5

In himmlischen Sphären

Ach! Freunde war’n sie in der Jugendzeit,

Doch Missgunst trübt die Ehrlichkeit

Und Treue weilt in himmlischen Sphären.

Das Leben ist dornig, die Jugend ist flüchtig

Und dem zu zürnen, den man liebt in Ehren,

Treibt in den Wahn, macht alles unwichtig.

Samuel Taylor Coleridge, »Christabel«

James konnte nicht schlafen. Zum ersten Mal seit fünf Tagen hatte er ein Zimmer für sich allein und musste sich nicht mit dem Schnarchen seines Vaters oder dem Rauch aus Magnus’ grauenvoller Pfeife herumärgern. Außerdem war er total erschöpft. Aber trotzdem lag er wach, starrte an die rissige Gipsdecke und dachte an Cordelia.

Zuvor war es Will gelungen, die Unterhaltung auf die Frage zu lenken, wo sie drei schlafen würden. Dabei war er so geschickt vorgegangen, dass Malcolm sie letztendlich weniger als Eindringlinge und vielmehr als Gäste betrachtet hatte – für James ein weiterer Beweis dafür, warum sein Vater ein so guter Institutsleiter war.

Das kleine Haus hatte sich von innen als viel größer entpuppt, als man von außen hätte vermuten können, und mehrere einfache, saubere Zimmer lagen zu beiden Seiten des Korridors im oberen Stockwerk. Magnus hatte ihre Sachen ohne große Umstände aus der Kutsche heraufgezaubert.

Jetzt, da James allein war, kehrten seine Gedanken jedoch wieder zu Cordelia zurück. Er hatte schon zuvor geglaubt, dass er sie schmerzlich vermisste … dass er von Gefühlen der Reue gequält wurde. Doch jetzt erkannte er: Die Tatsache, dass sein Vater und Magnus immer anwesend gewesen waren und dass er eine Mission hatte, auf die er sich konzentrieren konnte, hatte seine Gefühle abgemildert. Er hatte sich das Ausmaß an Schmerz, das er empfinden konnte , nicht einmal ansatzweise vorstellen können. Und jetzt verstand er auch, warum Dichter ihre Herzen und deren Fähigkeit zu tiefer Verzweiflung und Sehnsucht verdammten. Nichts an der unechten Verliebtheit, die er für Grace empfunden hatte, war diesen Empfindungen nahegekommen. Obwohl sein Verstand ihm gesagt hatte, sein Herz wäre gebrochen, hatte er es nicht gefühlt , hatte nicht all die schartigen Reste zerstörter Hoffnung gespürt, wie Glassplitter in der Brust.

James musste an Dante denken: Wer fühlt wohl größres Leiden, als der, dem schöner Zeiten Bild erscheint im Missgeschick? Nie zuvor hatte er mit solcher Deutlichkeit gespürt, wie sehr dieser Satz der Wahrheit entsprach. Cordelia, die lachte und mit ihm tanzte. Ihr konzentrierter Blick, während sie eine Schachfigur aus Elfenbein in der Hand hielt. Wie sie am Tag ihrer Hochzeit ausgesehen hatte, ganz in Gold gehüllt. All diese Erinnerungen quälten ihn jetzt. Er fürchtete, Cordelia zu verletzen, wenn er sie anflehte zu verstehen, was wirklich passiert war … dass er Grace nie geliebt hatte. Doch noch mehr fürchtete er, sich zu einem Leben ohne sie zu verurteilen, weil er es nicht einmal versuchte.

Ruhig durchatmen, befahl er sich. Er war Jem dankbar für das jahrelange Training, bei dem er gelernt hatte, sich zu beherrschen und seine Emotionen und Ängste unter Kontrolle zu bringen. Das schien das Einzige zu sein, was ihn jetzt davon abhielt, in tausend Stücke zu zerbrechen.

