Ich geh’ und fühl’ die Glieder kaum!
Heb’ mich so leicht empor!
Bin ich im Schlaf gestorben denn
Und in der Sel’gen Chor?
Samuel Taylor Coleridge, »Der alte Matrose«
Malcolm gelang es nur mit Mühe, die wenigen Minuten, die das Abendessen dauerte, am Tisch sitzen zu bleiben. Er hatte bereits ungeduldig gewirkt, als Lucie ein paar Stunden nach Sonnenuntergang darauf hingewiesen hatte, dass sie etwas essen mussten. Sie vermutete, dass Malcolm schon lange keinen Hausgast mehr gehabt hatte. Und wahrscheinlich machte er sich nur selten die Mühe, eine ganze Mahlzeit an seinem Esstisch einzunehmen. Vermutlich zauberte er sich einfach etwas herbei, sobald er Hunger hatte, wo auch immer er gerade war.
Obwohl er zunächst gemurrt hatte, organisierte er schließlich mehrere Teller mit, wie er es nannte, einfachem, aber traditionellem kornischem Fischerdorfessen: Sardinen, über dem Holzfeuer gegrillt; große Kanten Brot mit einer Kruste, an der man sich die Zähne ausbeißen konnte; ein weicher, runder Käse und ein Krug Apfelwein. Lucie hatte sich über das Essen hergemacht, als hätte sie tagelang nichts mehr gegessen – was ja auch stimmte, dachte sie dann.
Jesse hatte die Sardinen misstrauisch beäugt, und die Sardinen hatten aus glasigen Augen zurückgeschaut. Aber schließlich hatte er sich mit der Situation angefreundet und ein paar probiert. Lucie sah Jesse so gebannt beim Essen zu, dass sie fast vergessen hätte, wie hungrig sie selbst war. Zwar musste er in der Zeit, als sie geschlafen hatte, etwas zu sich genommen haben, aber das Ganze war eindeutig noch immer eine Offenbarung für ihn. Bei jedem Bissen schloss er die Augen, und er leckte ein paar Tropfen verschütteten Apfelwein mit einem Blick von den Fingern ab, der Lucie ganz durcheinanderbrachte.
Nach der Hälfte der Mahlzeit kam Lucie plötzlich der Gedanke, Malcolm zu fragen, woher genau er das Essen besorgt hatte. Sie und Jesse tauschten bestürzte Blicke, als er zugab, dass er es von einer Familie im Dorf stibitzt hatte, die sich gerade zum Abendessen hinsetzen wollte. »Sie werden den Pixies die Schuld geben«, sagte er. Vermutlich handelte es sich dabei um eine Art hinterlistiger, lokaler Feenwesen.
Nach einem schuldbewussten Moment überlegte Lucie, dass man die Essensreste jetzt ohnehin nicht mehr zurückgeben konnte, und versuchte, das Ganze zu vergessen.
Kaum waren die Teller leer, sprang Malcolm auch schon auf und stürmte hinaus. Er steckte nur noch einmal kurz den Kopf ins Esszimmer, um ihnen mitzuteilen, sie dürften gerne den Kessel aufsetzen und Tee machen, wenn sie wollten. Und danach war er so schnell verschwunden, dass die Haustür in den Angeln klapperte, als er sie hinter sich zuschlug.
»Ich frage mich, wohin er geht«, sagte Jesse, während er genussvoll in ein Stück Siruptorte biss. »Er ist die meiste Zeit weg. Sogar während der Tage und Nächte, als du nicht bei Bewusstsein warst.«
»Ich weiß nicht, wohin er geht«, erwiderte Lucie. »Aber ich weiß, dass er versucht, mehr über Annabel Blackthorns Schicksal herauszufinden.«
»Ah, seine große, verlorene Liebe?«, fragte Jesse, und als Lucie ihn überrascht ansah, lächelte er. »Malcolm hat mir ein paar Details erzählt. Dass sie einander als Jugendliche geliebt haben, aber ihre Familie etwas dagegen hatte. Und dass er sie unter tragischen Umständen verlor und jetzt nicht einmal weiß, wo sie begraben ist.«
Lucie nickte. »Er hatte immer geglaubt, sie sei eine Eiserne Schwester geworden, aber es stellte sich heraus, dass das nicht stimmte. Ihre Familie hatte ihm das nur erzählt, damit er nicht länger nach ihr suchte.«
»Davon hat er nichts gesagt. Er meinte bloß, ich solle mir keine Sorgen machen, weil die Blackthorns, die ihn damals belogen haben, ja nur sehr entfernte Verwandte von mir wären.«
»Oje. Was hast du geantwortet?«
Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Wenn man mich für das miserable Verhalten meiner Verwandten verantwortlich machen wollte, hätte ich derzeit deutlich größere Probleme.«
Die Erinnerung an Tatiana ließ Lucie frösteln. Sofort musterte Jesse sie besorgt. »Sollen wir ins Wohnzimmer gehen? Im Kamin brennt ein Feuer.«
Der Gedanke gefiel Lucie. Sie hatte ihr Notizbuch und ihre Stifte aus der Truhe in ihrem Zimmer mit heruntergebracht, weil sie dachte, sie könnte nach dem Abendessen vielleicht ein paar Zeilen schreiben.
Gemeinsam wechselten sie ins Wohnzimmer, und Jesse holte rasch ein Schultertuch für Lucie, bevor er sich vor den Kamin kniete, um mit einem Schürhaken in der Glut zu stochern. Lucie hatte ausnahmsweise keine Lust, zum Stift zu greifen, und machte es sich auf dem Sofa gemütlich, um ihm zuzusehen. Sie fragte sich, ob sie je aufhören würde, über die Realität dieses neuen Jesse zu staunen. Seine Haut war von der Hitze des Feuers leicht gerötet; er hatte die Ärmel seines Hemds bis zu den Ellbogen hochgeschoben, und die Muskeln an seinen Unterarmen spannten sich bei jeder Bewegung.
Schließlich stand er auf und drehte sich zu ihr um. Lucie sog scharf die Luft ein. Sein Gesicht war wunderschön – das hatte sie natürlich gewusst, es war das gleiche Gesicht wie immer. Aber zuvor hatte es verwaschen, verblasst und distanziert gewirkt. Jetzt schien Jesse jedoch wie von einem inneren Feuer zu glühen. Er besaß Textur und eine Tiefe, die vorher nicht da gewesen war, hatte etwas Wirkliches, etwas, das man berühren konnte. Nach einem Moment bemerkte sie einen schwachen Schatten unter seinen Augen – hatte er nicht geschlafen? Schlafen musste seltsam für ihn sein, da er so lange keine Gelegenheit dazu gehabt hatte.
»Jesse«, sagte sie sanft. »Stimmt irgendetwas nicht?«
Er verzog einen Mundwinkel leicht. »Du kennst mich so gut.«
»So gut nun auch wieder nicht«, erwiderte sie. »Du scheinst besorgt zu sein, aber ich weiß nicht, warum.«
Jesse zögerte einen Moment und sagte dann – irgendwie waghalsig, als würde er sich kopfüber in eine unbekannte Dunkelheit stürzen: »Es geht um meine Runenmale.«
»Deine … Runenmale?«
Er streckte ihr seine entblößten Unterarme entgegen. Lucie stand auf und streifte das Schultertuch ab, während sie auf ihn zuging; ihr war inzwischen warm genug. Die Runenmale waren ihr bisher nicht wirklich aufgefallen, da fast jeder aus ihrem Umfeld sie trug. Auf dem Rücken seiner rechten Hand befand sich die alte Narbe einer misslungenen Voyance -Rune, und in der Beuge seines linken Ellbogens eine Engelskraftrune. Sie wusste, dass er noch vier weitere besaß: eine Kraftrune auf seiner Brust; eine Rune für Schnellfüßigkeit und eine Präzisionsrune auf seiner linken Schulter sowie eine neue Voyance -Rune auf seinem linken Handrücken.
