1. Kapitel

Als Zoltan Czakvar die Waffenkammer seiner Burg in Transsilvanien betrat, richtete sein Blick sich automatisch auf den Pfeil, mit dem man seinen Vater ermordet hatte.

In seiner Nische an der gegenüberliegenden Wand kaum sichtbar, ließ der Pfeil ihn doch noch immer auf der Stelle innehalten. Und mit angespannten Nerven zurück. Verdammt. Er sollte das blöde Ding runterreißen, ins Feuer werfen und es damit endgültig loswerden.

Da er ein Mann war, der sich damit rühmte, nie aufzugeben, ehe er eine Aufgabe erledigt hatte, diente der Pfeil als schmerzliche Erinnerung an sein großes Versagen. Er hatte nie herausgefunden, wer verantwortlich war für den Mord an seinem Vater und die Zerstörung seines Dorfes. Leider war das alles bereits im Jahre 1241 vorgefallen, eine Chance auf Erfolg schien also schon lange begraben zu sein.

Er hatte es versucht. Bei Gott, wie hatte er es versucht. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr war er mit diesem verdammten Pfeil herumgereist, jahrelang, verzweifelt auf der Suche nach jemandem, der wusste, wo er seinen Ursprung hatte. Ein merkwürdiges Muster war in den hölzernen Schaft des Pfeils geschnitzt, das ihn einzigartig machte. Aber es hatte ihn nie jemand erkannt. Bis zum heutigen Tag blieb der Pfeil ein Rätsel, das ihn verspottete und ihn daran erinnerte, was er verloren hatte.

Seufzend stellte er die Kühlbox hin, die er die schwach beleuchtete Wendeltreppe hinabgetragen hatte. Als dieser Teil der Burg im fünfzehnten Jahrhundert fertiggestellt worden war, hatte man diesen höhlenartigen Raum im Keller zur Waffenkammer gemacht. Mittelalterliche Piken und Streitäxte gab es dort nicht mehr, aber eine Sammlung Schwerter und Armbrüste war geblieben, und dazu kam eine moderne Ausstattung mit Schusswaffen und Munition.

Wie fast in der ganzen Burg hatte er auch in diesem Keller elektrische Leitungen verlegen lassen. Er schaltete das Licht an. Auch wenn die weiter entfernten Winkel des Raumes im Dunkeln blieben, leuchteten an den Wänden neben ihm eine beeindruckende Sammlung Schwerter auf, die das Licht spiegelten und seine düstere Laune aufhellten. Wie treue Freunde hatten sie ihm über die Jahrhunderte einen guten Dienst erwiesen. Das Schwert war noch immer die Waffe der Wahl für ihn und seine älteren Vampirfreunde. Bei seinen moderneren Kumpanen war es anders.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Zehn Minuten bis zum vereinbarten Zeitpunkt.

Die Vorräte, die er am Abend zuvor heruntergebracht hatte, lagen ordentlich aufgereiht auf einem langen Holztisch. Ein paar Messer. Eine Schachtel mit Patronen für eine automatische Handfeuerwaffe. Noch eine Schachtel mit Gewehrpatronen und Handgranaten. Und eine lange Schachtel mit modernen Pfeilen. Er stellte die Kühlbox an ein Ende des Tisches. Das Trockeneis darin würde das synthetische Blut tagelang kühl halten.

„Hey, Zoltan“, erklang eine Stimme von der Wendeltreppe, „bist du da unten?“

Verdammt. Das war Howard, sein neuer Wachmann. Zoltan drehte sich zu dem riesigen Wer-Bären um, der sich bücken musste, um sich am Eingang zum Kellerraum nicht den Kopf zu stoßen. „Du musst nicht nach mir sehen, es geht mir gut. Ich dachte, du willst deine Frau zum Essen ausführen.“

„Will ich auch. Sie wollte sich erst frisch machen.“ Howard ließ seinen scharfen Blick durch den Raum wandern und ihn dann auf dem Tisch voller Vorräte verweilen. „Das ist also die Waffenkammer.“

„Ja.“ Vor einer Woche hatte Zoltan Howards Frau, Elsa, und ihr Team von Renovierungs-Experten eingestellt, um Arbeiten am verfallenen Ostflügel und dem Turm zu erledigen. Sie hatten sich auf die Chance gestürzt, eine echte transsilvanische Burg in ihrer Fernsehsendung vorzustellen. Howard dagegen hatte seine Frau seit fast sechs Monaten nicht gesehen, weil er in Japan stationiert gewesen war. Sein Boss, Angus MacKay von MacKay Security and Investigation, hatte Zoltan gebeten, den Wer-Bären als seinen neuen Leiter des Sicherheitsdienstes zu akzeptieren, damit das Paar wieder etwas mehr Zeit zusammen verbringen konnte.

Zoltan wusste, dass es sich dabei nur um eine Ausrede handelte. Seit drei Jahrhunderten hatte er den Posten des Zirkelmeisters von Osteuropa inne. Zu seinen Pflichten gehörte es, seine Untergebenen vor den bösen Vampiren, die als Malcontents bekannt waren, zu beschützen, er hatte sich mit den Jahren also durchaus einige Feinde gemacht. Erst vor Kurzem hatte er einen Menschenhändler-Ring der Malcontents hochgehen lassen. Angus sorgte sich, dass sie auf Rache aus waren, weswegen er von Howard erwartete, die Sicherheitsvorkehrungen in Zoltans Burg und seiner Stadtvilla in Budapest auf den neuesten Stand zu bringen.