Wie hatte er das alles übersehen können? Matthews Brief – mehrfach gefaltet, mehrfach gelesen, in der Tasche von James’ Mantel – hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Er hatte keine Ahnung von Matthews Gefühlen gehabt, und über Cordelias wusste er noch immer nichts. Wie hatte er so blind sein können? Er wusste, dass diese Unkenntnis teilweise auf den Zauber des Armbands zurückzuführen war. Aber im Wohnzimmer hatte er beobachtet, wie Lucie Jesse ansah, und begriffen, dass sie ihn schon seit Langem liebte. Trotzdem hatte er nicht die leiseste Ahnung gehabt, was mit seiner Schwester los war. Und wie sich herausstellte, galt das Gleiche für seinen Parabatai und auch für seine Ehefrau. Wie kam es, dass er die Menschen, die er auf der Welt am meisten liebte, am wenigsten zu kennen schien?

Nachdem James sich so lange im Bett hin und her geworfen hatte, dass sich das Laken in einen unentwirrbaren Knoten verwandelt hatte, schleuderte er die Wolldecke von sich und stand auf. Helles Mondlicht fiel durch das Fenster. In seinem fahlen Schein ging er ans andere Ende des Zimmers, wo sein Mantel an einem Haken hing. In der Tasche befanden sich noch immer Cordelias Handschuhe. James zog einen davon heraus und strich mit den Fingern über das weiche graue Ziegenleder und das filigrane Blattmuster. Vor seinem inneren Auge sah er, wie Cordelia das Kinn in die behandschuhte Hand stützte, sah ihr Gesicht und ihre Augen, glänzend, dunkel und unergründlich. Dann sah er, wie sie diesen Blick Matthew zuwandte, mit geröteten Wangen und leicht geöffneten Lippen. Er wusste, dass er sich damit nur selbst quälte – als würde er sich mit der feinen, scharfen Schneide eines Dolchs über die Haut fahren. Trotzdem konnte er nicht damit aufhören.

Plötzlich erregte eine Bewegung James’ Aufmerksamkeit. Etwas störte das Mondlicht, durchbrach die silbrigen Strahlen. Er schob den Handschuh zurück in die Manteltasche und trat ans Fenster. Von hier aus reichte der Blick bis zu den zerklüfteten Felsen des Chapel Cliff, auf die vom Wind geschliffenen Klippen, die zu einem silberschwarzen Meer abfielen.

Am Rand der Felsen, wo das Gestein mit einer Reifschicht überzogen war, stand eine Gestalt. Der Mann war schlank und hochgewachsen und trug einen weißen Umhang … Nein, nicht weiß. Sondern die Farbe von Knochen oder Pergament. Saum und Ärmel waren mit Runen versehen.

Jem.

James wusste, dass es sein Onkel war. Es konnte niemand anderes sein. Aber warum war er hier? James hatte ihn nicht gerufen. Und wenn Jem gewollt hätte, dass alle von seiner Anwesenheit wussten, hätte er doch bestimmt angeklopft und das ganze Haus aufgeweckt, oder? Leise nahm James den Mantel vom Haken, schlüpfte in seine Schuhe und schlich die Treppe hinunter.

Die Kälte traf ihn im selben Moment, als er aus der Tür trat. Obwohl es nicht schneite, war die Luft voller scharfer Raureifpartikel. James war wie geblendet, nachdem er das Haus umrundet und die Klippen erreicht hatte, wo Jem stand. Dieser trug nur seine dünne Robe und keine Handschuhe. Doch Kälte und Hitze machten den Brüdern der Stille nichts aus. Als James sich zu Jem gesellte, warf der ihm einen Blick zu, schwieg aber. Es schien, als würde es ihm reichen, dass sie beide so dastanden und aufs Wasser hinaussahen.