»Das sind nicht meine«, sagte er und betrachtete die Voyance - und die Enkeli- Rune. »Sie gehörten Toten … Menschen, die Belial durch meine Hände getötet hat. Ich wollte schon als Kind Runenmale haben, aber jetzt habe ich das Gefühl, als würde ich die Male ihres Todes auf meinem Körper tragen.«
»Jesse. Es ist nicht deine Schuld. Keiner dieser Tode war deine Schuld.« Lucie umfasste sein Gesicht und zwang ihn, sie anzusehen. »Hör mir gut zu: Ich kann mir nur ausmalen, wie schrecklich du dich fühlen musst. Aber du hattest über all das keine Kontrolle. Und … und wenn wir wieder in London sind, können die Runen bestimmt entfernt werden. Dann kannst du neue bekommen, deine eigenen , die du selbst auswählst.« Sie legte den Kopf in den Nacken. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. »Ich weiß, wie es ist, von Belial eine Gabe zu bekommen, um die man nicht gebeten hat und die man nicht haben wollte.«
»Lucie … das ist etwas anderes.«
»Nein, das stimmt nicht«, flüsterte sie. »Du und ich, wir sind uns in dieser Hinsicht ähnlich. Und ich kann nur hoffen, dass ich immer so tapfer sein werde wie du … dass ich alles auch so gut ertragen kann, und …«
Er küsste sie. Erstaunt keuchte sie an seinem Mund auf, und ihre Hände sanken auf seine Schultern, klammerten sich an ihn. Sie hatten sich schon einmal geküsst, auf dem Schattenmarkt. Aber das hier war etwas vollkommen anderes, ein himmelweiter Unterschied. Als hätte man immer nur Beschreibungen von Farben gehört und würde sie nun endlich mit eigenen Augen sehen.
Seine Hände schoben sich in ihre Haare, spielten mit den dicken Strähnen. Sie konnte fühlen , wie sich sein Körper veränderte, als er sie umarmte … spüren, wie sich seine Muskeln anspannten und wie sich Hitze zwischen ihnen bildete und aufstieg. Sie öffnete die Lippen, fühlte sich wild und war fast schockiert über ihre mangelnde Beherrschung. Jesse schmeckte nach Apfelwein und Honig. Seine Hände wanderten nach unten, umfassten ihre Schulterblätter und folgten der Wölbung ihres Rückens. Sie spürte seinen rasenden Herzschlag, als er sie an sich drückte, hörte das tiefe Stöhnen in seiner Kehle. Er zitterte und flüsterte an ihren Lippen, dass sie sich perfekt und lebendig anfühlte, raunte wieder und wieder ihren Namen: »Lucie, Lucie.«
Ihr war schwindlig, als würde sie fallen, durch die Dunkelheit fallen. Wie die Visionen, die Träume, die sie in ihrem halb bewussten Zustand im Bett gehabt hatte. Es fühlte sich an wie damals, als sie ihn wiedererweckt hatte, als würde sie sich verlieren, als würde sie alles verlieren, was sie mit der realen Welt verband.
»Oh …« Sie wich verwirrt blinzelnd zurück. Dann schaute sie in seine leuchtenden grünen Augen, sah das Verlangen, das seinen Blick verschleierte. »Oje«, sagte sie.
»Alles in Ordnung?«, fragte er, errötet und aufgewühlt.
»Mir war nur für einen Augenblick schwindlig … vermutlich bin ich noch immer ein bisschen wacklig auf den Beinen und müde«, sagte sie und fühlte sich untröstlich. »Was schrecklich ist, denn ich habe den Kuss sehr genossen.«
Jesse sog scharf die Luft ein. Er wirkte benommen, als hätte man ihn gerade wach gerüttelt. »Sag so etwas nicht. Dann möchte ich dich direkt wieder küssen. Und das sollte ich wohl nicht, wenn du … wacklig auf den Beinen bist.«
»Wenn du mich vielleicht nur auf den Hals küssen würdest«, schlug sie vor und schaute durch dichte Wimpern zu ihm auf.
»Lucie.« Er atmete zitternd ein, küsste sie auf die Wange und trat einen Schritt zurück. »Ich versichere dir, es würde mir sehr schwerfallen, da aufzuhören. Was bedeutet, dass ich jetzt einen Schürhaken nehmen und mich um das Feuer kümmern werde.«
»Und wenn ich versuche, dich zu küssen? Schlägst du mich dann mit dem Schürhaken?« Sie lächelte.
»Ganz und gar nicht. Ich werde handeln wie ein Gentleman und mich selbst mit dem Schürhaken schlagen. Dann darfst du Malcolm bei seiner Rückkehr das Blutbad erklären.«
»Ich glaube nicht, dass Malcolm noch lange hierbleiben will.« Lucie seufzte und sah zu, wie die Funken im Kamin aufstoben, winzige tanzende, goldene und rote Pünktchen. »Irgendwann wird er nach London zurückkehren müssen. Schließlich ist er der Oberste Hexenmeister.«
»Lucie«, sagte Jesse leise. Er starrte einen Moment ins Feuer. Das Licht wirbelte in seinen Augen. »Wie lautet unser Plan für die Zukunft? Wir werden irgendwann in die Welt zurückkehren müssen.«
Lucie dachte darüber nach. »Wenn Malcolm uns rauswirft, können wir als Wegelagerer auf der Straße leben. Wir berauben natürlich nur die Grausamen und Ungerechten.«
Jesse lächelte zögerlich. »Leider habe ich gehört, dass die Möglichkeiten der Wegelagerer, ihrem Gewerbe nachzugehen, durch die zunehmende Beliebtheit des Automobils drastisch eingeschränkt wurden.«
»Dann schließen wir uns eben einem Zirkus an«, schlug Lucie vor.
»Bedauerlicherweise habe ich Angst vor Clowns und breiten Streifen.«
»Dann gehen wir an Bord eines Dampfers nach Europa«, sagte Lucie, plötzlich ganz begeistert von ihrer Idee, »und ziehen dort als Musiker umher.«
»Ich kann keine Töne halten«, wandte Jesse ein. »Lucie …«
»Was sollten wir denn deiner Meinung nach tun?«
Er holte tief Luft. »Ich denke, du solltest ohne mich nach London zurückkehren.«
Lucie wich einen Schritt zurück. »Nein. Das werde ich nicht tun. Ich …«
»Du hast eine Familie, Lucie. Eine Familie, die dich liebt. Sie werden mich niemals akzeptieren – es wäre Wahnsinn, sich das zu erhoffen. Und selbst wenn …« Frustriert schüttelte er den Kopf. »Selbst wenn sie mich akzeptierten, wie würden sie der Brigade meine Anwesenheit erklären, ohne sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen? Ich will nicht, dass du von ihnen getrennt wirst. Du musst zu ihnen zurückkehren. Erzähl ihnen, was immer du willst, erfinde irgendeine Geschichte. Ich werde mich von dir fernhalten, damit man dir keine Schuld für das geben kann, was du getan hast.«
»Was ich getan habe?«, fragte sie fast flüsternd. Natürlich hatte sie immer wieder an das Entsetzen gedacht, das ihre Freunde und ihre Familie empfinden würden, wenn sie vom Ausmaß ihrer Kräfte erfuhren. Wenn sie wüssten, dass sie nicht nur Geister sehen, sondern sie auch beherrschen konnte. Dass sie Jesse befohlen hatte, aus den Schatten des Zwischenreichs zurückzukehren, in dem Tatiana ihn gefangen gehalten hatte. Dass sie ihn über die Schwelle zwischen Leben und Tod geschleppt hatte, zurück in die strahlende Welt der Lebenden. Weil sie es so gewollt hatte.
Sie hatte sich davor gefürchtet, was ihre Familie und Freunde denken würden, aber sie hätte nicht gedacht, dass Jesse sich auch davor fürchten würde.