Zoltan hatte sich nur zögernd einverstanden erklärt. Wie hatte er ablehnen können, wenn Elsa ihn mit so hoffnungsvoller Miene darum gebeten hatte, zuzustimmen? Sie war den ganzen Tag aufgeregt gewesen und hatte ungeduldig auf ihren Mann gewartet, der vor ungefähr einer Stunde angekommen war. Schlechtes Timing, was Zoltan anging, denn er hatte in genau acht Minuten ein Treffen vereinbart, das geheim bleiben sollte.

„Ich bin mir sicher, du willst dringend bei deiner Frau sein“, sagte er zu dem Wer-Bären, „ich werde dir also morgen Abend die ganze Burg zeigen. Oder wenn du willst, kann Milan, mein Assistent, mit dir morgen tagsüber die Tour machen.“

Howard nickte. „Den habe ich gerade oben getroffen. Er redet ziemlich viel.“

Zoltan zuckte innerlich zusammen. Milan musste sein Bestes getan haben, um Howard davon abzuhalten, in den Keller zu kommen. „Warum nehmt ihr nicht eines meiner Autos für die Fahrt in die Stadt? Milan kann euch zeigen, wo die Garage ist.“

„Das hat er auch schon angeboten.“ Howard runzelte die Stirn. „Weißt du, als neuer Sicherheitschef muss ich sagen, dass ich schockiert bin, wie wenig Vorkehrungen du hier getroffen hast. Ich habe nur eine Überwachungskamera entdecken können, draußen am Eisentor …“

„Dem Fallgatter, ja.“

„Und die funktioniert nicht einmal.“

„Verstehe, na ja …“ Zoltan ging auf ihn zu und deutete dabei auf die Treppe. „Darüber können wir morgen noch reden. Hab einen schönen Abend.“

Howard rührte sich nicht. „Soweit ich es bisher sagen kann, weiß jeder hier in der Burg, dass du ein Vampir bist.“

„Ja.“

„Und das Restaurant, das du empfohlen hast – ich habe dort angerufen und die haben mich gefragt, ob ich beim hiesigen Vampir in der Burg untergekommen bin.“

„Du musstest nicht anrufen. Es gibt nur zwei Straßen im Dorf und ein einziges Restaurant. Das kann man kaum übersehen.“

„Darum geht es nicht! Zoltan, wie viele Menschen wissen, dass du ein Untoter bist?“

Er zuckte mit den Achseln. „Eine Menge, denke ich. Wir sind hier schließlich in Transsilvanien.“

„Das Risiko ist viel zu groß. Du solltest euer Gedankenkontroll-Ding machen und ihre Erinnerungen löschen.“

Seufzend sah Zoltan auf die Uhr. Ihm blieben nur noch sechs Minuten. „Ihre Erinnerungen sorgen für meine Sicherheit. Die Leute in dieser Gegend wissen, dass sie und ihre Vorfahren seit Generationen in Sicherheit sind, weil ich sie beschütze. Ich habe sie gegen Mongolen, Ottomanen, Türken, Ungaren, Preußen, Deutsche, Russen und unzählige Banden von Dieben und Banditen verteidigt. Die Dorfbewohner würden nie zulassen, dass mir jemand schadet. Man könnte sie als meine erste Verteidigungslinie bezeichnen.“

Howard legte den Kopf schräg und sah ihn neugierig an. „Deswegen behaupten also alle Sterblichen, mit denen ich hier spreche, du wärest ein Held? Trotzdem habe ich meine Bedenken …“

„Die habe ich auch. Wenn ich so ein blöder Held sein soll, warum bin ich dann immer noch allein?“

Howard schnaubte. „Woher soll ich das wissen? Mich kümmert es, dass es hier an Sicherheitsvorkehrungen mangelt, nicht an Bettgeschichten.“

„Eloquent ausgedrückt.“ Zoltan deutete auf die Treppe. „Und wo wir dabei sind, du solltest deine Frau nicht warten lassen.“

„Ich meine es ernst, Zoltan. Egal, wie viele treue Freunde du hast, es braucht nur einen Feind, um dich umzubringen.“

„Tatsache.“ Zoltan deutete wieder auf die Treppe. „Wir können uns auch morgen über mein kurz bevorstehendes Ableben unterhalten. Macht euch einen schönen Abend.“

„Warum habe ich das Gefühl, dass du mich hier unten nicht haben willst?“, fragte Howard.

„Er will nicht, dass du mich siehst“, sagte eine Stimme aus einer dunklen Ecke.

Stöhnend drehte Zoltan sich nach dem Vampir um, der sich gerade hereinteleportiert hatte. „Du bist zu früh.“

„Ich bin am Verhungern.“ Der Ankömmling trat ins Licht, stellte eine leere Kühlbox auf dem Tisch ab und nahm sich eine Flasche synthetisches Blut aus der vollen.