»Hast du nach uns gesucht?«, fragte James. »Ich dachte, Mutter würde dir sagen, wohin wir gereist sind.«

Das brauchte sie nicht. Dein Vater hat mir am Abend eurer Abreise aus London einen Brief geschickt, antwortete Jem lautlos. Aber ich konnte nicht bis zu eurer Rückkehr warten, um mit dir zu sprechen. Sein Tonfall war ernst. Und obwohl die Brüder der Stille immer ernst klangen, wurde James mulmig bei Jems Verhalten.

»Belial?«, flüsterte er.

Zu seiner Überraschung schüttelte Jem den Kopf. Grace.

Oh.

Wie du weißt, fuhr Jem fort, befindet sie sich seit deiner Abreise in der Stadt der Stille.

»Dort ist es für sie sicherer«, sagte James und fügte eine Sekunde später mit unbeabsichtigter Bitterkeit hinzu: »Und für die Welt ist es sicherer, wenn sie dort ist. Unter strenger Bewachung.«

Beides ist wahr, bestätigte Jem und schwieg einen Moment. Dann fragte er: Gibt es einen Grund, warum du deinen Eltern nicht erzählt hast, was Grace dir angetan hat?

»Woher weißt du, dass ich es ihnen nicht erzählt habe?«, erwiderte James. Jem betrachtete ihn schweigend. »Egal«, sagte James. »Vermutlich dank der Kräfte eines Stillen Bruders.«

Und dank einer generellen Kenntnis menschlichen Verhaltens , sagte Jem. Wenn Will vor der Abreise aus London gewusst hätte, was Grace dir angetan hat, dann hätte sein Brief ganz anders geklungen. Und ich gehe stark davon aus, dass du es ihm noch immer nicht erzählt hast.

»Warum vermutest du das?«

Ich kenne dich gut, James, sagte sein Onkel. Ich weiß, dass du nicht gern bemitleidet wirst. Und du befürchtest, dass genau das passieren würde, wenn du die Wahrheit offenbarst … über das, was Grace – und ihre Mutter – dir angetan haben.

»Aber genau das würde wirklich passieren«, sagte James und starrte aufs Meer hinaus. Weit draußen glitzerten Lichtpunkte in der Dunkelheit, die Leuchten von Fischerbooten. James konnte sich noch nicht einmal vorstellen, wie einsam es sein musste, dort draußen in der Finsternis und Kälte, allein auf den Wellen, in einem winzigen Boot. »Doch vermutlich bleibt mir keine große Wahl. Vor allem, wenn Grace sich vor Gericht verantworten muss.«

Genau genommen haben die Brüder der Stille entschieden, dass Grace’ Fähigkeiten vorerst geheim gehalten werden sollen, sagte Jem. Wir wollen nicht, dass Tatiana Blackthorn erfährt, dass ihre Tochter nicht länger ihre Verbündete ist. Und sie soll auch nicht erfahren, was wir wissen – nicht, bis sie mit dem Engelsschwert befragt werden kann.

»Wie praktisch für Grace«, sagte James, über den verbitterten Unterton in seiner Stimme selbst überrascht.

James, sagte Jem. Habe ich denn von dir verlangt, Stillschweigen zu bewahren über das, was Grace und Tatiana dir angetan haben? Die Brüder der Stille wollen, dass dem Rat die Wahrheit vorenthalten wird. Trotzdem verstehe ich, dass du es vielleicht deiner Familie erzählen musst, um dich und sie zu beruhigen. Aber ich vertraue darauf, dass du in diesem Fall deutlich machst, dass die Angelegenheit noch nicht weithin bekannt werden darf. Er zögerte. Ich hatte den Eindruck, du willst vielleicht gar nicht, dass jemand davon erfährt. Dass du erleichtert wärst, wenn es ein Geheimnis bleibt.

James schwieg. Weil er tatsächlich erleichtert war. Er konnte sich das Mitleid vorstellen, mit dem man ihn überhäufen würde, wenn die Wahrheit ans Licht kam – den Wunsch, zu verstehen, das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Doch er brauchte noch etwas Zeit, bevor alle davon erfuhren. Zeit, um sich an die Wahrheit zu gewöhnen. Zeit, um zu akzeptieren, dass er jahrelang grundlos eine Lüge gelebt hatte.

