Erst spät am Nachmittag wachte Neona wieder auf.
Sie sah zu Zoltan herüber. Nach Höhepunkt Nummer sieben war sie fest eingeschlafen. Er musste sich danach nach Hause teleportiert haben, denn seine Kleidung war sauber und sein Gesicht frisch rasiert. Sie spähte in die Box, in der er seine Blutflaschen aufbewahrte. Sechs neue Flaschen und eine halb volle Flasche mit Wasser des Lebens. Während alle anderen schliefen, musste er sich in die Höhle geschlichen haben, um mehr Wasser zu schöpfen, das er mit seinem Blut vermischen konnte.
Die Frauen von Beyul-La tranken nur einmal im Monat einen kleinen Becher voll, um nicht zu altern. Zoltan nahm jede Nacht mehr als das zu sich. Bisher behauptete er, keine Wirkung zu spüren.
Neona betrachtete ihn eingehend. So schön wie immer. Es könnte eine Woche oder mehr dauern, ehe er die Wirkung bemerkte. Oder es könnte sein, dass seine vampirische Gabe der Heilung die Wirkung während seines Todesschlafes ungeschehen machte.
Sie zog sich an und eilte zum Klohäuschen. Während sie sich anschließend im Bach wusch, ertönte der Alarm. Jemand schlug die alte Kuhglocke am Eingang der Höhle.
Die Frauen rannten in die Höhle hinein.
„Sie sind fort!“, verkündete Winifred. „Xiao Fang und Norjee sind nicht mehr da.“
„Was?“, brüllte Nima. „Du solltest auf sie aufpassen. Wie konntest du …“
„Es tut mir leid“, schluchzte Freddie. „Ich war so müde, dass ich eingenickt bin.“
„Natürlich bist du müde gewesen“, kam Freya zu ihrer Verteidigung. „Wir sind die ganze Nacht wach gewesen.“
„Wahrscheinlich sind sie irgendwo im Tal“, sagte Neona. „Vielleicht am Becken, wo sie gestern gebadet haben. Dort hat es ihnen sehr gefallen.“
„Ich sehe nach.“ Lydia lief den Bach hinauf.
„Ich sehe nach, ob die anderen Kinder etwas wissen.“ Nima rannte in die Höhle.
Freddie beugte sich dicht zu Neona und senkte ihre Stimme. „Huo und Chu werden der Königin nichts verraten. Sie haben Angst vor ihren Launen. Aber mir haben sie es gestanden.“
Neona musste schlucken. „Was haben sie angestellt?“
„Sie waren eifersüchtig, dass Xiao Fang und Norjee sich so eng angefreundet haben. Also haben sie Norjee erzählt, dass er hier nicht erwünscht ist. Dass seine eigene Großmutter ihn fortgegeben hat, weil er ein Niemand ist.“
Neona zuckte zusammen.
„Das war grausam“, flüsterte Freya.
Tashi berührte ihren Bauch. „Wenn ich einen Sohn bekomme, gebe ich ihn nicht fort.“
„Sie haben Norjee gesagt, dass wir nur besondere Kinder hierbehalten, wie die Drachenwandler“, fuhr Freddie fort. „Sie haben gesehen, wie er aus der Höhle geschlichen ist, als sie geschlafen haben. Dann ist Xiao Fang traurig geworden und ihm nachgegangen.“
Lydia kam zurück. „Sie sind nicht am Bach.“
„Wir werden das ganze Tal durchsuchen müssen“, sagte Tashi.
Neona seufzte. „Ich fürchte, Norjee wird versuchen, in das einzige andere Zuhause zurückzukehren, das er kennt.“
„Das Kloster?“ Freddie verzog das Gesicht. „Aber das ist dreißig Meilen von hier!“
„Ich weiß. Aber er weiß, dass er dort geliebt wurde.“ Neona blinzelte sich die Tränen fort. Sie hätte dem Jungen sagen sollen, wie sehr sie ihn liebte. „Ich hätte mehr Zeit mit ihm verbringen müssen.“
„Mach dir keine Vorwürfe“, sagte Lydia. „Wir befinden uns im Krieg.“
Tashi zuckte zusammen. „Da draußen sind noch immer fünfzig Soldaten.“
Neona nickte. „Wir müssen die Jungen finden. Lydia und Tashi, könnt ihr das Tal absuchen? Freddie und Freya, kommt ihr mit mir? Ich will zum Kloster gehen.“
Freddie nickte. „Im Tal nebenan werden noch Wandler wach sein. Wir könnten sie um Hilfe bitten.“
„Ja!“ Freyas Augen fingen an zu leuchten. „Rajiv und seine Freunde werden uns helfen.“
Die drei Frauen gingen in die Höhle, um sich ihre Pfeile, Bögen, Schwerter und Messer zu nehmen.