Howard erstarrte. „Russell.“

Der ehemalige US-Marine sah ihn schief an, während er die Flasche öffnete. „Howard.“ Er nahm einen tiefen Schluck.

Howard betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Vorräte auf dem Tisch und sah dann wieder Zoltan an. „Wie lange versorgst du ihn schon?“

Zoltan zuckte mit den Achseln. „Ungefähr zwei Jahre.“

Stirnrunzelnd verschränkte Howard die Arme vor der Brust. „Du meinst, seit er sich unerlaubt von der Truppe entfernt hat?“

„Ungefähr. Wäre es dir lieber, wenn er verhungert? Oder Sterbliche beißen muss?“

„Es wäre uns lieber, wenn er sich ab und zu melden würde“, knurrte Howard.

Russell hielt inne, die fast leere Flasche nur ein kurzes Stück von seinen Lippen entfernt. „Beachtet mich einfach nicht. Sprecht ruhig weiter über mich, als wäre ich nicht da.“

Howard warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Meinst du, wir machen uns keine Sorgen um dich? Angus schickt J. L. und Rajiv immer wieder nach China, um nach dir zu suchen.“

„Ich weiß.“ Russell trank die Flasche aus und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. „Ich musste ihnen schon ein paarmal aus der Patsche helfen.“

Howard schnaubte. „Sie wären nicht in Schwierigkeiten geraten, wenn sie nicht auf der Suche nach dir gewesen wären.“

„Ich habe niemanden darum gebeten, nach mir zu suchen.“ Russell lud ein neues Magazin in seine Waffe und steckte sie sich dann in den Gürtel. „Ich nehme an, du wirst Angus erzählen, dass ich hier war.“

Howard sah sich nach Zoltan um. „Du hast Angus nie davon erzählt?“

Zoltan schüttelte den Kopf. „Ich arbeite nicht für Angus.“

„Er ist dein Freund. Und er ist Russells Schöpfer.“ Howard drehte sich zu dem Ex-Marine um. „Solltest du nicht so etwas wie Loyalität ihm gegenüber empfinden?“

„Er hat mich nicht verwandelt.“ Russell füllte die Taschen seines alten Mantels mit weiteren Magazinen für seine Waffe. „Das hat Master Han getan. Angus hat den Job nur zu Ende gebracht. Und Zoltan war es, der sich meiner angenommen und mir nach der Verwandlung geholfen hat.“

„Wir alle würden dir helfen“, stellte Howard klar. „Glaubst du, wir würden uns nicht um dich kümmern? Oder dich mit Vorräten versorgen?“

Russell räumte die Gewehrmunition in eine abgegriffene Segeltuchtasche. „Das würdet ihr, aber für einen Preis. Ihr würdet erwarten, dass ich eure Fragen beantworte.“

„Das nennt sich Kooperation. Wir sind auf derselben Seite, weißt du. Wir wollen alle, dass Master Han stirbt.“

Russells Augen blitzten wütend auf. „Er gehört mir. Eure Art von Hilfe ist mir nur im Weg. Ihr habt verdammt noch mal viel zu viel damit zu tun, seine Soldaten zu retten …“

„Das sind Sterbliche“, wandte Howard ein.

„Sie haben sich ihm freiwillig angeschlossen, im Tausch gegen Superkräfte.“ Russell steckte sich in jeden Stiefel ein neues Messer. „Sie haben ihre Wahl getroffen. Es ist nicht mein Problem, wenn sie dafür bezahlen müssen.“

„Ihre Superkräfte kommen von einem Dämon. Wenn man sie umbringt, kommen sie in die Hölle.“

„Wie gesagt. Nicht mein Problem.“ Russell befestigte die Handgranaten an seinem Gürtel.

Howard seufzte. „Kommst du wenigstens nach Japan, um dir anzusehen, was da passiert? Ich habe die letzten sechs Monate dort mit unserem Team aus Ärzten und Wissenschaftlern verbracht. Sie haben mehr als hundert von Master Hans Soldaten wieder zurückverwandelt.“

Russell verzog verächtlich das Gesicht. „Brillant. Dann fehlen nur noch neunhundert.“

„Howard?“, rief Elsa die Treppe hinab. „Bist du da unten?“

„Einen Augenblick!“ Howard blieb am Eingang zum Treppenhaus noch einmal stehen. „Komm morgen Abend wieder, Russell, damit wir uns unterhalten können.“

„Nein danke.“ Russell öffnete die Schachtel mit den Pfeilen.

