen herunter und steckte die Füße in Schlappen aus gewebtem Gras. Als er auf sie zukam, wanderte sein scharfer Blick immer wieder zwischen ihr und Zoltan hin und her. Im Tempel setzte der Gesang wieder ein.
„Wie kann ich Euch helfen?“, fragte er auf Tibetisch.
Neona verneigte sich noch einmal. „Ehrwürdiger Vater, ich entschuldige mich, Eure Meditation unterbrochen zu haben.“
Der Mönch lächelte freundlich. „Normalerweise schlafen wir um diese Zeit, aber einer unserer jüngsten Brüder hat die Gabe des Hellsehens und hat eine Vision gehabt.“ Er sah sich um. Sein Lächeln verblasste. „Eine Vision von nahendem Unheil.“
Neona fragte sich, ob der junge Mönch gespürt hatte, dass Lord Liao im Anmarsch war. Sie sah Zoltan besorgt an, doch dann wurde ihr klar, dass er keine Ahnung hatte, was sie auf Tibetisch sagten. Sie würde es ihm später erzählen müssen.
Der ältere Mönch legte den Kopf zur Seite und betrachtete erst sie, dann Zoltan. „An Euch kann ich nichts Böses spüren.“ Er richtete den Blick wieder auf sie. „Aber in Eurem Herzen ist Traurigkeit.“
War das so einfach zu erkennen? Neona stählte ihre Nerven, damit sie nicht weinte. „Ja. Ich habe vor drei Wochen meine Zwillingsschwester verloren. Und sie hat vor sieben Jahren ihren Sohn verloren. Es war für sie ein schrecklicher Schlag, von dem sie sich nie richtig erholt hat. Der Junge wurde hierhergebracht …“
„Ah.“ Der Mönch nickte. „Ihr sprecht von Norjee.“
Sein Name war Norjee. Obwohl sie sich heftig anstrengte, stiegen Neona Tränen in die Augen. „Geht es ihm gut? Kann ich ihn sehen?“
„Natürlich.“ Der alte Mönch deutete auf die Gebäude auf der rechten Seite. „Kommen Sie hier entlang.“ Auf halbem Weg zu den Gebäuden blieb er stehen, um mit dem zweiten Mönch zu sprechen, der noch immer auf den Tempelstufen stand. „Bringst du uns bitte Tee und den Jungen Norjee?“
Der zweite Mönch verneigte sich und ging dann die Stufen herunter.
Der erste Mönch führte sie zu der ersten Tür der Gebäude, ließ seine Schlappen auf der ersten Stufe, erklomm dann die zweite und öffnete die Tür.
Neona zog ihre Slipper aus. Zoltan, der alles genau beobachtete, zog ebenfalls seine Schuhe aus und folgte ihr in das Gebäude.
Es war ein kleiner Raum mit einer aufgerollten Matte an der Wand neben einem Buchregal voll alter Pergamentrollen. In der Mitte stand ein niedriger Tisch. Der Mönch setzte sich mit verschränkten Beinen an den Tisch und bedeutete den beiden, sich zu ihm zu setzen.
Nachdem sie sich hingesetzt hatten, atmete der Mönch tief durch. „Darf ich das so verstehen, dass die Mutter des Jungen ihn nicht unserer Obhut überlassen wollte?“
Neona schüttelte den Kopf. „Es war unsere Mutter, die das Kind hierhergebracht hat.“
Der Mönch sah Zoltan an. „Ist dieser Mann der Vater des Jungen?“
„Nein.“ Neona nahm Zoltans Hand in ihre. „Er ist mein Verlobter. Als ich ihm gesagt habe, dass ich den Sohn meiner Schwester finden und wie mein eigenes Kind aufziehen will, hat er sich bereit erklärt, mir zu helfen.“
Der Mönch nickte anerkennend.
Der zweite Mönch kam mit einem Tablett wieder, auf dem eine Teekanne und drei kleine Becher standen. Er setzte das Tablett auf dem Tisch ab. „Ich bringe jetzt den Jungen.“ Er verneigte sich und ging.