»Es fühlt sich seltsam an, dass du mit Grace sprichst. Dass du vermutlich die einzige Person auf der Welt bist, die mit ihr ein ehrliches Gespräch über das führt, was … was sie getan hat.« James biss sich auf die Unterlippe. Es fiel ihm noch immer schwer, von »der Verzauberung« oder »dem Liebeszauber « zu sprechen. Es war erträglicher, »was sie getan hat« zu sagen oder sogar »was sie mir angetan hat« . Jem verstand ihn ohnehin. »Ich glaube, dass sie es nicht einmal ihrem Bruder erzählt hat. Er scheint nichts davon zu wissen.«

Der scharfe Wind erfasste James’ Haare und schleuderte sie ihm in die Augen. Ihm war so kalt, dass er sogar das federleichte Flattern seiner eigenen, von der Gischt feuchten Wimpern auf der Haut spüren konnte. »Jesse hat Grace’ Kräfte Lucie gegenüber jedenfalls nie erwähnt – da bin ich mir absolut sicher.« Lucie hätte sich nicht zurückhalten können und James bei nächster Gelegenheit darauf angesprochen, hätte gegen Grace gewettert, wutentbrannt um seinetwillen.

Er weiß es nicht. Zumindest hat Grace es ihm nicht erzählt. Genau genommen hat sie noch niemandem davon erzählt.

»Niemandem?«

Bis zu ihrem Geständnis wusste es niemand außer ihrer Mutter, bestätigte Jem. Und natürlich Belial. Ich glaube, sie hat sich geschämt – wie viel Wert man dem auch immer beimessen mag.

»Allzu viel ist es nicht wert«, entgegnete James.

Jem nickte wissend. Meine Aufgabe als Bruder der Stille besteht darin , ein tieferes Verständnis zu entwickeln. Wie auch immer Belials Plan aussieht: Ich glaube nicht, dass er mit uns fertig ist. Mit dir. Er hat über viele Wege versucht, an dich heranzukommen. Und auch durch Grace. Wenn er aber feststellt, dass diese Tür verschlossen ist, wäre es besser, wenn wir wissen, wohin er sich als Nächstes wenden wird.

»Ich bezweifle, dass Grace es weiß«, sagte James, mit einer Stimme so schwer wie Blei. »Sie wusste nicht, was er mit Jesse vorhatte. Und fairerweise muss ich sagen, dass ich nicht glaube, dass sie das mitgemacht hätte. Jesse ist möglicherweise der Einzige auf der Welt, der ihr wirklich etwas bedeutet.«

Das glaube ich auch, sagte Jem. Doch selbst wenn Grace Belials Geheimnisse nicht kennt, kann uns das Wissen um ihr Geheimnis dabei helfen, Lücken in Belials Rüstung zu finden. Jem legte den Kopf in den Nacken, und der Wind zerzauste seine dunklen Haare. Aber ich werde sie dir gegenüber nicht wieder erwähnen, es sei denn, es ist unerlässlich.

»Wie du bereits sagtest«, setzte James vorsichtig an, »gibt es ein paar Leute, denen ich davon erzählen muss. Die es verdienen, die Wahrheit zu erfahren.« Jem antwortete nicht, sondern wartete nur ab. »Cordelia ist in Paris. Ihr würde ich es gern zuerst erzählen, vor allen anderen. Das bin ich ihr schuldig. Abgesehen von mir war sie … mehr von der Sache betroffen als irgendjemand sonst.«

Es ist deine Geschichte, und es steht dir zu, sie zu erzählen, sagte Jem. Nur … Wenn du Cordelia oder anderen davon erzählst, dann wäre ich dir dankbar, wenn du es mich wissen lässt. Du kannst mich jederzeit erreichen.