„Wohin wollt ihr?“, verlangte Nima zu wissen.
„Ich glaube, dass die Jungen auf dem Weg zum Kloster sein könnten“, erklärte Neona. „Wir bringen sie zurück.“
Nima kniff die Augen zusammen. „Das wäre gar nicht erst passiert, wenn du den Jungen nicht hergebracht hättest.“
„Den Jungen?“ Neona ballte vor plötzlich in ihr aufsteigender Wut die Hände zu Fäusten. „Dieser Junge ist Euer Enkel! Das alles wäre nicht passiert, wenn wir ihn nicht verlassen hätten! Oder ihm das Gefühl gegeben hätten, er wäre wertlos!“
Sie stapfte mit Freddie und Freya aus der Höhle. Am Abhang der Felswand entdeckten sie, dass jemand die Strickleiter heruntergelassen hatte, ein sicheres Zeichen, dass die Jungen das Tal verlassen hatten.
Die drei Frauen kletterten die Leiter hinab. Neona entdeckte Howard ein Stück entfernt und rannte auf ihn zu.
„Hast du zwei Jungen gesehen?“, fragte sie. „Norjee und der älteste Drachenjunge sind weggelaufen.“
„Oh nein“, antwortete Howard bestürzt. „Wir haben den Eingang zu eurem Tal nicht überwacht. Ihr seid unsere Verbündeten. Wir bewachen die Grenzen des Tals, falls irgendwelche von Liaos Männern sich hierher verirren.“
Neona seufzte. Zweifellos war Norjee ein Experte im Weglaufen. Er hatte es im Kloster schon regelmäßig getan. „Könntest du ein paar Wandler entbehren? Wir müssen die Jungen finden. Wir glauben, dass sie nach Westen unterwegs sind, auf das buddhistische Kloster zu.“
Howard winkte einige seiner Wandler zu sich. „Rajiv, bring deine Männer mit.“
Freya lächelte Rajiv an, als er mit zwei Wer-Tigern zu ihnen geschlendert kam.
„Wie gut seid ihr im Spurenlesen?“, fragte Howard.
Rajiv warf einen Seitenblick auf Freya und reckte sein Kinn. „Wir sind die Besten.“
„Schnappt euch ein paar Waffen“, wies Howard sie an. „Und Wanderzeug. Ihr geht mit den Frauen. Bringt sie mit den zwei vermissten Jungen sicher wieder zurück.“
„Zwei Jungen werden vermisst?“, fragte Rajiv.
Howard nickte. „Und einer von ihnen ist ein Drachenwandler. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Feind ihn findet.“
Eine Stunde später teilte sich der Pfad, dem sie westwärts gefolgt waren.
Die zwei älteren Wer-Tiger trennten sich, einer ging nach Norden, der andere nach Süden, während die anderen darauf warteten, dass sie zurückkamen und Bericht erstatteten.
Rajiv öffnete seinen Rucksack und reichte Freya eine Flasche Wasser. Da die anderen Wer-Tiger nur Chinesisch verstanden, hatten sie alle zu dieser Sprache gewechselt. „Rinzen und Tenzen finden schon etwas heraus. Sie sind die besten Spurenleser, die ich kenne.“
„Ich kann mir nicht merken, welcher von beiden wer ist.“ Freya nippte an ihrem Wasser und reichte die Flasche dann an ihre Schwester weiter. „Sie sehen sich so ähnlich.“
Rajiv lächelte. „Sie sind Zwillinge. Bei Wer-Tigern kommt das häufig vor.“
Freddie trank etwas Wasser und reichte die Flasche dann an Neona weiter. „Und wer von den beiden ist jetzt der Große Tiger?“
Rajiv zuckte zusammen. „Das … na ja, das ist …“
„Ich glaube nicht, dass sie hier entlang sind“, rief Rinzen, als er zurückgejoggt kam.