Der alte Mönch schenkte drei Becher Tee ein. „Ich will Euch nicht anlügen. Norjee aufzuziehen war … eine kleine Herausforderung.“ Er lächelte. „Wir sind hier nur ein Dutzend Ordensbrüder, und manchmal kommt es uns vor, als hätte Norjee mehr Energie als wir alle zusammen.“
Neonas Magen verkrampfte sich schmerzlich. „Ist er schwierig gewesen?“
Der Mönch sah sie mitfühlend an. „Bitte versteht mich nicht falsch. Wir lieben den Jungen. Und er liebt uns. Aber wir sind eine Gruppe alter Männer. Wir verbringen unsere Tage mit der Arbeit auf dem kleinen Reisfeld oder bei der Pflege der Tiere. In unserer Freizeit lesen wir, meditieren oder beten. Das sind keine interessanten Zeitvertreibe für einen Jungen wie Norjee, der so voller Leben steckt.“
„Ich verstehe.“ Neona trank etwas Tee.
Der Mönch nahm ebenfalls einen Schluck. „Er ist eine Herausforderung und ein Segen zugleich gewesen. Eine Herausforderung, weil es uns schwerfällt, ihn zu überzeugen, seinen Aufgaben nachzukommen. Aber ein Segen, weil er die Welt als einen Ort voller Wunder ansieht, als wäre jede kleinste Begebenheit zum Staunen, und diese Augenblicke sind kostbar für uns. Er ist uns eine Freude.“ Der Mönch seufzte. „Eine Freude, die wir nicht kontrollieren können. Es kam uns sogar falsch vor, es überhaupt zu versuchen. Denn er ist ein Kind mit einer besonderen Gabe.“
Neona erstarrte. „Was für eine Gabe?“
„Er kann mit den Vögeln der Lüfte kommunizieren.“
Sie atmete scharf ein. Er hatte Minervas Gabe geerbt! Er würde in der Lage sein, mit den Drachen zu kommunizieren.
„Schon als er noch ein Säugling war, sind Vögel auf seine Fensterbank gekommen und haben ihm zugezwitschert“, fuhr der Mönch fort. „Erst als er älter war und sprechen konnte, verstanden wir, was geschah. Er war erst drei Jahre alt, als er zum ersten Mal versucht hat wegzulaufen. Er hat behauptet, die Vögel könnten jederzeit wegfliegen, also sollte er so sein dürfen wie sie. Wir hatten schreckliche Schwierigkeiten damit, ihn zum Bleiben zu überreden. Immer wenn er seine Aufgaben erledigen sollte, ist er weggerannt, um den Nachmittag bei einer Adlerfamilie zu verbringen. Die Adlermutter hat ihn nach seinen Eltern gefragt, und im Gegenzug hat er uns nach seinen Eltern gefragt. Warum lebte er nicht bei einer Mutter und einem Vater, so wie die kleinen Adler?“
Die Tür öffnete sich, und der zweite Mönch verkündete: „Er ist nicht in seinem Zimmer. Wir können ihn auf dem ganzen Gelände nicht finden.“
Neona sprang auf. „Er ist weggerannt?“
„Keine Sorge.“ Der erste Mönch stand langsam auf. „Norjee macht das wenigstens einmal die Woche. Er kommt zurück, wenn er Hunger bekommt.“
„Er ist allein im Wald unterwegs?“, frage Neona. „Er ist erst sieben Jahre alt!“
Zoltan stand auf und flüsterte: „Was ist los?“
„Er ist irgendwo im Wald“, antwortete sie ihm auf Englisch.
„Er ist niemals allein“, versicherte der Mönch ihr. „Nicht, solange er mit den Vögeln reden kann. Kommen Sie. Wir rufen ihn.“
Sie eilten ans Tor, und der Mönch läutete die Glocke.
Sie sah sich um. Hinter dem Reisfeld wirkten die Wälder bedrohlich dunkel. „Mir gefällt das nicht. Es gibt Wölfe, Bären und Wildkatzen dort.“
„Ich werde sehen, was ich tun kann“, sagte Zoltan zu ihr.
Das Läuten der Glocke ließ weitere Mönche am Tor erscheinen. Als sie erfuhren, dass Norjee vermisst wurde, kehrten sie in den Tempel zurück, um zu beten.
Nach einigen qualvollen Minuten entdeckte Neona am Waldrand eine Bewegung.
„Da ist er.“ Zoltan zeigte auf ihn.