James dachte an die Schachtel Streichhölzer in seiner Tasche – jedes Hölzchen eine Art Signallicht, das beim Entzünden Jem an James’ Seite rief. Er wusste nicht, welche Magie dahintersteckte. Und vermutlich würde Jem es ihm auch nicht verraten, selbst wenn er danach fragte.

Es ist nicht einfach für mich, fuhr Jem fort, mit unveränderter Miene. Aber er rang seine bleichen Hände. Ich weiß, dass ich Grace’ Aussage unvoreingenommen anhören muss. Wenn sie jedoch über das spricht, was dir angetan wurde, schreit mein schweigendes Herz: Das war falsch, es war schon immer falsch! James, du liebst, wie dein Vater liebt: uneingeschränkt, bedingungslos und ohne Zögern. Diese Eigenschaft als Waffe einzusetzen, ist wie Blasphemie.

James warf einen Blick über die Schulter zu Malcolms Haus und dann wieder auf seinen Onkel. Er hatte ihn noch nie so aufgewühlt erlebt. »Willst du, dass ich meinen Vater wecke?«, fragte er. »Wolltest du mit ihm reden?«

Nein. Weck ihn nicht , winkte Jem ab. Und obwohl er lautlos sprach, lag in der Art, wie er über Will dachte , eine Sanftmut, die allein Will vorbehalten war. James musste an Matthew denken, der zweifellos gerade irgendwo in Paris schlief. Er fühlte eine schreckliche Mischung aus Liebe und Wut in seinem Blut, wie ein Gift. Matthew war für ihn das Gleiche gewesen wie Will für Jem. Wie hatte er ihn verlieren können? Wie hatte er ihn verlieren können, ohne es überhaupt zu merken?

Ich bedauere, dass ich dir das alles erzählen musste. Es ist keine Last, die du auf deinen Schultern tragen solltest.

»Es ist keine Last zu wissen, dass es jemanden in der Stadt der Stille gibt, der sich all das anhört und es nicht nur als speziellen magischen Kniff betrachtet, sondern als etwas, das tatsächlich einen Preis hatte«, erwiderte James leise. »Und selbst wenn du Mitleid mit Grace hast, selbst wenn du als Richter nicht emotional involviert sein darfst, wirst du mich und meine Familie nicht vergessen. Cordelia. Dass du uns nicht vergessen wirst, bedeutet mir sehr viel.«

Jem strich James das Haar aus der Stirn – eine Geste wie eine leichte Segnung. Niemals, sagte er. Und dann, zwischen zwei donnernden Wellenschlägen, verschmolz er mit den Schatten und war verschwunden.

James kehrte ins Haus zurück und kroch ins Bett, den Mantel noch immer fest um sich geschlungen. Er fror bis ins Mark, und auch im Schlaf fand er keine Ruhe. Er träumte von Cordelia, die in einem blutroten Kleid auf einer Brücke aus Lichtern stand. Und obwohl sie ihn direkt ansah, war klar, dass sie keine Ahnung hatte, wer er war.

Direkt über Ariadnes Kopf prangte ein Fleck an der Zimmerdecke, dessen Form Ähnlichkeit mit einem Kaninchen hatte.

Ariadne war davon ausgegangen, dass sie sofort in einen erschöpften Schlaf fallen würde. Stattdessen lag sie jedoch wach, und ihre Gedanken überschlugen sich. Sie wusste, dass sie eigentlich an die verstörenden Aufzeichnungen ihres Vaters hätte denken müssen. An ihre Mutter, die sie unter Tränen angefleht hatte, ihr zu versichern, dass es nicht wahr war. Und wenn sie ihre Worte zurücknähme, müsste sie nicht gehen. Dann könnte sie bleiben.