„Lasst uns auf dem GPS nachsehen.“ Rajiv zog sein Satelliten-Telefon heraus. „Der südliche Pfad führt zum Kloster. Die Jungen müssen dort entlanggegangen sein.“
Tenzen kam kopfschüttelnd zurück. „Ich kann kein Anzeichen von ihnen entdecken.“
„Würde Norjee überhaupt wissen, wo er langgehen muss?“, fragte Freya. „Er ist noch nie zuvor von Beyul-La zum Kloster gewandert. Außer als er ein Baby war und unsere Königin ihn dorthin gebracht hat.“
„Das stimmt.“ Freddie deutete auf den nördlichen Pfad. „Er könnte leicht falsch abgebogen sein.“
„Du hast recht“, stimmte Rajiv zu. „Er hat kein GPS.“
„Das nicht, aber er hat etwas ebenso Gutes.“ Neona sah in den Himmel hinauf. „Er könnte die Vögel nach dem Weg gefragt haben. Und was würden die ihm sagen?“ Sie senkte den Blick auf den Abhang, der vor ihnen lag.
„Sie hätten ihm den direkten Weg genannt“, sagte Freddie „Luftlinie.“
Neona nickte. „Ihr könnt euch aufteilen und die Pfade nehmen, die nach Norden und Süden führen. Ich nehme den direkten Weg nach Westen.“
„Ich gehe mit dir“, sagte Tenzen.
„Ich gehe nach Süden“, bot Freddie an. „Rinzen kann mitkommen.“
„Dann gehen Freya und ich nach Norden.“ Rajiv sah auf die Uhr. „Wenn wir in einer Stunde keine Spur von den Jungen finden, kehren wir hierher zurück.“
Nach vierzig Minuten auf steinigem und hügeligem Gelände taten Neona die Beine weh. Dieser Weg mochte für einen Vogel schnell sein, für Menschen war er jedoch sehr schwer.
„Gehen wir in die richtige Richtung?“, fragte sie Tenzen noch einmal.
Er sah auf sein GPS. „Ja. Brauchst du Wasser?“ Er nahm seinen Rucksack ab und reichte ihr eine Flasche.
„Danke.“ Sie nahm einen Schluck und drehte den Verschluss dann wieder zu. Sie hatten den steinigen Gipfel eines Hügels erreicht. Der Weg hinunter würde viel leichter werden.
Als sie den Berg hinabkletterten, vernahm sie den Klang von rauschendem Wasser. Im Tal musste es einen Bach geben.
Sie traten aus dem Wald, und Neona blieb verzweifelt stehen. Es war mehr als nur ein Bach; es war ein breiter, rauschender Fluss.
Tenzen wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Der Pfad, der gen Süden führt, hat wahrscheinlich eine Brücke.“
Sie näherten sich dem Ufer, sich an Steinen und gefallenen Bäumen vorbeischlängelnd. Vor einem Monat, als der Schnee geschmolzen war, musste der Fluss hier hindurchgerauscht sein, mit genug Kraft, um Findlinge zu bewegen und Bäume zu entwurzeln. Jetzt stand der Fluss nicht mehr so hoch, aber er strömte immer noch schnell. Ihre Nerven spannten sich an bei dem Gedanken, dass die Jungen versucht haben könnten, ihn zu überqueren.
„Ich habe etwas gefunden“, rief Tenzen ein Stück den Fluss hinab.
Sie rannte zu ihm. Ein frischer Fußabdruck am matschigen Ufer. Von einem kleinen Fuß. „Sie sind hier entlanggekommen?“
Er nickte und deutete auf ein weiteres Paar Fußabdrücke.
Sie seufzte erleichtert. „Sie gehen den Fluss hinab.“
Tenzen bedeutete ihr, ihm zu folgen. „Wahrscheinlich suchen sie nach einer Stelle, an der sie den Fluss sicher überqueren können.“
Nach zehn Minuten breitete das schmale Tal sich zu einer weiten Wiese aus. Der Fluss wurde langsamer und breiter, bis er nur noch eine Fußlänge tief war.