Bald darauf konnte sie ihn im Mondlicht erkennen. Eine Fuchsfamilie führte ihn zurück, und mehrere kleine Vögel kreisten über ihnen. Ab und an stürzte sich ein Vogel hinab, um einem Fuchs auf den Kopf zu picken, und die pelzige rote Kreatur machte einen Sprung und fauchte. Der Junge sprang lachend neben ihnen her.
Neona drehte sich zu Zoltan um. „Hast du die Füchse verständigt?“
Er nickte lächelnd.
Der Mönch trat vor. „Norjee, du bist wieder ohne Erlaubnis fortgegangen.“
Der Junge verneigte sich. „Es tut mir leid, ehrenwerter Vater. Die Vögel haben nach mir gerufen.“ Sein Blick fiel auf Neona und Zoltan, und er riss die Augen auf.
Neona blinzelte ihre Tränen fort. Er sah ihrer Schwester so ähnlich. Und er hatte ihre goldenen Augen.
Der Mönch deutete auf sie. „Sie ist wegen dir hier, Norjee.“
Der Junge kam langsam auf sie zu, ein hoffnungsvoller Ausdruck auf seiner Miene. „Bist du …?“
Es tat ihr zutiefst weh, ihn enttäuschen zu müssen. „Ich bin deine Tante. Deine Mutter war meine Zwillingsschwester.“
Sein Kinn fing an zu beben. „War?“
„Sie ist nicht mehr bei uns.“ Eine Träne lief Neona die Wange hinab. „Aber sie hat dich immer geliebt.“
„D-das habe ich mich immer gefragt.“ Norjee schniefte. „Die Adlermutter hat mir gesagt, dass ich eine Mutter und einen Vater haben muss. Sie sagt, ich muss aus dem Nest gefallen sein.“
Neona lächelte unter Tränen „Ich fürchte, das bist du. Aber ich würde dich gerne zurückbringen.“ Sie hockte sich hin. „Wenn du mich akzeptierst, wäre es mir eine Ehre, deine Mutter zu sein.“
Er rannte zu ihr und schlang ihr die Arme um den Hals. Sie hielt ihn ganz fest und weinte noch heftiger. Ich werde ihm eine gute Mutter sein, Minerva, das verspreche ich.
Norjee sah zu Zoltan hinauf. „Wird er mein Papa?“
„Ja.“ Neona strich dem Jungen die langen Haare aus der Stirn. „Er spricht kein Tibetisch, es wird also etwas dauern, ehe ihr euch unterhalten könnt. Aber er kann mit Tieren sprechen. Er war es, der die Füchse zu dir geschickt hat.“
Norjees Augen fingen an zu leuchten, und er lächelte. „Das ist ja toll!“
Zoltan erwiderte sein Lächeln und sagte auf Englisch: „Ich bin wohl auch akzeptiert.“ Er beugte sich vor und zauste dem Jungen die Haare.
„Wir lassen seine Sachen zusammenpacken“, sagte der Mönch.
Neona stand auf. „Ich fürchte, es ist zu gefährlich für uns, ihn heute Nacht schon mitzunehmen. Unser Tal wird vielleicht bald angegriffen.“
Der Mönch nickte. „Wir wissen, dass die Bösen kommen. Wir haben darum gebetet, dass der Junge vor der Gefahr verschont bleibt. Ihr müsst Norjee heute mitnehmen.“
„Aber …“
Der Mönch hob eine Hand, um sie zu unterbrechen. „Die Visionen unseres Bruders irren sich nie. Das Böse ist auf dem Weg hierher. Ich werde versuchen, meine Brüder davon zu überzeugen, schon morgen zu evakuieren.“
Der zweite Mönch kam mit einem Stoffbeutel zu ihnen. Nach einer Verbeugung reichte er ihn Neona.
„Was ist los?“, fragte Zoltan.
„Sie wollen, dass wir Norjee sofort mitnehmen.“ Sie sah den Jungen besorgt an. „Ich denke, bei den Jungen in der Höhle könnte er sicher sein.“
„In Ordnung. Ich teleportiere ihn nach Beyul-La und komme dann gleich zurück, um dich zu holen.“ Zoltan streckte die Hand nach Norjee aus, aber der Junge schlüpfte an ihm vorbei und rannte zu den Mönchen.
Die Augen voller Tränen, umarmten sie ihn fest und schoben ihn dann auf Zoltan zu. „Friede sei mit dir, Norjee.“
„Und mit Euch, ehrwürdige Väter“, flüsterte er.