»Ich habe dich zurückgeholt«, erklärte sie entschlossen. »Ich habe dir gegenüber eine Verantwortung. Du kannst nicht einfach hierbleiben und … und Grace nie wiedersehen! Ich bin nicht die Einzige, die eine Familie hat.«
»Darüber habe ich nachgedacht, und natürlich werde ich Grace wiedersehen. Ich werde ihr sofort schreiben, sobald es sicher ist. Ich habe mit Malcolm gesprochen. Seiner Meinung nach wäre es das Beste, wenn ich mich zu einem weit entfernten Institut teleportiere und als Schattenjäger vorstelle, dort, wo niemand mein Gesicht oder meine Familie kennt.«
Lucie hielt inne. Ihr war nicht klar gewesen, dass Malcolm und Jesse während ihrer Bewusstlosigkeit über Pläne geredet hatten und über sie. Die Vorstellung gefiel ihr nicht sonderlich. »Jesse, das ist lächerlich. Ich will nicht, dass du ein Leben … im Exil führst.«
»Aber immerhin ist es ein Leben«, sagte er. »Dank dir.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe dich nicht von den Toten zurückgeholt, damit …« Damit du fortgehen kannst , fort von mir , hätte sie fast gesagt, doch sie verstummte abrupt. Sie hatte ein Geräusch gehört – jemand war an der Haustür. Jesse und sie tauschten einen bestürzten Blick. »Wer kann das sein?«, flüsterte sie.
»Wahrscheinlich nur ein Dorfbewohner, der zu Malcolm will. Ich werde nachsehen.«
Aber er griff nach dem Schürhaken, bevor er zur Haustür ging. Lucie eilte ihm nach und fragte sich, warum die Blackthorns so gern Kaminbesteck als Waffe benutzten.
Bevor er die Tür erreichte, schob sie sich vor ihn, folgte ihrem Instinkt, Jesse stets zu beschützen, auch wenn er gar keinen Schutz brauchte. Sie drückte ihn zur Seite und riss die Haustür auf. Mit einer Mischung aus Schrecken und Erleichterung starrte sie die drei Gestalten an, die draußen standen, in Wintermäntel gehüllt und mit geröteten Wangen von der Kälte und dem langen Marsch den Hügel hinauf.
Ihr Bruder. Ihr Vater. Und Magnus Bane.
Cordelia träumte, dass sie auf einem großen Schachbrett stand, welches sich unendlich weit unter einem ebenso unendlichen Nachthimmel ausdehnte. Sterne funkelten in der Dunkelheit wie verstreute Diamanten. Sie sah, wie ihr Vater mit blutbeflecktem, zerrissenem Mantel auf das Brett taumelte. Als er auf die Knie sank, lief sie zu ihm. Aber so schnell sie auch rannte, sie schien nicht vom Fleck zu kommen. Noch immer dehnte sich das Schachbrett zwischen ihnen aus, selbst als ihr Vater zusammenbrach und sich um ihn herum auf den schwarzen und weißen Feldern eine Blutlache ausbreitete.
»Baba! Baba! «, schrie sie. »Daddy, bitte !«
Aber das Brett wirbelte vor ihr davon. Plötzlich stand sie im Wohnzimmer ihres Hauses in der Curzon Street; vom Kamin fiel Licht auf das Schachbrett, an dem James und sie so oft gespielt hatten. James stand am Kamin, die Hand auf dem Sims. Er drehte sich zu ihr um und musterte sie aus Augen von der Farbe geschmolzenen Goldes. Im Schein des Feuers wirkte er quälend schön.
Aber in seinem Blick deutete nichts darauf hin, dass er sie erkannte. »Wer bist du?«, fragte er. »Wo ist Grace?«
Cordelia wachte keuchend auf; die Laken hatten sich fest um sie geschlungen. Sie kämpfte sich frei und hätte sich fast übergeben, während sie die Finger in ihr Kopfkissen krallte. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter, nach Alastair. Nach Lucie. Am ganzen Leib zitternd, vergrub sie das Gesicht in einer Armbeuge.
Plötzlich flog die Tür ihres Zimmers auf, und helles Licht ergoss sich in den Raum. Von Lichtstrahlen umrahmt, ragte Matthew im Türrahmen auf, in einem Morgenmantel, das Haar völlig zerzaust. »Ich habe Schreie gehört«, sagte er besorgt. »Was ist passiert?«
Cordelia atmete tief durch und entspannte ihre Hände. »Nichts«, sagte sie. »Nur ein Albtraum. Ich habe geträumt, dass … dass mein Vater mich gerufen hat. Er bat mich, ihn zu retten.«
Matthew setzte sich neben sie auf die Bettkante, und die Matratze sank unter seinem Gewicht ein. Er roch beruhigend nach Seife und Eau de Cologne, nahm ihre Hand und hielt sie, während ihr Puls sich langsam beruhigte. »Du und ich, wir sind gleich«, sagte er. »Unsere Seelen leiden unter alten Wunden. Ich weiß, dass du dir die Schuld gibst – wegen Lilith, wegen James. Aber das darfst du nicht, Daisy. Wir werden uns zusammen von unserer Seelenkrankheit erholen. Hier in Paris werden wir den Schmerz besiegen.«
Er hielt ihre Hand, bis sie eingeschlafen war.
James wusste zwar nicht, welche Reaktion er von Lucie bei ihrer Ankunft erwartet hatte, aber die Angst, die in ihrem Gesicht aufblitzte, überraschte ihn.
Sie wich einen Schritt zurück und hätte dabei den Jungen fast umgestoßen, der neben ihr stand. Jesse Blackthorn, es war Jesse Blackthorn. Bestürzt riss sie die Hände hoch, als wollte sie sie abwehren. Als wollte sie James und ihren Vater zurückweisen.
»Ach herrje«, murmelte Magnus.
Diese Bemerkung erschien James wie die Untertreibung des Jahrhunderts. Ein von Albträumen geplagter Schlaf, unterbrochen von unbequemen Kutschfahrten, das Geständnis gegenüber Magnus und seinem Vater sowie der lange, nasse Fußmarsch den rutschigen Pfad hinauf zu Malcolm Fades Haus hatten ihm alles abverlangt, und er war erschöpft. Doch als er die Sorge und Angst in Lucies Gesicht sah, schoss sofort ein Beschützerinstinkt heiß durch seine Adern.
»Luce«, setzte er an und trat näher. »Es ist alles in Ordnung …«
Lucie warf ihm einen dankbaren Blick zu, zuckte dann aber zusammen, als Will einen Dolch aus seinem Waffengürtel zog, ins Haus marschierte und Jesse Blackthorn am Hemdkragen packte. Den Dolch in der Hand, mit Wut in den blauen Augen, stieß er Jesse brutal gegen die Wand.
»Böser Geist«, knurrte er. »Was hast du mit meiner Tochter gemacht? Wie konntest du sie dazu zwingen, dich hierherzubringen? Wo ist Malcolm Fade?«
»Papa … nein, nicht …« Lucie stürmte auf Will zu, doch James packte sie am Arm. Er hatte seinen Vater nur selten wütend erlebt, aber Will hatte ein aufbrausendes Temperament, wenn er gereizt wurde. Und Drohungen gegen seine Familie brachten ihn schneller in Rage als alles andere.
»Tad«, sagte James mahnend; er benutzte das walisische Wort für Vater nur, wenn er Wills Aufmerksamkeit erregen wollte. »Warte.«
»Ja, bitte warte«, flehte Lucie. »Es tut mir leid, dass ich einfach so verschwunden bin, aber du weißt nicht …«
»Ich weiß, dass er ein von Belial besessener Leichnam war«, unterbrach Will sie und hielt den Dolch an Jesses Kehle. Jesse rührte sich nicht. Er hatte sich weder bewegt noch irgendetwas gesagt, seit Will ihn gepackt hatte. Allerdings war er sehr blass – was nur natürlich war, dachte James –, und seine grünen Augen glühten. Seine Hände hingen betont locker an den Seiten, als wollte er sagen: Seht her, ich stelle keine Gefahr dar . »Ich weiß, dass meine Tochter ein weiches Herz hat und glaubt, sie könne jeden gefallenen Spatz retten. Ich weiß, dass die Toten nicht wieder lebendig werden können … nicht, ohne einen schrecklichen Preis von den Lebenden zu fordern.«
Im nächsten Moment begannen James, Lucie und Magnus gleichzeitig zu reden, während Will etwas knurrte, das James nicht ganz verstand. Entnervt schnippte Magnus mit den Fingern. Blaue Funken sprühten, und die Welt wurde vollkommen still. Selbst das Heulen des Windes war verschwunden, geschluckt von Magnus’ Zauber.