Doch Ariadnes Gedanken waren bei Anna. Anna, die nur wenige Meter entfernt schlief, den langen, eleganten Körper lässig auf der violetten Chaiselongue ausgestreckt. Ariadne konnte sie sich nur allzu gut vorstellen: den hinter den Kopf gelegten Arm, das dunkle Haar, das sich lockig an Annas Wange schmiegte, den Rubinanhänger an ihrer Halskette, der in ihrer wohlgeformten Kehlgrube glitzerte.

Doch vielleicht schlief Anna ja nicht. Vielleicht lag sie ebenso wach wie Ariadne. Vielleicht erhob sie sich gerade und zog den Gürtel ihres Morgenmantels fest, schlich lautlos durchs Zimmer und streckte die Hand nach der Schlafzimmertür aus …

Ariadne schloss die Augen, doch ihr ganzer Körper blieb wach. Angespannt und wartend. Sie würde spüren, wie Anna sich neben sie aufs Bett setzte, wie die Matratze unter ihrem Gewicht ein wenig nachgab. Sie würde spüren, wie Anna sich über sie beugte, die Hitze ihres Körpers, ihre Hand an Ariadnes Nachthemdträger, den sie ihr langsam von der Schulter schob. Annas Lippen auf Ariadnes nackter Haut …

Mit einem unterdrückten Keuchen rollte sich Ariadne auf die Seite. Natürlich war nichts dergleichen passiert. Schließlich hatte sie Anna bei ihrer letzten Begegnung unmissverständlich aufgefordert, sich von ihr fernzuhalten. Und Anna würde es niemals in den Sinn kommen, sich dorthin zu begeben, wo sie nicht erwünscht war. Niedergeschlagen ließ Ariadne ihren Blick durchs Zimmer schweifen: ein kleiner Raum, mit einem zum Bersten gefüllten Kleiderschrank und zahlreichen Bücherregalen.

Nicht dass Ariadne sich vorstellen konnte, jetzt etwas zu lesen – nicht, wenn jede Faser ihres Körpers Annas Namen zu rufen schien. Sie hatte sich eingeredet, dass sie sich von ihrem Verlangen nach Anna befreit hatte … dass sie eingesehen hatte, dass Anna ihr niemals geben konnte, was sie wollte. Trotzdem wollte sie im Moment nur eines: Anna. Annas Hände, Annas geflüsterte Worte an ihrem Ohr, Annas Körper, der sich an ihren schmiegte.

Ariadne stützte sich auf ihren Ellbogen und streckte die Hand nach dem Wasserkrug auf dem Nachttisch aus. Gleich darüber hing ein schmales Holzregal an der Wand. Ariadnes Ärmel verfing sich an einem Objekt, das dort stand, und es landete neben dem Krug auf dem Nachttisch. Sie nahm den Gegenstand und sah, dass es sich um eine handtellergroße Puppe handelte. Neugierig geworden setzte Ariadne sich auf. Sie hätte Anna nicht für jemanden gehalten, der mit Puppen spielte. Nicht einmal als Kind. Dieses Exemplar zählte zu den Puppen, die man oft in Puppenhäusern vorfand. Die Gliedmaßen waren mit Watte ausgestopft, und das Gesicht bestand aus weißem Porzellan. Ariadne erkannte, dass sie die Vater-Puppe in der Hand hielt – jene Sorte von Puppe, die normalerweise in Kombination mit einer Frau und einem winzigen Porzellanbaby in einer Miniaturwiege verkauft wurde.

Ariadne hatte als Kind ähnliche Puppenhausbewohner besessen. Eigentlich bestand keinerlei Unterschied zwischen den männlichen und den weiblichen Puppen, mit Ausnahme der sorgfältig genähten, winzigen Kleidungsstücke, die sie trugen. Sie malte sich in ihrer Fantasie aus, wie Anna mit der kleinen Figur im flotten Nadelstreifenanzug und dem Zylinder auf dem Kopf spielte. Vielleicht war die Puppe ja in Annas Vorstellung die Hausherrin und trug eben die Art von Kleidung, die sie Annas Meinung nach bevorzugen würde. Vielleicht war die Puppe eine verwegene Bohemienne, die mit einem Miniaturstift winzige Gedichte verfasste.