Zoltan nahm den Jungen an den Schultern und verschwand.
Die Mönche keuchten erstaunt auf.
„Was für eine Art Mann ist er?“ Der alte Mönch schüttelte fassungslos den Kopf. „Ich wusste, dass etwas an ihm anders ist, aber etwas Unheiliges habe ich an ihm nicht gespürt.“
„Er ist ein Vampir, aber ein guter Mann“, erklärte Neona. „Er und einige andere gute Vampire helfen uns. Es gibt einen bösen Vampir, Lord Liao, der mit einer Armee von zweihundert Mann auf dem Weg zu uns ist.“
Die Mönche sahen sich ernst und resigniert an.
„Unser ehrwürdiger Bruder hat uns gewarnt, dass das Böse im Verzug ist“, sagte der alte Mönch. „Wir hatten befürchtet, Norjee nicht beschützen zu können. Ihr habt unsere Gebete erhört, indem Ihr heute zu uns gekommen seid.“
Neona seufzte. „Ich habe immer noch Angst, ihn in Gefahr zu bringen.“
Der Mönch lächelte sie traurig an. „Euer guter Vampir wird ihn sehr viel besser beschützen, als wir es je könnten.“
Zoltan tauchte an ihrer Seite wieder auf. „Bist du so weit?“
„Fast.“ Sie verneigte sich vor den Mönchen. „Danke, ehrwürdige Väter, dass Ihr Norjee aufgezogen und ihm Eure Liebe und Freundlichkeit gewährt habt.“
Die Mönche legten die Hände ineinander und verbeugten sich. „Friede sei mit Euch.“
„Wenn es wieder sicher ist, bringe ich ihn ab und an her, um Euch zu besuchen“, bot sie an. Als sie die Traurigkeit in den Gesichtern der Mönche sah, fragte sie sich, wie schlimm genau die Vision des Bruders gewesen sein mochte.
Zoltan nahm sie in die Arme, und alles um sie herum wurde schwarz.
In Neonas Haus trank Zoltan hastig eine Flasche Blut.
Er hatte Neona und Norjee an der Feuerstelle abgesetzt, wo sie mit Tashi und Lydia eine Schüssel Suppe aßen. Er hatte sein Blut nicht vor dem Jungen trinken wollen, um ihm keine Angst zu machen.
Ein Sohn. Zoltan trank seine Flasche aus und fing eine zweite an. Vor einer Woche hatte er damit angefangen, einen alten Mord aufklären zu wollen, und jetzt hatte er eine Frau, die er heiraten wollte, und einen Sohn. Er hatte mit den Jahrhunderten Hunderte von Sterblichen beschützt, der Gedanke an diese Art von Verantwortung machte ihm also nichts aus. Im Gegenteil. Statt zahlloser Gesichter hatte er jetzt die Chance, zwei Menschen zu lieben und zu beschützen, die etwas Besonderes für ihn waren. Er lächelte in sich hinein. Wenn er nur ein halb so guter Vater wäre, wie Istvan es für ihn gewesen war, würde es Norjee gut ergehen.
Er betrachtete die zweite, jetzt leere, Flasche. Es musste an dem Wasser des Lebens liegen, das er dazugeschüttet hatte, denn er hatte schon vier Flaschen getrunken und war noch immer hungrig. Es waren nur noch zwei in der Kühlbox übrig. Bisher hatte er keine Wirkung außer dem Hunger bemerkt. Es konnte sein, dass es dauerte. Oder vielleicht machte sein Körper alle Veränderungen während des Todesschlafes wieder rückgängig.
Er nahm die Flaschen heraus und teleportierte sich mit der Kühlbox in die Küche seiner Burg. In Vampirgeschwindigkeit füllte er die Box wieder auf. Dann, zurück in Neonas Haus, goss er ein wenig Blut aus jeder Flasche in eine leere und füllte sie mit seinem Vorrat an gestohlenem Wasser des Lebens wieder auf.
Er trank noch eine Flasche und schloss sich dann den anderen an der Feuerstelle an. Winifred und Freya waren von ihren Schießübungen im Nachbartal wiedergekommen. Die Königin war bei den Drachenkindern in der Höhle.