Howard sah Zoltan stirnrunzelnd an. „Wir unterhalten uns, wenn ich vom Abendessen zurück bin.“

„Keine Eile. Hab einen schönen Abend.“ Zoltan sah zu, wie der riesige Wer-Bär die schmale Wendeltreppe erklomm. „Sobald er aus der Tür ist, ruft er Angus an.“

„Falls er überhaupt so lange wartet.“ Russell nahm den Köcher von seinem Rücken und stellte ihn schwungvoll neben den Karton mit Pfeilen auf den Tisch. „Ich fülle nur noch schnell auf und verschwinde.“ Er sah Zoltan an. „Bekommst du deswegen jetzt Schwierigkeiten?“

Zoltan schnaubte. „Was soll Angus schon machen? Wenn er in Japan ist, ist dort wahrscheinlich sowieso schon Tag. Er ruft mich an, wenn er aufwacht, um mir Vorhaltungen zu machen, aber letztendlich wird er mir danken, weil ich mich um dich gekümmert habe. Er ist kein schlechter Kerl, weißt du.“

Russell nahm sich eine Handvoll Pfeile aus der Schachtel. „Wir haben unterschiedliche Prioritäten.“

Zoltan nickte. Angus und seine Angestellten, wie Howard, wollten Sterbliche vor bösen Vampiren beschützen, Russell wollte dagegen nichts weiter, als Master Han umbringen. Der böse Kriegsherr hatte Russell während des Vietnamkrieges angegriffen und ihn danach vierzig Jahre im Vampirkoma liegen lassen. Als sie Russell in einer Höhle in Thailand entdeckt hatten, hatte Angus den Prozess der Verwandlung vollzogen, damit Russell aufwachen und sich dem Kreis der Untoten anschließen konnte. Seit zwei Jahren durchsuchte Russell das riesige Territorium von Master Han und wartete auf seine Gelegenheit, den bösen Vampir zu töten.

Russell schob einen alten Pfeil zur Seite, um in seinem Köcher Platz für die neuen zu schaffen. Zoltan blinzelte, seinen Augen kaum trauend.

„Moment!“ Er stürzte sich auf den Köcher. Die Federn an dem alten Pfeil kamen ihm bekannt vor.

Er zog ihn heraus, und sein Herz fing an zu rasen, als er die Schnitzereien am Schaft entdeckte. Hatte er nach achthundert Jahren wirklich ein Duplikat gefunden? Er eilte zu dem an der Mauer hängenden Pfeil hinüber, um die beiden miteinander zu vergleichen. Die Spitze des neuen Pfeils war modern, aber ansonsten sahen beide genau gleich aus.

Er drehte sich zu Russell um. „Wo hast du den her?“

Ein misstrauischer Ausdruck legte sich auf Russells Gesicht, ehe er sich abwandte und die restlichen Pfeile in seinen Köcher stopfte. „Keine Ahnung. Ich teleportiere im ganzen südlichen China, im nördlichen Myanmar und in Tibet herum. Und auf dem Weg sammele ich alles Mögliche ein. Ich hätte ihn überall finden können.“

„Du musst dich daran erinnern.“ Zoltan ging auf ihn zu. „Es ist sehr wichtig.“

Russell setzte sich den Köcher wieder auf den Rücken. „Ich habe keine Ahnung.“

„Du versuchst es nicht richtig.“ Zoltan knirschte mit den Zähnen. „Ich muss wissen …“

„Ich kann es dir nicht sagen.“

Zoltans Herzschlag setzte aus. Russell hielt sein Gesicht bewusst ausdruckslos. „Du meinst, du willst es mir nicht sagen.“

„Ich muss los.“ Russell nahm sich die Kühlbox. „Danke für die Vorräte.“

„Warte!“ Zoltan sprang vor und packte gerade in dem Augenblick Russells Arm, als der sich zu teleportieren begann.

Sobald sie sich wieder materialisiert hatten, stieß Russell ihn von sich. „Was zur Hölle machst du da?“

Zoltan fing sich rasch und sah sich um. Natur. Baumlose Hügellandschaft. Gelbliches Gras, das ihm fast bis an die Knie reichte. Ein Halbmond und zahllose Sterne strahlten am wolkenlosen Himmel. „Wo sind wir?“

„Du hättest nicht mitkommen sollen. Geh nach Hause.“

Zoltan zeigte ihm den Pfeil, den er immer noch fest in der rechten Hand hielt. „Das ist mein erster Hinweis seit fast achthundert Jahren. Sag mir, woher er gekommen ist.“

„Das kann ich nicht.“

Ein Blitz aus Wut durchzuckte Zoltan. „Ich helfe dir jetzt seit zwei Jahren, sag mir …“

„Ich kann nicht!“

„Verdammt, Russell!“ Zoltan umklammerte den Pfeil noch fester. „Wegen genau so einem Pfeil bin ich zum Vampir geworden. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen zu sterben, ohne zu erfahren, was passiert ist. Ich musste jung und gesund bleiben, um weiter nach der Wahrheit suchen zu können. Ich habe meine Sterblichkeit dafür aufgegeben, sag mir also, wo du diesen verdammten Pfeil gefunden hast!“

Russell verzog schmerzlich seine Miene. „Schön. Vor zwei Wochen habe ich Lord Liao und eine Gruppe Soldaten verfolgt, als sie von einer kleineren Einheit angegriffen wurden. Ich dachte mir, der Feind meines Feindes ist mein Freund, und sie haben schwere Verluste erlitten, also habe ich ihnen geholfen. Wir haben die meisten von Lord Liaos Soldaten umgebracht, aber er selbst hat sich natürlich in Sicherheit teleportiert. Ich war verwundet und habe das Bewusstsein verloren. Ich wäre bei Sonnenaufgang gestorben, aber sie haben mich gerettet.“