»Schluss damit«, sagte der Hexenmeister. Er lehnte im Türrahmen, den Hut in die Stirn gezogen, seine Haltung ein Muster an Ruhe. »Wenn wir über Nekromantie sprechen, oder über mögliche Nekromantie, dann ist das mein Fachgebiet und nicht deines.« Er musterte Jesse mit seinen goldgrünen Augen. »Kann er reden?«
Jesse zog die Augenbrauen hoch.
»Ach ja, richtig«, seufzte Magnus und schnippte erneut mit den Fingern. »Der Schweigezauber ist aufgehoben. Bitte.«
»Ich rede, wenn ich etwas zu sagen habe«, erwiderte Jesse.
»Interessant«, murmelte Magnus. »Blutet er?«
»Oh, nein«, protestierte Lucie. »Ermutige meinen Vater bloß nicht. Papa, wag es ja nicht …«
»Lucie«, unterbrach Jesse sie. »Schon gut.« Er hob die Hand mit der gestohlenen Voyance -Rune und drückte seine Handfläche gegen die Spitze von Wills Dolch.
Blut quoll hervor, floss leuchtend rot über seine Hand und verfärbte den Aufschlag seines weißen Hemdes.
Magnus kniff die Augen zusammen. »Noch interessanter. Also gut, ich will nicht länger in diesem Eingang frieren. Malcolm muss doch irgendeine Art von Wohnzimmer haben. Er schätzt Komfort. Lucie, zeig uns den Weg.«
Als sie sich im Salon versammelt hatten – uriger und gemütlicher, als James gedacht hätte –, sanken Will und James auf ein langes Sofa. Lucie blieb stehen und sah zu, wie Magnus Jesse ans lodernde Feuer führte und ihn irgendeiner magischen Analyse unterzog.
»Wonach suchen Sie?«, fragte Jesse. James fand, er klang nervös.
Magnus warf ihm einen kurzen Blick zu. An seinen Fingern tanzten blaue Funken, von denen sich einige in Jesses Haaren verfangen hatten, leuchtend wie Skarabäen.
»Nach Anzeichen für den Tod«, erklärte er.
Jesse zog eine grimmige und stoische Miene. James vermutete, dass er gelernt haben musste, unangenehme Dinge zu ertragen – bei dem Leben, das er geführt hatte. Oder war das gar kein Leben? Einst hatte er gelebt, aber wie nannte man das, was er seitdem durchgemacht hatte? Eine Art Albtraum-Leben-im-Tod, wie das Ungeheuer aus dem Coleridge-Gedicht.
»Er ist nicht tot «, sagte Lucie. »Das war er nie. Lasst es mich erklären.« Sie klang erschöpft, genau wie James sich gefühlt hatte, als er im Gasthof seine eigenen Geheimnisse preisgegeben hatte. Wie viel Ärger hätte vermieden werden können, wenn sie einander von Anfang an vertraut hätten, dachte er.
»Luce«, sagte James sanft. Sie sah so müde aus, gleichzeitig jünger und älter, als er sie in Erinnerung hatte. »Erzähl es uns.«
Große Teile von Lucies Geschichte hätte James sich denken können, zumindest in groben Zügen, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Zuerst erzählte sie Jesses Geschichte – das, was Belial und seine eigene Mutter ihm angetan hatten. James wusste bereits, dass Belial den korrupten Hexenmeister Emmanuel Gast dazu benutzt hatte, etwas von Belials eigener dämonischer Essenz in Jesse einzupflanzen, als der noch ein Baby gewesen war. Genau diese Essenz hatte Jesse getötet, als er seine ersten Runenmale bekommen sollte. Lucie berichtete, wie Tatiana ihren sterbenden Sohn in eine Art lebendiges Gespenst verwandelt hatte: ein Geist in der Nacht und ein Leichnam am Tag. Wie sie seinen letzten Atemzug in dem goldenen Medaillon konserviert hatte, das Lucie jetzt um den Hals trug in der Hoffnung, Jesse damit eines Tages wieder zum Leben erwecken zu können.
Und wie Jesse diesen letzten Atemzug geopfert hatte, um James zu retten.
»Wirklich?« Will rutschte an die Sofakante und runzelte auf seine typische Art, die eher sorgfältiges Nachdenken als Unmut anzeigte, die Stirn. »Aber wie …?«
»Ja, es stimmt«, bestätigte James. »Ich habe ihn gesehen.«
Ein Junge, der sich über ihn beugte, ein Junge mit schwarzem Haar wie sein eigenes, ein Junge mit blättergrünen Augen, ein Junge, dessen Konturen bereits zu verblassen begannen – wie Wolken, die eine bestimmte Gestalt annahmen, bis der Wind sich drehte und sie verschwinden ließ.
»Du hast gefragt: ›Wer bist du?‹«, sagte Jesse. Magnus schien mit seiner Untersuchung fertig zu sein. Jesse lehnte am Kaminsims und sah aus, als würde ihn Lucies Geschichte – die auch seine war – ebenfalls erschöpfen. »Aber … ich konnte dir nicht antworten.«
»Ich erinnere mich«, sagte James. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast. Ich hatte bisher keine Gelegenheit, dir zu danken.«
Magnus räusperte sich. »Genug der Sentimentalitäten«, forderte er, offensichtlich um Will zuvorzukommen, der den Eindruck machte, als wollte er gleich aufspringen und Jesse mit einer väterlichen Umarmung an sich ziehen. »Wir wissen sehr genau, was mit Jesse geschehen ist. Aber wir wissen nicht, wie du ihn aus dem Zustand, in dem er war, zurückgeholt hast, liebe Lucie. Und ich fürchte, wir müssen darauf bestehen, mehr zu erfahren.«
»Jetzt?«, fragte James. »Es ist schon spät, sie ist bestimmt erschöpft …«
»Schon gut, Jamie«, sagte Lucie beschwichtigend. »Ich will es ja erzählen.«
Und dann berichtete sie von ihrer Erkenntnis, dass sie Macht über die Toten besaß – dass sie die Toten nicht nur sehen konnte, wenn sie verborgen bleiben wollten, so wie James und Will es vermochten. Sie konnte ihnen Befehle erteilen, und sie mussten ihr gehorchen. James erinnerte sich daran, wie er seine eigene Macht entdeckt hatte, an das gemischte Gefühl aus Stärke und Scham, das diese Entdeckung ausgelöst hatte.
Er wollte aufstehen und zu seiner Schwester gehen. Erst recht in dem Moment, als sie berichtete, wie sie eine Armee aus Ertrunkenen und Toten aufgestellt hatte, um Cordelia aus der Themse zu retten. Er wollte ihr sagen, wie viel es ihm bedeutete, dass sie Cordelia das Leben gerettet hatte, wie entsetzlich die Vorstellung für ihn war, dass er Cordelia beinahe verloren hätte. Aber er schwieg. Lucie hatte keinen Grund zu der Annahme, er wäre nicht in Grace verliebt, und sie würde in ihm nur einen schrecklichen Heuchler sehen.