Lydia backte Fladenbrote am Feuer und lachte darüber, wie schnell Norjee sie essen konnte. Freddie und Freya umarmten den Jungen beide und hießen ihn zu Hause willkommen.
Errötend rutschte er dicht an Zoltan heran und murmelte etwas.
Neona lächelte. „Er ist nicht daran gewöhnt, unter so vielen Frauen zu sein.“
Tashi reichte Freddie und Freya je eine Schüssel Suppe. „Ihr zwei seid lange bei den Schießübungen gewesen.“
Freya und ihre Schwester lächelten sich an. „Wir haben noch nie so viele edle Krieger gesehen.“
Freddie schnaubte. „Krieger? Dich interessierten doch nur die Tiger.“
Freya zuckte mit den Achseln. „Ich fand den jüngsten Wer-Tiger sehr gut aussehend. Sein Name ist Rajiv.“
„Und du hast es geschafft, in ihre Gruppe zu kommen“, sagte Freddie.
„Und was ist mit dir?“ Freya gab ihrer Schwester einen Stoß. „Du bist in einer Gruppe mit dem Mann, der dich eine Göttin nennt.“
„Wir werden in Gruppen eingeteilt?“, fragte Neona.
„Keine Sorge“, sagte Zoltan zu ihr. „Wir kommen in die gleiche.“
Lydia reichte Freya einen heißen Laib Brot. „Ich fand die Betäubungspistole relativ einfach zu benutzen.“
„Ist sie.“ Freya riss den Laib Brot durch und reichte die Hälfte ihrer Schwester. „Aber ich habe trotzdem darauf bestanden, gründlich zu üben.“
Freddie grinste wissend. „Du wolltest deinen zahmen Tiger nur nicht wieder verlassen.“
„Wage es nicht, ihn zahm zu nennen.“ Freya grinste. „Er behauptet, schrecklich wild zu sein.“
Lydia schüttelte den Kopf. „Wir bereiten uns auf eine Schlacht vor, und alles, an das ihr denken könnt, sind Männer?“
Freya seufzte. „Ich weiß. Ich gebe Zoltan die Schuld dafür.“
„Wie bitte?“, fragte er.
„Du hast uns diese Bücher mitgebracht“, erklärte Freddie ihm. „Jetzt haben wir den ganzen Kopf voll romantischer Flausen.“
„Genau.“ Freya rührte in ihrer Suppe und bekam einen verträumten Gesichtsausdruck „Ich habe ‚Die Gefahren des leidenschaftlichen Piraten‘ gelesen. Er hat lange, wallende schwarze Locken und sonnengeküsste bronzefarbene Haut. Genau wie Rajiv. Und die Heldin – sie hat sich auf seinem Schiff, getarnt als Schiffsjunge, versteckt, aber das hat er sofort durchschaut. Er ist sehr klug …“
„Und leidenschaftlich“, murmelte Tashi.
„Ich habe ‚Der gestiefelte Herzog‘ gelesen“, verkündete Freddie. „Es geht um einen Herzog …“
„Und seine Stiefel?“, fragte Neona, wobei ihre Mundwinkel verdächtig zuckten.
Freddie nickte. „Er wagt es nicht, seine Residenz zu verlassen, solange seine feinen Reitstiefel nicht auf Hochglanz poliert sind. Er sieht so gut aus, dass die Heldin nur einen Blick auf ihn wirft, ins Stolpern gerät und mit ihren matschigen Schuhen auf seine Stiefel trampelt.“
Freya keuchte auf. „Das ist ja entsetzlich!“
Sie lachten beide.
Emma tauchte dicht hinter ihnen auf und sah Zoltan verärgert an. „Du musst Neona immer noch beibringen, wie man mit der Betäubungspistole umgeht. Sie kann nicht unvorbereitet morgen auf die erste Mission aufbrechen.“
„Das machen wir bald.“ Zoltan deutete auf den Jungen, der jetzt alle neugierig ansah. „Wir haben Norjee zurückgebracht, damit er hier leben kann.“
Der Junge lächelte, als er seinen Namen hörte.