„Dort!“ Tenzen zeigte auf etwas.
Ihr Herz überschlug sich fast vor Erleichterung. Ein Stück den Fluss hinab wateten Norjee und Xiao Fang durch den Fluss. Das Wasser umspülte ihnen die Beine.
Neona rannte auf sie zu. „Norjee! Xiao Fang!“
Sie blieben stehen und sahen sich um.
„Norjee!“ Sie trat in den Fluss. „Bitte komm mit mir. Komm nach Hause.“
Er ließ den Kopf hängen. „Da will mich niemand haben.“
„Ich schon! Viele von uns wollen dich dort.“ Ihr stiegen Tränen in die Augen. „Ich liebe dich! Wäre ich den ganzen Weg gekommen, um dich zu finden, wenn ich das nicht täte?“
Norjees Kinn fing an zu beben. Xiao Fang legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Komm mit nach Hause.“ Sie watete auf ihn zu, blieb dann aber erschreckt stehen. Am gegenüberliegenden Ufer, im Wald, war etwas Metallisches im Licht der untergehenden Sonne aufgeblitzt. Schwerter. Es waren Soldaten im Wald.
Tenzen fluchte leise hinter ihr.
„Beeilt euch“, rief sie den Jungen zu.
Eine Gruppe berittener Soldaten preschte aus dem Wald ans Flussufer.
Die Jungen rannten so schnell auf sie zu, dass das Wasser aufspritzte. Angst und Zweifel erfüllten sie. Wie konnten sie und die Jungen zu Fuß den Soldaten zu Pferd entkommen? Als die Jungen sie erreicht hatten, griff sie die beiden an den Händen und rannte auf Tenzen zu.
„Rennt weiter.“ Tenzen reichte ihr seinen Rucksack und zog sein Schwert. „Ich halte sie auf.“
Ein Mann gegen eine Truppe? Neona sah sich um, als sie sich den Rucksack aufsetzte. Ein Dutzend Reiter kam über den Fluss galoppiert.
Sie rannte mit den Jungen auf den Wald zu. Vielleicht konnte sie die beiden in den Bäumen verstecken, während sie die Reiter ablenkte. Sie sah sich wild nach einem Baum um, auf den die Jungen klettern konnten.
Das Scheppern von Schwertern drang vom Flussufer zu ihnen.
Sie entdeckte einen passenden Baum. „Hier entlang.“ Sie schnappte sich die Jungen.
Norjees Keuchen ließ sie zum Fluss sehen. Tenzen war gefallen. Vier Soldaten lagen tot neben ihm. Mit einer blutbeschmierten Hand zog er sich ein Messer aus der Brust, dann ließ er es leblos neben sich fallen.
Sie musste fest schlucken. Der arme Mann hatte keine Chance gehabt. Die acht verbliebenen Soldaten kamen direkt auf den Wald zu.
„Beeilt euch.“ Sie zerrte an den Jungen und führte sie zu dem Baum, den sie ausgesucht hatte. „Ich möchte, dass ihr euch da oben versteckt.“ Sie hob Norjee hoch, damit er den niedrigsten Ast erreichen konnte.
„Ich will dich nicht allein lassen“, protestierte Norjee.
„Ich komme zurecht.“ Sie half auch Xiao Fang in den Baum und wühlte dann in ihrem Rucksack. Das Satelliten-Telefon war nicht da. Tenzen musste es bei sich behalten haben.
Sie reichte Norjee den Rucksack. „Da drinnen ist Essen und Trinken. Versteckt euch in der Baumkrone. Kommt erst wieder heraus, wenn es sicher ist.“
Der Boden unter ihren Füßen vibrierte, als die Reiter auf sie zugaloppiert kamen. Sie rannte ostwärts. Ein Pfeil sauste an ihrem Kopf vorbei und grub sich in einen Baumstamm dicht neben ihr. Sie duckte sich hinter einen anderen Baum, war aber innerhalb von Sekunden umstellt.
„Wo sind die anderen?“, verlangte ein Soldat zu wissen. Der zusätzliche Streifen auf seinem Ärmel ließ sie vermuten, dass er der Anführer war.