„Wer waren sie?“

Russell stöhnte. „Das Einzige, was sie im Gegenzug verlangt haben, war, dass ich niemandem verrate, wer sie sind und wo sie leben. Es tut mir leid. Ich weiß wirklich zu schätzen, was du für mich getan hast, aber mehr kann ich dir nicht erzählen.“

„Na schön. Dann halt den Mund und zeig nur in die richtige Richtung.“

„Warum ist dir das so wichtig?“

Zoltan hob den Pfeil an. Mondlicht brach sich an seiner stählernen Spitze. „Ein Pfeil wie dieser hat meinen Vater getötet.“

„Dann willst du Rache?“

Zoltan schüttelte den Kopf. „Ich bin mir sicher, dass der Schuldige schon lange tot ist. Ich will Antworten.“

Russell trat von einem Fuß auf den anderen. „Manchmal gibt es keine. Geh wieder nach Hause. Sie wollen in Ruhe gelassen werden.“

„Wer sind sie?“

„Geh nach Hause!“ Russell teleportierte sich davon.

Zoltan stürzte ihm nach, aber er war verschwunden. „So ein Mist.“ Auch gut. Russell hätte ihm ohnehin nicht mehr verraten.

Sich im Kreis drehend versuchte Zoltan, sich zu orientieren. Mitten im Nirgendwo. Keine Waffe bei sich, bis auf den Pfeil. Er nahm sein Smartphone zur Hand und ließ seinen Aufenthaltsort per GPS bestimmen. Tibet.

Er überlegte sich, in seine Burg zurückzukehren und Waffen und einen Mantel zu besorgen. Auch wenn es Mitte Mai war, in Tibet kam der Frühling erst spät. Ein kalter Wind wehte von Norden her und zauste das Gras, das noch grün werden musste.

Auf seinem Telefon machte er das nächstgelegene Dorf aus, über hundert Meilen nach Südwesten. Warum Zeit damit verschwenden, noch einmal nach Hause zu gehen? Er konnte in einer halben Stunde in diesem Dorf sein und Fragen stellen.

Er machte sich eilig auf den Weg. In ihm wuchs die Aufregung. Das war viel interessanter als das, was er normalerweise jeden Abend tat: in seinem Büro in Budapest arbeiten. Er war für die Arbeit angezogen – weißes Hemd, rote Krawatte, ein teurer italienischer Anzug und Lederschuhe. Überhaupt nicht geeignet für ein Abenteuer in Tibet, aber wenn er in irgendwelche Schwierigkeiten geriet, konnte er sich einfach nach Hause teleportieren.

Tibet. Waren die Mörder seines Vaters wirklich den ganzen Weg aus Tibet gekommen? Als er vor Jahrhunderten nach ihnen gesucht hatte, hatte er dabei Osteuropa, Westrussland und den Nahen Osten abgedeckt. Im nordwestlichen Teil von Indien hatte er endlich aufgegeben, weil er nicht glauben konnte, dass irgendwer so weit gereist wäre, um jemanden in Transsilvanien zu töten.

Hatte der Mord an seinem Vater irgendwie mit dem geheimnisumwobenen Hintergrund seiner Mutter zu tun? Sie war aus dem Osten gekommen, aber niemand wusste, woher genau. Sein Vater, ein Händler, der die Seidenstraße bereiste, hatte sich in sie verliebt und sie mit nach Hause gebracht.

Konnte sie aus Tibet stammen? Zoltans Puls beschleunigte sich. Nach fast achthundert Jahren würde er vielleicht endlich Antworten finden.

Er teleportierte sich, so weit er sehen konnte, und wiederholte diesen Vorgang dann, bis er in der Nähe des Dorfes angekommen war. Die Landschaft veränderte sich Stück für Stück, wurde hügeliger und immer mehr bewaldet. Er teleportierte sich auf den hohen Ast einer Pinie, damit er das Dorf auskundschaften konnte. Es lag in ein Tal geschmiegt an den Ufern eines Flusses. Keine Elektrizität. Entlang der einzigen Hauptstraße waren ein paar Laternen angezündet. Er sah auf sein Handy. Kein Empfang. Wenn er noch einmal herkam, musste er ein Satelliten-Telefon mitbringen.

Er ließ sich wieder auf den Boden hinab, ordnete seinen Anzug und seine Krawatte und schlenderte dann gelassen in das Dorf hinein. Eine alte Frau war über einen handgemachten Besen gebeugt und fegte vor ihrer Haustür.

Als Zoltan sie begrüßte, richtete sie sich auf und sah ihn misstrauisch an.

Er begrüßte sie noch einmal auf Englisch und schenkte ihr ein Lächeln. Dann zeigte er ihr den Pfeil. „Wissen Sie, wo …“

Sie ließ eine Tirade aus wütenden Worten los, schüttelte ihren Besen nach ihm und rannte dann in ihr marodes Haus, die Tür hinter sich zuknallend.

Zoltan seufzte. Die Sprachschwierigkeiten hätten ihm klar sein müssen. Über die Jahrhunderte hatte er neun Sprachen gelernt, aber das Tibetisch, das in diesem Dorf gesprochen wurde, gehörte nicht dazu.