Ariadne lächelte und stellte die Puppe behutsam in ihr Regal zurück. So eine winzige Sache – und doch eine Erinnerung daran, dass sie hier war, zum ersten Mal in Annas Wohnung, umgeben von Annas Sachen. Und selbst wenn sie Anna nicht haben konnte, befanden sich ihre Füße dennoch auf demselben Weg in Richtung Unabhängigkeit, den auch Anna vor vielen Jahren für sich gewählt hatte. Jetzt war es an Ariadne, diese Freiheit zu ergreifen und zu entscheiden, was sie damit anfangen wollte. Sie rollte sich unter der Decke zusammen und schloss die Augen.

Cornwall Gardens war nicht nur ein paar Schritte von Thomas’ Haus entfernt. Gute fünfundvierzig Minuten dauerte der Weg dorthin – eine Stunde, wenn man unterwegs eine kleine Pause im Park einlegte. Aber Thomas machte das nichts aus. Heute war einer der seltenen sonnigen Wintertage in London. Trotz der Kälte war die Luft klar und hell und schien jedes noch so kleine Detail im Stadtbild deutlich hervortreten zu lassen: von der bunten Reklame an den Omnibussen bis hin zu den huschenden Schatten winziger Spatzen.

Huschende Schatten winziger Spatzen, dachte er. Thomas, du klingst wirklich wie ein Idiot. Verdammt! Was würde Alastair denken, wenn er mit einem verklärten Lächeln im Gesicht vor seiner Tür auftauchte und etwas von Spatzen plapperte? Er würde Thomas unverzüglich wieder fortschicken. Leider tat auch diese Vorstellung Thomas’ guter Laune keinen Abbruch. Seine Gedanken schienen durcheinanderzuwirbeln. Um sie zu sortieren, musste er zum Anfang zurückkehren:

Beim Frühstück, als er ruhig und unschuldig eine Scheibe Toast gegessen hatte, hatte ein Bote eine Nachricht für ihn abgegeben. Seine Eltern waren überrascht gewesen, aber nicht annähernd so überrascht wie er selbst.

Die Nachricht stammte von Alastair.

Thomas benötigte ganze fünf Minuten, bis er diese Tatsache verdaut hatte. Die Nachricht war von Alastair, Alastair Carstairs, nicht von irgendeinem anderen Alastair. Das Schreiben enthielt folgende Information: Alastair wollte sich mit Thomas in Cornwall Gardens treffen, und zwar so schnell wie möglich.

Nachdem er sich wieder gefasst hatte, stürmte Thomas so schnell nach oben, dass er auf dem Weg hinaus eine Teekanne umwarf. Seine Eltern blieben verwirrt zurück und sahen Hilfe suchend zu Eugenia. Doch die zuckte nur die Schultern, als wollte sie sagen, dass man getrost jede Hoffnung aufgeben konnte, das wunderbare Rätsel zu lösen, das Thomas darstellte. »Noch etwas Rührei?«, schlug sie vor und hielt ihrem Vater einen Teller unter die Nase.

In der Zwischenzeit war Thomas im oberen Stockwerk und geriet in Panik angesichts der Frage, was er anziehen sollte. Und das, obwohl er ohnehin nur eine ziemlich langweilige Garderobe aus Braun-, Schwarz- und Grautönen besaß. Schließlich war es nicht einfach, Kleidung zu finden, die jemandem von seiner Größe und Statur passte. Doch dann erinnerte er sich, dass Matthew einmal gesagt hatte, ein bestimmtes grünes Hemd würde die Farbe seiner nussbraunen Augen betonen. Thomas streifte das Hemd über, bürstete seine Haare und verließ das Haus – nur, um wenige Sekunden später umzukehren, weil er Schal, Schuhe und seine Stele vergessen hatte.