„Ich hatte nur noch einen Mann bei mir.“ Sie starrte ihn wütend an. „Und ihr habt ihn umgebracht.“
„Er hat uns angegriffen.“ Der Anführer drängte sein Pferd näher an sie heran.
Sie wich zurück, als die Spitze seines Schwertes nahe daran kam, ihre Brust zu berühren.
„Wo sind die anderen?“, wiederholte er. „Da waren zwei Jungen im Fluss.“
„Warum greift ihr uns an?“, fragte sie. „Wir sind nur Bauern hier aus der Gegend.“
Er schnaubte verächtlich. „Mit Schwertern?“ Er deutete auf einen seiner Männer. „Nimm ihr die Waffen ab. Fessele sie.“
Der Soldat stieg ab und ging auf sie zu.
Sie sprang zurück und zog ihr Schwert. „Lasst mich in Ruhe. Geht eurer Wege, und ich lasse euch ziehen.“
Der Anführer lachte. „Du willst uns drohen?“ Er deutete auf seine Soldaten. „Worauf wartet ihr?“
Sechs weitere Männer stiegen von ihren Pferden und gingen auf sie zu.
Sie wich zurück und schwang ihr Schwert nach ihnen. Wenn sie die Soldaten alle damit beschäftigen konnte, sie selbst einzufangen, vergaßen sie vielleicht die Jungen. Drei der Soldaten bewegten sich hinter sie. Sie wirbelte herum und durchschnitt die Luft mit ihrem Schwert. Die Männer kreisten sie ein und kamen ihr immer näher.
„Na gut.“ Sie stach ihr Schwert in den Boden. „Ich ergebe mich. Bringt mich zu eurem Herrn.“
Einer der Soldaten stürzte sich auf sie, seine Faust zielte auf ihr Gesicht. Sie blockierte seinen Schlag und trat ihm zwischen die Beine. Aufheulend krümmte er sich zusammen.
„Ich sagte, ich ergebe mich“, zischte sie. „Ich reite mit euch zu eurem Herrn.“
Zwei der Soldaten packten sie. Sie waren eindeutig Supersoldaten. Aus ihrem Griff konnte sie sich nicht befreien.
„Haltet sie still.“ Der Soldat, den sie zwischen die Beine getreten hatte, stürzte sich wieder auf sie. „Schlampe!“ Er schlug ihr fest ins Gesicht.
Sie trat wieder nach ihm, aber er wich aus und sah sie spöttisch an. „Vielleicht sollten wir unseren Spaß mit ihr haben, ehe wir sie mit zurücknehmen.“
Sie erstarrte. Die Sonne stand tief am Himmel, aber es konnte noch eine Stunde dauern, bis sie unterging und die Vampire aufwachten.
Der Soldat öffnete seine Hose. „Haltet sie still.“
Sie biss die Zähne zusammen. Auch das würde sie durchstehen. Sie musste einfach.
Ein Feuerstrahl schoss aus dem Baum, in dem die Jungen sich versteckt hatten. Der Soldat schrie auf, als die Flammen von ihm Besitz nahmen. Er rannte kreischend davon und fiel dann zu Boden, wo er zappelte. Der Gestank nach verbranntem Fleisch erfüllte die Luft. Sein Schreien wurde zu einem Wimmern und dann folgte nur noch eine unheimliche Stille.
Neona wehrte sich noch einmal heftig, aber die zwei Soldaten hielten sie fest.
Die anderen Soldaten umstellten vorsichtig den Baum. Das Feuer hatte einige der Blätter verbrannt, sodass die zwei Jungen jetzt sichtbar waren.
Der Anführer trieb sein Pferd vorwärts. „Erstaunlich. Einer von ihnen muss ein Drache sein. Oder vielleicht beide.“ Er winkte mit der Hand. „Kommt runter. Wir tun euch nichts.“
Norjee und Xiao Fang sahen sich an, rührten sich aber nicht.
Der Anführer seufzte. „Sie brauchen einen Anreiz. Jetzt.“
„Ja, Sir.“ Einer der Soldaten, die Neona festhielten, presste ihr ein Messer an die Kehle.
„In Ordnung, Jungs“, sagte der Anführer. „Kommt runter, oder wir schlitzen ihr die Kehle auf.“
Norjee und Xiao Fang kamen heruntergeklettert.