»Ich bin ein wenig gekränkt, dass du dich an Malcolm Fade gewandt und ihn wegen Jesse um Rat gefragt hast, anstatt zu mir zu kommen«, sagte Magnus. »Sonst bin ich der Hexenmeister, dem du zuerst auf die Nerven gehst, und ich betrachte das als eine stolze Tradition.«
»Du warst im Spirallabyrinth«, erinnerte Lucie ihn. »Und … na ja, es gab andere Gründe, Malcolm zu fragen, aber die sind jetzt nicht wichtig.« (James, der das Gefühl hatte, unfreiwillig zu einem Meister in der Kunst der Auslassung geworden zu sein, hielt diese Gründe durchaus für wichtig, doch er schwieg.) »Malcolm sagte uns … sagte mir , das Ganze wäre so, als ob Jesse auf der Schwelle zwischen Tod und Leben feststecken würde.« Sie schaute zu Will. »Genau aus diesem Grund hast du ihn nicht sehen können, so wie du normale Geister sehen kannst. Weil er nicht wirklich tot war. Ich habe ihn nicht mithilfe von Nekromantie zurückgeholt. Ich habe nur …« Sie verschränkte die Finger. »Ich habe ihm befohlen zu leben. Es hätte nicht funktioniert, wenn er wirklich tot gewesen wäre. Aber da ich nur eine lebendige Seele mit einem lebendigen Körper wiedervereint habe, von dem sie nicht vorschriftsmäßig getrennt worden war, hat es geklappt.«
Will schob sich eine schwarze, mit grauen Strähnen durchzogene Locke aus der Stirn. »Was denkst du, Magnus?«
Magnus betrachtete Jesse, der noch immer angespannt am Kaminsims lehnte, und seufzte. »Es gibt tatsächlich ein paar Anzeichen von Todesenergie an Jesse.« Rasch hob er einen Finger, bevor irgendjemand etwas sagen konnte. »Aber nur an den Stellen, wo Belial die Runenmale bei ihm platziert hat.«
Jesse sah aus, als müsste er sich gleich übergeben.
»Ansonsten«, fuhr Magnus fort, »ist er, soweit ich das beurteilen kann, ein gesunder und lebendiger Mensch. Ich habe gesehen, was passiert, wenn jemand die Toten auferweckt. Das ist hier … nicht der Fall.«
»Ich war dabei, als Lucie Jesse befahl, Belial zu vertreiben«, sagte James. »Und er hat ihren Befehl umgesetzt. Es ist nicht leicht, mit einem Höllenfürsten um die eigene Seele zu kämpfen. Den Kampf zu gewinnen …« James schaute Jesse direkt in die Augen. »Es braucht Mut … mehr als das. Es braucht Güte. Lucie vertraut ihm, und ich glaube, das sollten wir auch.«
Die Anspannung, die Jesse wie mit unsichtbaren Ketten fesselte, schien etwas von ihm abzufallen. Er schaute zu Will – sie alle schauten zu Will, Lucie mit verzweifelter Hoffnung in den Augen.
Will stand auf und ging zum Kamin. Jesse wich nicht zurück, wirkte aber sichtlich nervös. Er stand reglos und wachsam da, ohne den Blick abzuwenden, und wartete darauf, dass Will den ersten Schritt machte.
»Du hast meinem Sohn das Leben gerettet«, sagte Will. »Und meine Tochter vertraut dir. Das genügt mir.« Er streckte Jesse die Hand entgegen. »Ich entschuldige mich dafür, dass ich an dir gezweifelt habe, Sohn.«
Bei diesem letzten Wort leuchtete Jesse auf wie die Sonne, die hinter einer Wolke hervorkam. Natürlich, dachte James: Jesse hatte nie einen Vater gehabt. Nur seine Mutter, Tatiana. Der einzige andere Erwachsene in seinem Leben war Belial gewesen.
Und Will schien das Gleiche zu denken. »Du bist deinem Vater wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten«, teilte er Jesse mit. »Rupert. Wie schade, dass du ihn nie kennengelernt hast. Ich bin mir sicher, er wäre stolz auf dich gewesen.«
Jesse machte den Eindruck, als wäre er größer geworden. Lucie strahlte ihn an. Ah, dachte James. Das ist nicht nur irgendeine Schwärmerei. Sie ist wirklich in Jesse Blackthorn verliebt. Wieso habe ich nie geahnt, dass so etwas passieren würde?
Aber er hatte seine eigenen Geheimnisse in Sachen Liebe nur zu gut gehütet. Er dachte an Matthew, der jetzt mit Cordelia in Paris sein musste, und versuchte, diesen schmerzhaften Gedanken zu verdrängen und tief durchzuatmen.
»Also«, setzte Will an und schlug Jesse energisch auf die Schulter. »Wir können hier herumstehen und Tatiana die Schuld geben. Und glaubt mir, das tue ich durchaus. Aber es würde uns in der jetzigen Situation nichts nützen. Allem Anschein nach müssen wir uns jetzt um dich kümmern, mein Junge. Was sollen wir mit dir machen?«
Lucie runzelte die Stirn. »Warum gehen wir nicht einfach zum Rat? Und erklären, was passiert ist? Die Ratsmitglieder wissen bereits, dass Tatiana in dunkle Machenschaften verstrickt war. Sie werden Jesse nicht die Schuld für das geben, was ihm angetan wurde.«
Magnus verdrehte die Augen und schaute zur Decke. »Nein. Schreckliche Vorstellung. Ganz bestimmt nicht.«
Lucie funkelte ihn an.
Magnus zuckte die Schultern. »Lucie, du hast das Herz am rechten Fleck.« Lucie streckte ihm die Zunge heraus, und er lächelte. »Aber es wäre ziemlich gefährlich, den Rat in größerem Umfang einzubeziehen. Es gibt einige Mitglieder, die allen Grund haben, seine Geschichte zu glauben, aber genauso viele, wenn nicht sogar mehr, die ganz entschieden anderer Meinung sein werden.«
»Magnus hat recht«, meinte Will. »Leider. Hier geht es um Nuancen. Jesse wurde nicht von den Toten auferweckt, er war nie wirklich tot. Dennoch war er von Belial besessen. Und als er von ihm besessen war, hat er …«
Das Leuchten war aus Jesses Gesicht verschwunden. »Ich habe schreckliche Dinge getan«, erklärte er. »Die Ratsmitglieder werden sagen: ›Wenn er lebendig war, dann ist er für seine Taten verantwortlich; wenn er tot war, dann ist es Nekromantie.‹« Sein Blick wanderte zu Lucie. »Ich habe dir ja gesagt, dass ich nicht nach London zurückkann. Meine Geschichte ist kompliziert, und die Leute wollen keine komplizierten Geschichten hören. Sie wollen einfache Geschichten, in denen die Menschen entweder gut oder böse sind. Niemand, der gut ist, macht je einen Fehler, und niemand, der böse ist, bereut jemals.«
»Du hast nichts zu bereuen«, wandte James ein. »Wenn jemand weiß, wie es ist, wenn dir Belial etwas ins Ohr flüstert, dann ich.«
»Ja, aber du hast nie das getan, was er verlangt, oder?«, erwiderte Jesse mit einem bitteren Lächeln. »Ich denke, da kann man nichts machen. Ich kann nur fortgehen, eine neue Identität …«
»Jesse, nein .« Lucie ging auf ihn zu, hielt dann aber inne. »Du verdienst es, dein eigenes Leben zu haben … das Leben, das Tatiana dir stehlen wollte.«
Jesse schwieg. James, der sich an die Mahnung seiner Schwester erinnerte, ihn wie einen Menschen zu behandeln, fragte: »Jesse. Was willst du selbst denn?«
»Was ich will?«, wiederholte Jesse mit einem traurigen Lächeln. »Ich will vier unmögliche Dinge: Ich will der Brigade in London beitreten. Ich will ein Schattenjäger sein, wie es mir von Geburt an bestimmt war. Ich will als ein normales, lebendiges Wesen akzeptiert werden. Ich wünsche mir, wieder mit meiner Schwester vereint zu sein, der einzigen wirklichen Familie, die ich je hatte. Aber ich wüsste nicht, wie all das möglich sein soll.«
Stille senkte sich über den Raum, während sie darüber nachdachten. Eine Stille, die jedoch von einem plötzlichen lauten Knarren durchbrochen wurde, das alle zusammenfahren ließ. Das Geräusch kam von der Haustür. Im nächsten Moment spazierte Malcolm Fade herein und stampfte mit den Füßen auf den Steinboden, um den Schnee von seinen Stiefeln zu entfernen. Er trug keinen Hut, und weiße Schneeflocken schmolzen in seinem bereits weißen Haar. Malcolm wirkte dünner als bei ihrer letzten Begegnung, dachte James; sein Blick war intensiv und seltsam entrückt. Der Hexenmeister brauchte eine Sekunde, bis er die Besucher in seinem Wohnzimmer bemerkte. Als er sie entdeckte, blieb er wie angewurzelt stehen.