Neona streichelte ihm den Rücken. „Er hat Minervas Gabe geerbt. Er kann mit geflügelten Kreaturen kommunizieren.“
„Zum Beispiel Drachen?“, fragte Emma. Als einige der Frauen erschrocken reagierten, lächelte Emma sie beruhigend an. „Keine Sorge. Euer Geheimnis ist bei uns sicher.“
Ihr Lächeln verblasste, als sie sich zu den anderen ans Feuer setzte. „Angus und ich machen uns Sorgen, dass es die Drachen sein könnten, hinter denen Lord Liao wirklich her ist. Er könnte Gerüchte von ihrer Existenz gehört haben.“
Lydia nickte. „Unsere Drachen fliegen seit Jahrtausenden an diesen Himmeln. Es muss Bauern und Landarbeiter gegeben haben, die sie gesehen oder von ihnen gehört haben.“
„Das haben wir uns gedacht.“ Emma runzelte die Stirn. „Master Han könnte die Kontrolle über sie wollen. Stellt euch vor, wie einfach es für ihn wäre, neues Gebiet zu erobern, wenn seine Soldaten auf feuerspeienden Drachen ritten. Die Dorfbewohner würden sich alle freiwillig ergeben, damit Master Han sie und ihr Zuhause nicht verbrennt.“
Freddie verzog das Gesicht. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Master Han sie bekommt.“
Emma beugte sich vor, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. „Erzählt mir mehr von ihnen. Wie viele sind es?“
„Drei Kinder“, antwortete Neona. Xiao Fang ist der Älteste. Er ist vor sechs Jahren geschlüpft.“
„Sechs?“, fragte Zoltan. „Er sieht aus wie zwölf.“
„Die Drachenkinder altern doppelt so schnell wie Menschen“, sagte Lydia. „Jedenfalls, bis sie die Pubertät erreichen und sich zum ersten Mal verwandeln.“
„Xiao Fang kann bereits Feuer speien.“ Freddie löffelte ihre Suppe leer. „Er wird sich bald verwandeln. Vielleicht noch zwei oder drei Monate.“
„Er hatte eine Schwester“, fügte Freya hinzu. „Aber ein paar Minuten, nachdem sie geschlüpft ist, ist sie blau angelaufen und konnte nicht atmen.“
Freddie seufzte. „Es war schrecklich. Unsere Mutter hat versucht, sie zu retten, aber am Ende sind sie beide gestorben.“
„So ist Calliope gestorben?“, fragte Zoltan, und die beiden Schwestern nickten.
„Das tut mir so leid“, sagte Emma zu ihnen. „Und es gibt noch zwei weitere Kinder?“
„Einen Jungen und ein Mädchen.“ Neona füllte noch eine Kelle Suppe in Norjees Schüssel. „Sie sind vor drei Jahren geschlüpft, sehen also aus, als wären sie sechs.“
„Moment mal.“ Zoltan richtete sich auf. „Schlüpfen die Eier alle drei Jahre?“
„Ja.“ Neona sah ihn besorgt an. „Die nächste Gruppe sollte in den nächsten Tagen so weit sein. Zwei Eier.“
„Ich hoffe, es sind Mädchen.“ Lydia reichte Norjee das frische Brot. „Am Ende des letzten Zyklus waren nur noch fünf Weibchen übrig. Deswegen gibt es fünf Nester.“
Neona seufzte. „Im Zyklus davor hatten wir fünfzehn Nester.“
Zoltan war entsetzt. Die Drachen starben aus.
„Was meint ihr mit Zyklus?“, fragte Emma.
„Sie leben ungefähr fünfhundert Jahre“, erklärte Neona. „Dann legen die Weibchen ihre Eier und sterben. Die Männchen sterben kurz darauf. Wenn das letzte Männchen nicht überlebt, bis alle Eier geschlüpft sind und die Drachenkinder für sich selbst sorgen können, kann der ganze Schwarm verenden.“
„Deswegen haben sie einen Pakt mit uns geschlossen“, fügte Lydia hinzu. „Vor dreitausend Jahren, als die ersten drei Frauen hergekommen sind, gab es nur noch einen männlichen Drachen, und er befürchtete, dass er sterben könnte, ehe die Eier schlüpfen würden.“
„Der alte Drache hat einen Pakt mit den drei Frauen geschlossen“, sagte Neona. „Sie bekamen das Wasser des Lebens und dieses Tal, in dem sie leben konnten. Im Tausch wurden sie die Mütter der neuen Schlüpflinge. Es ist unsere heilige Pflicht, die Jungen zu beschützen, bis sie sich verwandeln und auf sich selbst aufpassen können.“
„Und dann kümmern sie sich um uns.“ Freya benutzte ihr Brot, um das letzte bisschen Suppe aufzutunken. „Sie heben die schweren Steine und helfen uns so beim Bau unserer Häuser. Und sie fangen Esel und Ziegen und bringen sie uns.“
„Und das sind die einzigen Drachen, die es noch gibt?“, fragte Emma.