Er entdeckte einen Mann, der vor einem anderen Haus saß und etwas aus einem Lederbeutel trank. „Guten Abend.“ Er hob den Pfeil. „Wissen Sie, wo …“

Der Mann stand stolpernd auf und murmelte leise etwas. Dann wedelte er mit den Armen, als wollte er Zoltan davonjagen. Als das nicht funktionierte, spuckte er auf den Boden, rannte ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.

Dummer Mensch will wohl umgebracht werden.

Zoltan drehte sich nach der Stimme um, sah aber nur einen Hund, der auf der Veranda vor einem Haus ein Stück die Straße hinab lag. Natürlich. Seit seiner frühesten Kindheit besaß Zoltan die seltsame Gabe, mit Tieren kommunizieren zu können. Oft waren sie seine beste Informationsquelle, da die Gespräche mit ihnen rein in Gedanken verliefen und es keine Sprachbarriere gab.

Er ging langsam auf den Hund zu und schickte ihm eine Nachricht. Warum sollte man mich wegen meiner Fragen umbringen?

Der Hund setzte sich mit einem Ruck auf. Was war das?

Ich war das. Zoltan blieb auf der Straße stehen, bereit, sich zu teleportieren, wenn es sein musste. Es war immer schwer vorherzusagen, wie ein Tier reagieren würde. Die meisten Hunde waren freundlich, aber ab und an fühlte sich einer von ihnen bedroht und ging zum Angriff über.

Was? Der Hund legte den Kopf zur Seite und spitzte die Ohren. Redest du mit mir?

Ja. Ich habe die Gabe, mit Tieren zu kommunizieren.

Soll das ein Witz sein? Der kleine gefleckte Hund sprang von der Veranda und trottete auf ihn zu. Kannst du wirklich mit mir reden? Kannst du meine Gedanken hören?

Ja. Und du meine.

Heiliges Hundehäufchen! Der Hund lief im Kreis um ihn herum. Das ist ja klasse! Ich wusste nicht, dass Menschen auch denken. Manche von ihnen wirken nicht so helle, weißt du, deswegen habe ich mich immer gewundert. Konntest du das schon immer? Konntest du es schon als Welpe? Du musst ein seltsamer Mensch sein. Ich finde du riechst auch komisch. Isst du gerne? Ich mag Kaninchen. Wollen wir Freunde sein?

Sicher, antwortete Zoltan, als der Hund ihn zum fünften Mal umrundete. Es handelte sich offensichtlich um einen von der freundlichen Sorte. Kannst du dich ein bisschen beruhigen?

Warum? Kommst du nicht mit? Ich hatte schon immer den Verdacht, Menschen sind ein bisschen langsam. Du riechst nicht so wie die Menschen, die ich kenne. Ich könnte dich anpinkeln, damit du besser riechst.

Nein danke.

Der Hund sprang plötzlich auf und sah sich um. Was war das?

Ich bin mir nicht sicher.

Ich glaube, das war ein Kaninchen. Kaninchen mag ich am liebsten. Hast du Hunger? Ich schon. Wenn du dein Stöckchen wirfst, bringe ich es dir zurück.

Zoltan zeigte dem Hund seinen Pfeil. Ich wüsste gerne mehr über dieses Stöckchen und die Menschen, die es hergestellt haben.

Der Hund setzte sich vor ihn hin und neigte den Kopf zur Seite. Hast du was zu essen dabei?

Nein. Aber ich könnte dir den Kopf kraulen.

Der Hund ließ seine Zunge hängen, während er überlegte. Okay.

Zoltan tätschelte ihm den Kopf. Guter Hund. Also, was weißt du von den Machern dieses Pfeils?

Der Hund schlug mit seinem Schwanz auf den Boden. Das sind Jäger. Wilde Krieger. Die Menschen hier haben Angst vor ihnen. Du solltest dich von ihnen fernhalten.

Zoltan rieb den Hund hinter den Ohren, bis er so fest mit dem Schwanz schlug, dass sein ganzes Hinterteil ins Wackeln geriet. Warum sollte ich mich fernhalten?

Weil sie dich umbringen werden.

Zoltan hielt inne. Wo sind sie?

Du hast mit dem Streicheln aufgehört. Und ich sollte es dir nicht verraten, weil die dich dann umbringen. Ich habe schon immer vermutet, dass Menschen nicht sehr schlau sind.

Zoltan kraulte ihm wieder den Kopf. Was für ein kluger Hund du bist. Wo sind sie?

In den Bergen im Süden. Willst du jetzt mit mir spielen?

Ich muss jetzt gehen. Danke für deine Hilfe.

Du gehst? Aber wir haben uns gerade erst kennengelernt. Und du bist jetzt mein Freund.

Du bist ein guter Hund. Zoltan tätschelte ihn noch einmal und sauste dann aus dem Dorf.

Wow! Die Stimme des Hundes wurde immer schwächer. Du bist echt schnell für einen Menschen. Ich wette, du könntest ein Kaninchen fangen. Versuch, dich nicht umbringen zu lassen, okay?

Neona presste die Hand auf den runden Erdhügel, unter dem ihre Zwillingsschwester Minerva begraben lag.

Zwei Wochen waren vergangen. Zwei Wochen, seit man ihr die halbe Seele entrissen hatte. Tränen sprangen ihr in die Augen, und immer wieder spulte sich die gleiche Litanei an Fragen in ihren Gedanken ab.