„Fesselt sie“, befahl der Anführer. „Ich will sie zurückbringen, ehe Lord Liao aufwacht.“
Neona und die beiden Jungen wurden gefesselt und wie Reissäcke über die Pferderücken geworfen. Sie machten sich auf den Weg zurück Richtung Fluss. Neona erhaschte einen Blick auf Tenzen, der in einer Lache aus seinem Blut lag, und ihr stachen Tränen in den Augen. Er war umsonst gestorben.
Nach einem langen Ritt hielten die Männer die Pferde an und stießen Neona und die Jungen zu Boden. Sie keuchte auf, als ihr klarwurde, wo sie sich befanden. Das Kloster. Lord Liao und seine Armee aus fünfzig Mann hatten es erobert.
Die Soldaten zerrten sie und die Jungen hoch und marschierten mit ihnen durch das Tor in den Hof. Ihr zog sich der Magen zusammen, als sie die zwei älteren Mönche in Blutlachen daliegen sah. Norjee schrie auf, und Xiao Fang fing an zu zittern.
Sie tat so, als würde sie stolpern, damit sie den Kopf auf ihre Höhe senken konnte. „Sagt kein Wort zu denen“, flüsterte sie. „Bleibt stark.“
Norjee nickte wimmernd.
Ein Soldat riss sie hoch und schubste sie auf die Gebäude auf der rechten Seite zu. Ein weiterer Soldat öffnete die erste Tür, und sie wurden alle in den kleinen Raum dahinter geschoben.
Es war der gleiche Raum, den sie erst vor zwei Nächten besucht hatte. Sie sprach ein stummes Gebet für die Mönche. Kein Wunder, dass sie so darauf aus gewesen waren, Norjee fortzuschicken. Hoffentlich hatten die anderen Mönche sich in Sicherheit bringen können, ehe Liao gekommen war.
Die Soldaten banden sie los und gingen, die Tür hinter sich schließend. Sie kauerte sich an die rückwärtige Mauer und zog die beiden Jungen eng an sich. Beim Anblick ihrer bebenden Körper schnürte sich ihr die Kehle zu.
Die Tür öffnete sich, und der Anführer kam hereingeschlendert. Als er sie musterte, senkte sie ihren Blick. „Du musst also eine dieser legendären Kriegerinnen sein, die die Drachen hüten.“ Er schnaufte verächtlich. „Dachtest du, das wäre ein Geheimnis? Wie wollt ihr eine Bande fliegender Drachen geheim halten? Dachtest du, eure leeren Drohungen bringen die Bauern zum Schweigen?“
Er ging vor ihr in die Hocke, damit er ihr in die Augen sehen konnte. „Die Bauern haben vor uns viel mehr Angst. Wenn wir mit dem Tod drohen, halten wir uns daran.“
Sie blieb stumm und drückte den Jungen die Schultern.
„Welcher ist der Drache?“, fragte der Anführer leise.
Die Jungen vergruben die Gesichter an ihr.
„Es gibt keine Drachen“, antwortete sie. „Das sind alberne Märchen, die die Dorfbewohner erzählen, damit die Kinder gehorchen.“
Der Anführer presste die Lippen zusammen, während er sich aufrichtete. „Wir haben das Feuer gesehen. Einer dieser Jungen hat Feuer gespuckt.“
„Dieser Soldat wollte mich vergewaltigen. Die Götter haben Feuer vom Himmel geschickt, um ihn zu bestrafen.“
Der Anführer lachte auf. „Sehr witzig.“ Er drehte sich um, hatte dann plötzlich sein Schwert gezogen und richtete es auf ihre Brust.
Sie presste sich an die Mauer. Die Jungen klammerten sich an sie. Beide atmeten schwer.
„Welcher ist der Drache?“, brüllte der Anführer.
Sie musste schlucken.
„Keine Angst vor dem Sterben, was?“ Er steckte sein Schwert weg. „Na schön. Vielleicht motiviert es dich, wenn wir die Jungen in Gefahr bringen.“
Ihr Herz machte einen Sprung.
Der Anführer sah auf die Uhr. „Lord Liao wird in dreißig Minuten aufwachen. Zu der Zeit werden wir beide Jungen hinrichten.“
Die Jungen erstarrten, und sie umklammerte ihre Schultern noch fester.