„Soweit wir es wissen“, sagte Neona. „Vor Tausenden von Jahren gab es sie überall in Europa und Asien. Aber manche werden vom Blitz getroffen und sterben. Und manchmal haben sie Unfälle beim Jagen. Wenn sie sich in hoher Geschwindigkeit herabstürzen, um ihre Beute zu fangen, können sie miteinander oder mit Bäumen zusammenstoßen. Andere werden von Drachentötern erlegt. Es gab eine Zeit, in der Nachzügler aus Europa oder Ost-China hergeflogen sind, um Zuflucht zu suchen. Der letzte aus Europa ist vor über tausend Jahren gekommen.“
Zoltan nickte. „Dort sind sie ausgestorben. Ich kann mich nicht erinnern, je einen gesehen zu haben.“
Norjee setzte sich plötzlich auf und sah zur Höhle.
Emma atmete scharf ein. „Was war das?“
„Norjee hat die Jungen gehört“, flüsterte Freddie. „Ich habe die Gabe, also kann ich sie auch hören. Norjee antwortet ihnen.“
Norjee sprang auf und rannte auf die Höhle zu, zur gleichen Zeit, als der älteste Drachenwandler herausgerannt kam.
Die zwei Jungen blieben stehen und sahen einander an. Norjee streckte die Hand aus, um Xiao Fang an der Schulter zu berühren. Der Drachenjunge grinste.
„Was ist hier los?“ Die Königin kam finster blickend aus der Höhle. Sie blieb stehen, als sie die beiden Jungen sah.
Neona sprang auf. „Majestät, das ist Minervas Sohn. Norjee. Er hat ihre Gabe.“
Nima wurde blass.
„Xiao Fang hat Norjee eingeladen, in der Höhle bei ihm und den anderen Kindern zu schlafen“, flüsterte Freddie. „Norjee hat zugestimmt.“
Norjee sah sich zu Neona um und grinste sie an. Er rannte auf sie zu, umarmte sie und rannte dann zurück zu Xiao Fang. Die zwei Jungen gingen in die Höhle.
Freddie lächelte, ihre Augen nass von Tränen. „Xiao Fang nennt Norjee seinen Bruder.“
Die Königin trat zu ihnen und sah Emma argwöhnisch an. „Haben sie dir jetzt alle unsere Geheimnisse verraten?“
„Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um die Drachenkinder zu beschützen“, versprach Emma ihr.
Nima nickte und starrte dann die anderen Frauen böse an. „Geht in eure Häuser, um euch auszuruhen. Ich werde auf die Jungen aufpassen.“ Sie marschierte zurück in die Höhle.
„Dann also gute Nacht.“ Tashi schüttete einen Eimer Asche ins Feuer, um es zu löschen.
„Das erinnert mich an etwas.“ Emma sah zu, wie die Flammen erstarben. „Von jetzt an kein sichtbares Feuer mehr in diesem Tal oder dem daneben. Liao wird Ausschau nach uns halten, die Täler müssen also dunkel bleiben.“
„Das verstehen wir“, sagte Freddie zu ihr. „Gute Nacht.“ Sie und Freya sammelten das schmutzige Geschirr ein und brachten es in den Lagerraum. Lydia und Tashi folgten ihnen mit den Töpfen.
„Wo wirst du deinen Todesschlaf halten?“, fragte Zoltan, an Emma gerichtet.
„Tiger Town. Die meisten Vampire teleportieren sich kurz vor Sonnenaufgang dorthin.“ Sie legte den Kopf zur Seite und blickte in Richtung der Höhle. „Kannst du sie hören, Zoltan?“
„Nein. Ich höre nur Tiere. Die ohne Flügel.“
„Vielleicht liegt es daran, dass ich schon eine Telepathin war, ehe ich verwandelt wurde.“ Emma drehte sich zu ihm und Neona um. „Ich kann sie hören. Jedes Wort.“