»Wir dachten, wir schauen mal vorbei, Malcolm«, sagte Magnus beiläufig.
Malcolm erweckte den Eindruck, als wünschte er sich nichts sehnlicher, als durch die Nacht zu fliehen und am Morgen vielleicht in Rio de Janeiro oder irgendeinem anderen entlegenen Ort einzutreffen. Stattdessen seufzte er und machte vom letzten Rückzugsort eines Engländers unter Stress Gebrauch.
»Tee?«, schlug er vor.
Es war spät, und Anna Lightwood wurde allmählich müde. Leider deutete nichts darauf hin, dass die Party in ihrer Wohnung bald enden würde. Fast all ihre Schattenjägerfreunde waren aus diversen albernen Gründen nicht in der Stadt, und sie hatte die Gelegenheit genutzt, ein paar Schattenweltler einzuladen, die sie besser kennenlernen wollte. Claude Kellington, der Zeremonienmeister im Hell Ruelle, wollte seine neue Komposition vor einem intimen Publikum uraufführen und war der Ansicht, Annas Wohnung wäre dafür der perfekte Ort.
Kellingtons neue Komposition beinhaltete eine Menge Gesang – nicht gerade eine seiner Stärken. Außerdem hatte Anna übersehen, dass es sich um einen Liederzyklus handelte, der auf einem ebenfalls von ihm verfassten epischen Gedicht basierte. Die Aufführung ging inzwischen in die vierte Stunde, und Annas Gäste, sosehr sie dem Künstler auch zugetan waren, langweilten sich mittlerweile zu Tode und waren betrunken. Kellington, dessen übliches Publikum aus den gelangweilten und betrunkenen Stammgästen des Hell Ruelle bestand, hatte bisher nichts davon bemerkt. Offenbar hatte er auch noch nie das Wort »Pause« gehört, dachte Anna.
Ein Vampir und ein Werwolf, an deren Namen Anna sich nicht erinnerte, umschlangen einander leidenschaftlich auf ihrem Sofa – ein positiver Schritt, zumindest für die Beziehungen von Schattenweltlern. Jemand in der Ecke neben der Geschirrvitrine hatte sich über den Schnupftabak hergemacht. Selbst Percy, die ausgestopfte Schlange, wirkte erschöpft. Gelegentlich warf Anna einen diskreten Blick auf ihre Uhr und sah, wie die Stunden vergingen, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie Kellington höflich dazu bringen konnte aufzuhören. Jedes Mal, wenn er für einen Moment innehielt, stand sie auf, um die Aufführung zu unterbrechen, aber er stürzte sich sofort in den nächsten Satz.
Hyacinth, eine hellblaue Elfe in Diensten von Hypatia Vex, war da und hatte Anna den ganzen Abend anzügliche Blicke zugeworfen. Sie und Anna hatten früher mal etwas miteinander gehabt, doch Anna wollte eine leichtsinnige Ausschweifung aus der Vergangenheit nicht wiederholen. Trotzdem hätte Kellingtons Darbietung sie normalerweise noch vor Ablauf der ersten Stunde in Hyacinths Arme getrieben. Aber sie war den Blicken der jungen Elfe bewusst ausgewichen. Hyacinths Anblick erinnerte Anna nur an die letzten Worte, die Ariadne an sie gerichtet hatte: Ich fürchte, dass du meinetwegen so geworden bist, wie du bist. Hart und strahlend wie ein Diamant. Unnahbar .
Diese Worte gingen ihr in letzter Zeit immer wieder durch den Kopf, sobald sie an romantische Gefühle dachte. Das, was sie einst interessiert hatte – das Rascheln von Unterröcken, die zu Boden fielen, das Flüstern von Haaren, die gelöst wurden –, war ihr jetzt gleichgültig, wenn es sich nicht um Ariadnes Haare handelte. Ariadnes Unterröcke.
Sie würde das alles vergessen, ermahnte sie sich, würde sich zwingen zu vergessen. Deshalb hatte sie sich mit allen möglichen Dingen abzulenken versucht. Beispielsweise mit dieser Darbietung von Kellington. Außerdem hatte sie einen Kurs in Aktzeichnen gegeben, mit Percy als Modell, an einer Reihe überraschend langweiliger Vampirtänze teilgenommen und bis in die frühen Morgenstunden mit Hypatia Cribbage gespielt. Matthew fehlte ihr mehr, als sie für möglich gehalten hätte. Er hätte sie ganz bestimmt ablenken können.
Ein plötzliches Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Verwundert stand Anna auf. Es war schon ziemlich spät für einen unerwarteten Besucher. Vielleicht – hoffentlich – ein Nachbar, der sich über den Lärm beschwerte?
Sie schlängelte sich durch den Raum und riss die Tür auf. Auf der Schwelle stand Ariadne Bridgestock, zitternd vor Kälte.
Ihre Augen waren gerötet, ihre Wangen fleckig. Sie hatte geweint. Anna fühlte, wie ihr Magen einen Satz machte. Welche Worte sie sich auch immer für ihre nächste Begegnung mit Ariadne zurechtgelegt hatte, sie verschwanden augenblicklich aus ihrem Gedächtnis. Stattdessen spürte sie, wie sie von Angst erfasst wurde. Was war passiert? Was war los?
»Es tut mir leid«, sagte Ariadne, »dass ich dich störe.« Ihr Kinn war hoch erhoben und ihre Augen funkelten trotzig. »Ich weiß, ich hätte nicht herkommen sollen. Aber ich kann nirgendwo anders hin.«
Wortlos trat Anna zur Seite und ließ sie in die Wohnung. Ariadne hatte eine kleine Reisetasche dabei, und ihr Mantel war viel zu dünn für das Wetter. Außerdem trug sie keine Handschuhe. Sofort schrillten Annas Alarmglocken lauter. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.
In diesem Moment traf Anna eine Entscheidung, obwohl Ariadne nichts gesagt hatte.
Sie ging zum Klavier, auf dem Kellington fortissimo spielte und dazu etwas von einem einsamen Wolf im Mondlicht sang, und klappte den Klaviaturdeckel über seinen Händen zu. Die Musik endete abrupt, und Kellington musterte sie mit gekränkter Miene. Doch Anna ignorierte ihn. »Vielen Dank, dass ihr alle heute Abend gekommen seid«, sagte sie laut, »aber leider haben sich dringende Nephilimangelegenheiten ergeben. Ich fürchte, ich muss euch alle bitten, jetzt zu gehen.«
»Ich bin erst zur Hälfte fertig«, protestierte Kellington.
»Dann werden wir ein anderes Mal zusammenkommen, um die zweite Hälfte zu hören«, log Anna, und innerhalb weniger Minuten gelang es ihr, das knappe Dutzend Gäste aus der Wohnung zu bugsieren. Ein paar murrten, aber die meisten wirkten nur verwirrt. Als sich die Tür hinter dem letzten Gast geschlossen hatte, senkte sich jene unheimliche Stille über den Raum, die immer auf das Ende einer Party folgte. Nur Ariadne war noch da.
Ein paar Minuten später saß Ariadne nervös auf Annas Sofa, die Beine unter ihrem Po, während ihr Mantel am Feuer trocknete. Sie zitterte nicht länger, da Anna ihr etwas Tee eingeflößt hatte, aber der Ausdruck in ihren Augen war düster und abwesend. Anna wartete und lehnte sich mit gespielter Lässigkeit auf dem Sofa zurück.
Während Ariadne an ihrem Tee nippte, schaute sie sich langsam im Wohnzimmer um und nahm alles in sich auf – was Anna verwunderte. Bis ihr klar wurde, dass Ariadne tatsächlich noch nie hier gewesen war; sie hatte es immer so arrangiert, dass sie sich mit Ariadne woanders traf.
»Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich hier bin«, sagte Ariadne.