Der Anführer seufzte. „Aber ich fühle mich heute milde gestimmt. Ich werde dich einen von ihnen retten lassen. Deine Entscheidung. Wir sehen uns in dreißig Minuten.“ Er stolzierte aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich.
Sie atmete tief durch, um ihren rasenden Puls zu beruhigen. Der Soldat musste davon ausgehen, dass sie sich in jedem Fall entscheiden würde, den Drachen zu retten.
„Müssen wir sterben?“, flüsterte Norjee.
„Nein.“ Sie nahm die beiden Jungen an den Händen. „Wir kommen da gemeinsam durch. Verstanden?“ Sie sah erst den einen an, dann den anderen.
„Sie haben die ehrwürdigen Väter umgebracht.“ Norjee stiegen Tränen in die Augen. „Sie wollen uns umbringen.“
„Ich werde nicht zulassen, dass sie euch etwas tun.“
Norjee zog seine Hand aus ihrer und stolperte in die hinterste Ecke. „Du kannst nur einen retten. Du musst Xiao Fang retten, weil er etwas Besonderes ist.“ Norjee ließ sich auf den Boden fallen und fing an zu weinen. „Ich muss sterben! Ich bin ein Niemand!“
„Nein!“ Neona rannte zu ihm und nahm ihn fest in die Arme. „Für mich bist du etwas ganz Besonderes, Norjee. Du bist mein süßer, schöner Junge. Du bist der Sohn meiner geliebten Schwester. Du bist der Sohn, nach dem ich mich immer gesehnt habe.“
Norjee klammerte sich schniefend an sie.
„Ich liebe dich, Norjee.“ Sie rieb ihm den Rücken und küsste ihn auf den Kopf. „Ich werde dich immer lieben.“
Xiao Fang hockte sich neben sie und umarmte sie beide.
Norjee machte ein Geräusch irgendwo zwischen einem Lachen und einem Wimmern. „Xiao Fang sagt, er liebt mich auch.“
„Na siehst du.“ Neona wischte Norjee die Tränen vom Gesicht. „Selbst die Drachen wissen, dass du etwas Besonderes bist.“
Tief durchatmend sah sie sich um. Sie hatten dreißig Minuten, um zu fliehen. Es gab nur eine Tür, die zweifellos bewacht wurde. Ihr Blick landete auf dem Fenster: Es war mit einem dekorativen Holzgitter versperrt.
Sie ging schnell dorthin, legte die Finger um das Gitter und drückte so fest sie konnte. Es gab nicht nach. Von außen war eine schwere Stange davor angebracht. Selbst wenn es ihr gelingen sollte, das Gitter zu zerstören, würde die Stange immer noch bleiben, und sie teilte das Fenster in zwei winzige Durchgänge, zu klein, um dadurch zu entkommen.
Der Himmel verdunkelte sich, als die Sonne immer tiefer am Horizont stand. Bald würde Lord Liao aufwachen, aber mit ihm auch alle guten Vampire.
Ihr stockte der Atem, als ihr auf einmal ein Gedanke kam. „Norjee, komm her.“
Er rannte zu ihr. „Ja, Mama?“
„Du bist so besonders, dass du derjenige sein wirst, der uns rettet.“
„Bin ich?“
„Du kennst die Vögel, die hier in der Gegend leben, nicht?“
Er nickte. „Sie sind meine Freunde. Besonders die Adlerfamilie.“
„Ruf sie.“ Sie schob den niedrigen Tisch unter das Fenster und stellte Norjee darauf, sodass er bis ans Fensterbrett reichte. „Ruf die Adler. Ruf deine Vogelfreunde. Sag ihnen, sie sollen ins Tal der Drachen fliegen und den Menschen dort sagen, dass wir hier im Kloster gefangen gehalten werden. Wir sind in schrecklicher Gefahr, und sie müssen uns befreien.“
Norjee strahlte. „Das kann ich machen!“
Sie lächelte und streichelte ihm den Rücken. Xiao Fang stand neben dem Tisch und lächelte ihn aufmunternd an.
Neona sah zu, wie der Himmel sich verdunkelte. Ihr Schicksal würde sich jetzt in weniger als dreißig Minuten entscheiden.