Wie soll ich ohne dich leben? Wie jeden Tag ertragen? Sie ballte die Faust um eine Handvoll Erde und drückte sie zu einem Ball zusammen, als ein wütender Blitz ihre Trauer durchschlug. Warum hast du nicht härter gekämpft?

Eine Träne lief ihr die Wange hinab, und Neona ließ den Erdklumpen wieder fallen. Sie kannte die Antwort. Sieben Jahre zuvor hatte ihre Schwester einen Sohn zur Welt gebracht. Männliche Kinder waren in Beyul-La nicht gestattet, deswegen war Minerva gezwungen gewesen, den kleinen Jungen an das buddhistische Kloster abzugeben, das sich dreißig Meilen entfernt befand. Ihr gebrochenes Herz war nie ganz geheilt.

Am Anfang hatte Neona versucht, den Schmerz ihrer Schwester zu lindern, indem sie eine fröhliche Fassade aufsetzte. Aber je tiefer Minervas Trauer gegangen war, desto mehr hatten Frustration und Trauer auch Neonas Seele belastet. Sie und ihre Schwester hätten sich der Königin widersetzen und den kleinen Jungen behalten müssen.

Seufzend legte Neona sich auf den grasbewachsenen Hügel und sah hinauf zu den Sternen. Wie hätten sie sich der Königin widersetzen können, wo sie doch ihre Mutter war? Sie hätten deswegen aus Beyul-La verbannt werden können. Wie hätten sie ihr Zuhause verlassen sollen und alles, was es ihnen bedeutete?

Neona liebte Beyul-La. Es war das schönste Tal im ganzen Himalaya. Sie vermutete, in der ganzen Welt. Es schenkte ihnen Leben und einen Zweck, während die Welt dahinter nur Elend und Tod zu versprechen schien. Aber es hatte auch Zeiten gegeben, in denen sie im Gras lagen, zu den Sternen hinaufblickten und Minerva behauptete, dass sie Gefangene waren.

„Sieh dir an, wie weit der Himmel ist“, hatte Minerva gesagt. „Die Welt um uns herum muss ebenso weit sein. Sehnst du dich nicht danach, sie kennenzulernen?“

Neona hatte versucht, das Unglück ihrer Schwester zu lindern, indem sie die Worte wiederholte, die sie seit frühester Kindheit gehört hatten, das Mantra, das ihnen seit Jahren Trost spendete, weil sie sich dadurch besonders und wichtig fühlten. „Wir sind die erwählten Hüterinnen dieses heiligen Tales und seiner Geheimnisse. Unsere Mission ist edel und notwendig.“

„Was war edel daran, dass man mich gezwungen hat, mein Kind fortzugeben?“, hatte Minerva verbittert gemurmelt.

Seufzend wischte Neona sich die Tränen aus dem Gesicht. Das Mantra konnte sie nicht mehr trösten. Und ihre Schwester war auf die einzige Art entkommen, die sie kannte. Mit dem Tod. Die Schlacht vor zwei Wochen hatte ihr Leben und das von vier anderen gekostet.

„Neona!“, wies jemand sie mit scharfer Stimme zurecht. „Du solltest dein Leben nicht hier bei den Toten verschwenden.“

Neona setzte sich auf und sah Lydia auf sich zukommen. Ein paar Sekunden lang überlegte sie, ihrer alten Freundin in Erinnerung zu rufen, dass auch Mitglieder ihrer Familie hier bei den Toten begraben lagen. Eine Reihe aus fünf frischen Erdhügeln verschandelte die Landschaft, und daneben ein alter, mit Gras bewachsener Hügel. Aber der verhärmte Ausdruck auf Lydias Gesicht hielt Neona vom Reden ab. Lydia litt stumm.

Alle Kriegerinnen von Beyul-La litten. Die Schlacht vor zwei Wochen war vernichtend gewesen. Innerhalb von Minuten hatte sich ihre Zahl von elf auf sechs verringert.

Lydia blieb auf halbem Weg den Hügel hinauf stehen. „Die Königin hat den Alarm erklingen lassen. Es gibt einen Eindringling in unserem Territorium.“

Neona sprang auf und kam den Hügel hinabgelaufen. „Nur einen?“

„Es scheint so.“ Lydia begleitete sie in das kleine Dorf mit den sechs strohgedeckten Steinhäusern.

Die anderen Frauen waren bereits dort und zündeten einige Fackeln am Lagerfeuer an, ehe es gelöscht wurde, um das Tal in Dunkelheit zu tauchen. Dann eilten die fünf Frauen in die Höhle, wo Neonas Mutter, Königin Nima, bereits wartete.

Die Fackeln steckten sie in Halterungen an den Steinwänden, und der große Raum erhellte sich. Rosa und cremefarbene Tropfsteine hingen feucht glänzend von der hohen Decke, und aus einem Riss in der Steinwand ergoss sich glitzerndes Wasser in ein Becken darunter. Hinter dem Becken wand sich ein schmaler Pfad tief in das Innerste des heiligen Berges. Vor dem Becken befand sich ein großer Steinboden, der über die Jahrhunderte glatt abgetreten worden war.