Dem Erzengel sei Dank, sie spricht es von sich aus an, dachte Anna. Ihre Wohnung hatte immer denen offen gestanden, die in Not waren – Eugenia, die Augustus Pounceby beweinte; Matthew, voller Kummer, den er nicht benennen konnte; Christopher, der befürchtete, dass seine Wissenschaft am Ende zu nichts führte; Cordelia, die rettungslos in James verliebt, aber zu stolz war, es einzugestehen. Anna wusste, wie sie mit denen sprechen musste, die an gebrochenem Herzen litten: Es war immer besser, nicht auf Informationen zu drängen, sondern zu warten, bis sie von sich aus redeten.
Aber bei Ariadne lag der Fall anders. Anna wusste, dass sie sich nicht einen Moment länger hätte zurückhalten können und sie in der nächsten Sekunde gefragt hätte, was passiert war. Es war zu wichtig. Genau das war das Problem. Wenn es um Ariadne ging, war alles immer viel zu wichtig gewesen.
Ariadne begann zu erzählen – zuerst stockend, dann immer schneller. Sie berichtete, dass die Konsulin am Morgen bei ihnen zu Hause vorbeigekommen war, um sich nach ihrem Vater zu erkundigen, und dass sie danach in sein Arbeitszimmer gegangen war, wo sie eine Liste mit Informationen über die Herondales und die Lightwoods gefunden hatte. Darin waren alle Fälle verzeichnet, bei denen einer von ihnen vielleicht gegen ein unbedeutendes Gesetz verstoßen oder durch einen Fehler ein Problem im Rat verursacht hatte. Nichts davon, sagte sie, sei wichtig genug, als dass es den Inquisitor interessieren sollte.
Anna beherrschte sich und hakte nicht sofort nach, ob Ariadne irgendwelche Einträge gesehen hatte, bei denen es speziell um sie ging. Stattdessen runzelte sie die Stirn und erwiderte: »Tja, das hört sich nicht gut an. Was hofft er, mit einem solchen Bericht zu erreichen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Ariadne. »Aber das war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass ich dieses teilweise verbrannte Papier im Kamin gefunden habe.«
Sie zog ein verknittertes und an den Rändern schwarzes Blatt Papier aus der Manteltasche und reichte es Anna. Offensichtlich handelte es sich um einen Brief, mit dem Briefschluss und der krakeligen Unterschrift des Inquisitors weiter unten auf der Seite. Aber das Schreiben war mit kleinen Brandflecken übersät, und die erste Seite fehlte.
… und ich habe dich immer für einen der hellsten [Brandfleck] am Schattenjägerfirmament gehalten. Ich habe festgestellt, dass wir der gleichen Ansicht sind bezüglich des korrekten Verhaltens eines Schattenjägers, der Bedeutung des Gesetzes und dessen strikter Einhaltung. Daher habe ich mit wachsender Besorgnis verfolgt, wie deine Sympathie und sogar deine Vorliebe für die Herondales und einige der skandalöseren Lightwoods, mit denen sie verkehren, zugenommen hat. Ich habe vernünftig mit dir geredet und mit dir gestritten, aber es hat anscheinend alles nichts genutzt. Deshalb habe ich mich entschlossen, dich wissen zu lassen, dass mir die Geheimnisse, die du für gut verborgen hältst, bekannt sind. Es gibt Vorkommnisse in deiner Vergangenheit, die ich bereit wäre zu übersehen. Aber ich versichere dir, dass der Rest des Rats dies nicht tun wird. Du solltest dir darüber im Klaren sein, dass ich beabsichtige, die Herondales zu [Brandfleck] und sie aus [Brandfleck] entfernen zu lassen. Ich glaube, dass ich mit deiner Hilfe auch erfolgreich Klage gegen einige der Lightwoods erheben kann. Ich rechne mit Widerstand aus dem Rat, da einige Leute sentimental sind, und hier ist deine Hilfe von entscheidender Bedeutung. Wenn du meine Maßnahmen unterstützt, um die korrupteren Zweige des Nephilimbaums zu kappen, werde ich über deine Fehltritte hinwegsehen. Deine Familie hat von der Beute der – hier wurde der Brief wegen eines großen Tintenflecks unleserlich – profitiert, aber es könnte alles verloren gehen, wenn du dein Haus nicht in Ordnung gebracht hast.
Ich verbleibe hochachtungsvoll,
Inquisitor Maurice Bridgestock
Anna blickte Ariadne an. »Erpressung?«, fragte sie. »Der Inquisitor – dein Vater – erpresst jemanden?«
»Es sieht ganz so aus«, bestätigte Ariadne finster. »Aber es lässt sich unmöglich sagen, wen er erpresst oder warum und weswegen. Ich weiß nur, dass meine Mutter außer sich war, als sie erfuhr, was ich da gefunden hatte.«
»Vielleicht trügt der Schein«, überlegte Anna. »Zunächst einmal hat er den Brief nicht abgeschickt.«
»Nein«, sagte Ariadne langsam, »aber siehst du diesen Fleck hier? ›Deine Familie hat von der Beute der … irgendetwas profitiert.‹ Ich glaube, das muss ein erster Entwurf gewesen sein, den er dann ins Feuer geworfen hat.«
Anna runzelte die Stirn. »Ohne die erste Seite ist es schwer, auch nur Vermutungen anzustellen, wer der Adressat sein könnte. Offenbar gehört die betreffende Person weder zu den Herondales noch zu den Lightwoods – sie werden beide gesondert vom Empfänger genannt.« Sie zögerte. »Hat deine Mutter dich wirklich rausgeworfen, nur weil du diese Unterlagen gefunden hast?«
»Nein, nicht … nur«, antwortete Ariadne. »Ich war sehr verstört, als ich die Liste und den Brief fand. Meine Mutter meinte, das ginge mich nichts an. Ich hätte nur die Aufgabe, eine treue und pflichtbewusste Tochter zu sein und eine gute Ehefrau abzugeben. Und bei diesen Worten … na ja, da habe ich vermutlich … die Beherrschung verloren.«
»Ach ja?«, fragte Anna.
»Ich hab ihr gesagt, ich würde keine gute Ehefrau abgeben … Ich würde überhaupt keine Ehefrau abgeben und niemals heiraten, weil ich nicht das geringste Interesse an Männern habe.«
Plötzlich schien sämtliche Luft aus dem Raum zu weichen. »Und?«, fragte Anna leise.
»Sie war außer sich«, berichtete Ariadne. »Sie flehte mich an, ihr zu beteuern, dass das nicht der Wahrheit entspreche. Doch als ich schwieg, sagte sie, ich dürfe nicht zulassen, dass solche Impulse mein Leben ruinieren.« Ariadne wischte sich mit dem Handrücken energisch die Tränen aus dem Gesicht. »Ich konnte in ihren Augen sehen, dass sie es bereits gewusst hatte. Oder zumindest vermutet. Sie sagte mir, ich solle an meine Zukunft denken, weil ich sonst allein sein und keine Kinder haben würde.«
»Ah«, sagte Anna leise. Die Worte versetzten ihr einen Stich, denn sie wusste, wie sehr Ariadne sich immer Kinder gewünscht hatte, und dass dieser Wunsch der eigentliche Grund für ihre Trennung vor zwei Jahren gewesen war.
»Ich ging auf mein Zimmer, stopfte ein paar Sachen in die Reisetasche … und sagte ihr, ich wolle nicht unter einem Dach mit ihr und Papa leben, wenn sie mich nicht so akzeptierten, wie ich wirklich sei. Wie ich bin . Und sie erwiderte … sie erwiderte, sie würde versprechen, alles zu vergessen, was ich ihr gesagt hatte. Dass wir so tun könnten, als hätte ich nie davon geredet. Dass mich Papa auf die Straße werfen würde, wenn ich ihm das sage, was ich ihr gesagt habe.«
Anna hielt den Atem an.
»Also bin ich geflüchtet«, schloss Ariadne. »Ich habe das Haus verlassen und bin hierhergekommen. Weil du die unabhängigste Person bist, die ich kenne. Ich kann nicht wieder in dieses Haus zurückgehen. Ich werde nicht zurückkehren. Mein Stolz und mein … mein Selbstwertgefühl hängen davon ab. Ich muss lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Unabhängig zu leben, so wie du.« Ihre Miene wirkte entschlossen, aber ihre Hände zitterten. »Ich dachte … wenn du mir zeigen könntest, wie …«
Anna nahm ihr vorsichtig die klappernde Teetasse aus der Hand. »Natürlich«, versicherte sie. »Du wirst so unabhängig sein, wie du möchtest. Aber nicht heute Abend. Heute Abend hast du einen Schock erlitten, und es ist schon sehr spät. Du musst dich ausruhen. Morgen früh wirst du ein neues Leben beginnen. Und es wird wunderbar werden.«
Ein Lächeln breitete sich langsam auf Ariadnes Gesicht aus. Und für einen Moment war Anna von ihrer Schönheit überwältigt. Ihre Anmut, der Glanz ihrer schwarzen Haare, der Schwung ihres Halses und das sanfte Flattern ihrer Wimpern. Ein unwiderstehlicher Impuls überkam Anna; sie wollte Ariadne in die Arme nehmen, ihre Augenlider und ihren Mund mit Küssen bedecken. Doch sie ballte die Hände hinter ihrem Rücken zu Fäusten, wo Ariadne sie nicht sehen konnte.
»Du nimmst das Schlafzimmer«, sagte sie in gespielt gleichmütigem Ton. »Ich werde auf der Chaiselongue schlafen; sie ist recht bequem.«
»Danke.« Ariadne nahm ihre Reisetasche und stand auf. »Anna … als wir uns das letzte Mal gesehen haben, war ich wütend. Ich hätte nicht sagen sollen, dass du hart bist. Von allen, die ich kenne, hast du das größte Herz – mit Platz darin für alle Heimatlosen und Streuner. So wie mich«, fügte sie mit einem traurigen, kleinen Lächeln hinzu.
Anna seufzte innerlich. Letztendlich war Ariadne aus dem gleichen Grund wie Matthew und Eugenia zu ihr gekommen: Weil man mit ihr reden und sich auf sie verlassen konnte, wenn es um Mitgefühl, eine Tasse Tee und ein Bett zum Schlafen ging. Natürlich verübelte sie das Ariadne nicht, und sie schätzte sie deswegen nicht weniger. Aber sie hatte gehofft, Ariadne wäre vielleicht aus einem anderen Grund hergekommen.
Kurze Zeit später, nachdem Ariadne sich schlafen gelegt hatte, ging Anna zum Kamin, um das Feuer für die Nacht zu dämmen. Als sie sich wieder umdrehte, fing sie Percys missbilligenden Blick auf.
»Ich weiß«, sagte sie leise. »Es ist ein schrecklicher Fehler, sie hier übernachten zu lassen. Ich werde es bereuen, das weiß ich.«
Percy konnte ihr nur beipflichten.
Wie sich herausstellte, wollte niemand Tee.
»Malcolm Fade«, sagte Will und marschierte auf den Hexenmeister zu. Seine Wut, die während Lucies Bericht rasch verflogen war, schien zusammen mit Malcolm zurückgekehrt zu sein. James stand auf, um nötigenfalls einzugreifen; er kannte diesen Tonfall seines Vaters. »Ich sollte dich vor den Rat bringen lassen. Dich wegen Missachtung des Abkommens verklagen.«
Malcolm ging an Will vorbei und warf sich in den Sessel neben dem Kamin. »Mit welcher Begründung?«, fragte er mit müder Stimme. »Wegen Nekromantie? Ich habe keine Nekromantie ausgeführt.«
»Na ja«, sagte Magnus und verschränkte die Arme vor der Brust, »du hast die Tochter eines Schattenjägers ohne das Wissen ihrer Eltern an einen geheimen Ort gebracht. Das wird missbilligt. Ach ja, und du hast die Leiche eines Schattenjägers gestohlen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch das missbilligt wird.«
»Et tu , Magnus?«, konterte Malcolm. »Bist du nicht solidarisch mit deinen Hexenmeister-Kollegen?«
»Nicht, wenn sie Kinder entführen«, antwortete Magnus trocken.
»Malcolm«, setzte Will an, und James wusste, dass er gerade versuchte, seine Stimme nicht zu erheben. »Du bist der Oberste Hexenmeister von London. Als Lucie wegen dieser verbotenen Angelegenheit zu dir gekommen ist, hättest du Nein sagen sollen. Du hättest sofort zu mir kommen müssen.«
Malcolm seufzte, als ermüdete ihn die ganze Situation. »Vor langer Zeit verlor ich jemanden, den ich geliebt habe. Ihr Tod hätte mich fast zerstört.« Er schaute zum Fenster, auf das graue Meer jenseits der Scheibe. »Als deine Tochter zu mir kam und mich um Hilfe bat, hatte ich einfach Mitgefühl. Ich konnte sie nicht abweisen. Wenn das bedeutet, dass ich meine Position verlieren werde, dann ist das eben so.«
»Ich werde nicht zulassen, dass Malcolm meinetwegen seine Position verliert!«, rief Lucie und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe ihn aufgesucht. Ich habe um seine Hilfe gebeten . Als ich Jesse wiedererweckt habe, hat Malcolm nicht mal davon gewusst. Bei seiner Ankunft habe ich …« Sie verstummte einen Moment und fuhr dann fort: »Ich habe darauf bestanden, nach Cornwall gebracht zu werden. Denn ich hatte Angst davor, was der Rat mit Jesse machen würde. Ich habe nur versucht, ihn zu beschützen, genau wie Malcolm. Das ist alles mein Werk. Und ich trete mit Freuden vor den Rat, um das zu beschwören.«
»Lucie«, sagte James. »Das ist keine gute Idee.«
Lucie warf ihm einen Blick zu, der ihn an bestimmte Szenen aus Lucies erstem Roman erinnerte: Die heimliche Prinzessin Lucie wird vor ihrer schrecklichen Familie bewahrt . Wenn er sich nicht irrte, hatte der Bruder der Hauptfigur, der grausame Prinz James, die Angewohnheit, seiner Schwester Vampirfledermäuse in die Haare zu setzen, und starb später einen durchaus verdienten Tod, als er in ein Fass mit Sirup fiel.
»James hat recht. Der Rat ist brutal und gnadenlos«, sagte Malcolm in finsterem Ton. »Ich würde nicht wollen, dass du von ihm befragt wirst, Lucie.«
»Das Engelsschwert …«, setzte Lucie an.
»Das Engelsschwert wird dich nicht nur zwingen zuzugeben, dass du Jesse wiedererweckt hast, sondern auch, dass du wegen Belial dazu in der Lage warst«, widersprach Magnus. »Wegen der Kraft, die von ihm stammt.«
»Aber dann werden James … und Mama …«
»Genau«, sagte Will. »Deshalb ist es keine gute Idee, den Rat in irgendeiner Form einzubeziehen.«
»Und deshalb bleibe ich ein Problem«, meinte Jesse. »Was meine Rückkehr in die Welt der Schattenjäger betrifft.«
»Nein«, sagte Lucie. »Wir werden uns etwas überlegen …«
»Jesse Blackthorn kann wegen seiner Mutter, seiner Abstammung und seiner Vergangenheit nicht in die Gesellschaft der Schattenjäger zurückkehren, zumindest nicht in London«, verkündete Malcolm.
Lucie zog eine bestürzte Miene, und auf Jesses Gesicht spiegelte sich der düstere Ausdruck eines Menschen, der bereits aufgegeben hatte.
Magnus kniff die Augen leicht zusammen. »Malcolm, ich habe das Gefühl, du willst uns etwas sagen.«
»Jesse Blackthorn kann sich nicht der Londoner Brigade anschließen«, sagte Malcolm. »Aber … aufgrund meiner Vergangenheit und meiner Forschungen weiß niemand mehr über die Familie Blackthorn als ich. Wenn ich einen Weg finde, dass Jesse wieder in die Gemeinschaft der Schattenjäger aufgenommen werden kann, ohne dass jemand Verdacht schöpft … können wir die ganze Angelegenheit dann als erledigt betrachten?«
Will musterte Lucie lange und nickte schließlich. »In Ordnung.«
Erleichtert atmete Lucie auf und schloss dankbar die Augen.
Will zeigte auf Malcolm. »Du hast Zeit bis morgen.«