Königin Nima ging dort auf und ab und deutete auf die Eule, die auf der Lehne ihres Thrones hockte. „Er hat einen männlichen Eindringling entdeckt, der unser Territorium von Norden her betreten hat.“

Lydias Nichte, Winifred, fluchte leise. „Könnte es Lord Liao sein?“

„Möglich“, antwortete Nima. „Oder ein Soldat von Master Han.“

„So nahe sind sie uns noch nie gekommen“, sagte Neona. Die Schlacht vor zwei Wochen hatte sich vierzig Meilen entfernt zugetragen. Die Kriegerinnen von Beyul-La hatten sich im benachbarten Dorf Pferde für den weiten Weg geliehen, um dem Feind entgegenzutreten, denn oberstes Gebot war, das heilige Tal geheim zu halten.

„Keinem Mann darf es gestattet sein, Beyul-La zu erblicken“, warnte Nima sie, wie schon so oft. „Freya, du übernimmst den Bereich im Osten. Winifred, du den Westen, Neona den Norden. Und Tashi den Süden. Findet ihn. Wenn er ein Dorfbewohner ist, der sich verlaufen hat, weist ihm den Weg nach Hause. Droht ihm mit dem Tode, falls er noch einmal zurückkommt. Wenn es einer von Master Hans Männern ist, tötet ihn, ohne zu zögern.“

Die vier Frauen deuteten mit einem Neigen ihrer Köpfe an, dass sie ihre Befehle entgegengenommen hatten.

Neona rannte in den Bereich, wo sie ihre Rüstungen und Waffen aufbewahrten. Sie trug immer den Brustpanzer und den Helm, die ihr Vater hinterlassen hatte, ein Krieger aus Griechenland.

„Jetzt sind wir nur noch zu sechst“, sagte Winifred, während sie einen Brustpanzer aus mit Metallnieten besetztem Leder anlegte.

„Das wissen wir“, murmelte Lydia, die ihrer einzigen verbliebenen Tochter, Tashi, beim Anlegen ihrer Rüstung zusah.

„Ich denke, wir sollten alle in Betracht ziehen, eine Tochter zu bekommen“, fuhr Winifred fort.

„Vielleicht“, antwortete Königin Nima. „Darüber reden wir später. Erst müssen wir mit dieser Invasion fertigwerden.“

„Oh, ich verstehe, was Freddie meint“, sagte Freya, ihre Schwester verteidigend. „Der Eindringling hat vielleicht Potenzial.“

„Ganz genau!“ Winifred nickte. „Vielleicht ist er schmucken Antlitzes, stark und leichtfüßig.“

Lydia lachte spöttisch. „Eher ist er ein tollpatschiger Trottel, der sich verlaufen hat und nicht weiß, wie er wieder nach Hause kommt.“

„Aber wenn er doch ein gutes Exemplar ist“, wendete Winifred ein, „sollten wir uns überlegen, seinen Samen zu nehmen.“

Freya steckte ihr Schwert ein. „Ich hoffe, ich finde ihn.“

Winifred schnaubte. „Es war mein Vorschlag. Ich sollte diejenige sein, die ihn findet.“

Lachend reichte Tashi jeder von beiden ein Stück Seil. „Hier. Falls ihr ihn festbinden müsst.“

Neona runzelte die Stirn. Freddie und Freya schienen beide sehr begierig darauf, ein Kind zu bekommen. War es ihnen egal, dass sie das Kind weggeben mussten, wenn es ein Junge wurde? Neona hatte nur ein einziges Mal versucht, schwanger zu werden, und als der Samen in ihr keine Wurzeln geschlagen hatte, war sie heimlich erleichtert gewesen. Nachdem sie den Schmerz gesehen hatte, den ihre Schwester durchgemacht hatte, fürchtete sie, in das gleiche verzweifelte Loch zu fallen.

„Nun gut“, räumte Königin Nima ein. „Ihr könnt den Samen des Mannes nehmen, aber nur, wenn er ein Prachtexemplar ist. Unsere Töchter müssen Kriegerinnen sein, geistig und körperlich überlegen. Und vergesst nicht den Hauptgrund eurer Mission.“

Neona nickte, und die anderen Frauen murmelten: „Ja, Euer Majestät.“

Immer mehr Unbehagen machte sich in Neona breit, während sie den Helm ihres Vaters aufsetzte. Er war aus Messing mit einem schwarzen Kamm und verziertem Wangenschutz. Sie hatte sich immer gefragt, was aus dem mutigen griechischen Soldaten geworden sein mochte, der so weit von zu Hause fortgereist war und schließlich sie selbst und Minerva gezeugt hatte.

Als sie noch jung war, hatte sie ihre Mutter danach gefragt, und Nima hatte geantwortet, dass er nach Griechenland zurückgekehrt war. Dann hatte sie Neona gewarnt, nie wieder von ihm zu sprechen. Mit den Jahren war Neona der Verdacht gekommen, dass ihre Mutter nicht die Wahrheit gesagt hatte.

„Bleibt unserem edlen Zweck treu“, rief Königin Nima ihnen in Erinnerung. „Wenn ihr mit dem Mann fertig seid, bringt ihn um.“