Jetzt führte ihn sein Weg durch Knightsbridge mit seinen terrakottafarbenen Ziegelsteingebäuden, vor denen sich unzählige Menschen auf den Gehwegen drängten und Einkäufe erledigten. Als die Straßen ruhiger wurden und die ehrwürdigen weißen Gebäude von South Kensington auftauchten, ermahnte Thomas sich, dass Alastairs Nachricht nicht unbedingt von größerer Bedeutung sein musste. Es war durchaus möglich, dass Alastair lediglich etwas ins Spanische übersetzt haben wollte oder bei einer bestimmten Angelegenheit die Meinung einer sehr groß gewachsenen Person benötigte – obwohl Thomas sich nicht vorstellen konnte, warum dies der Fall sein sollte. Es war sogar denkbar, dass Alastair aus irgendeinem Grund über Charles sprechen wollte. Bei dem Gedanken hatte Thomas das Gefühl, als würde sich seine Haut schmerzhaft zusammenziehen. Als er vor dem Haus der Carstairs ankam, war seine Aufregung abgeflaut – zumindest so lange, bis er den Vorgarten betrat und Alastair erblickte, der mit zerzausten Haaren und in Hemdsärmeln vor der Haustür stand, ein wohlbekanntes Schwert in der Hand.

Alastairs Miene wirkte grimmig. Als Thomas näher kam, schaute er auf. Zwei Dinge stachen Thomas sofort ins Auge: Erstens, dass Alastair mit seiner glatten, hellbraunen Haut und seiner anmutigen Statur noch immer verstörend attraktiv war. Zweitens, dass Alastairs Arme mit schlimmen Kratzern übersät waren und schwarze, giftig aussehende Flecken sein Hemd verunzierten.

Dämonensekret.

»Was ist passiert?« Thomas blieb abrupt stehen. »Alastair … ein Dämon? Mitten am Tag? Sag bloß nicht …« Sag bloß nicht, dass sie zurück sind. Vor einigen Monaten waren sie von Dämonen heimgesucht worden, die die Fähigkeit besessen hatten, bei Tageslicht zu erscheinen. Das war allerdings Belials Einmischung zu verdanken gewesen. Und falls es jetzt wieder losging …

»Nein«, erwiderte Alastair schnell, als hätte er Thomas’ Sorge gespürt. »Ich bin – was zugegebenermaßen ziemlich idiotisch von mir war – in die Stallungen gegangen, um etwas zu suchen. Im Inneren des Gebäudes war es dunkel, und einer der Dämonen hatte offenbar beschlossen, sich dort auf die Lauer zu legen.«

»Einer von welchen Dämonen?«, fragte Thomas.

Alastair machte eine vage Handbewegung. »Gut, dass ich Cortana bei mir hatte«, sagte er.

Erneut überrascht hakte Thomas nach: »Und warum hast du Cortana bei dir?«

Cortana war Cordelias Schwert, das seit Generationen in der Familie Carstairs weitergegeben wurde. Es handelte sich um ein kostbares Erbstück und stammte vom selben Schattenjägerschmied, der Durendal für Roland und Excalibur für König Artus geschmiedet hatte. Thomas hatte Cordelia selten ohne das Schwert gesehen.

Alastair seufzte. Thomas fragte sich, ob er mit seinen hochgekrempelten Ärmeln fror, beschloss jedoch, es nicht zu erwähnen, weil Alastair schlanke, muskulöse Unterarme besaß. Und vielleicht machte ihm die Kälte ja auch gar nichts aus. »Cordelia hat es vor ihrer Abreise nach Paris zurückgelassen. Sie war der Ansicht, dass sie es nicht mehr tragen sollte, wegen der Paladin-Sache.«

»Es ist doch seltsam, dass Cordelia mit Matthew nach Paris gefahren ist, oder nicht?«, fragte Thomas vorsichtig.

»Es ist tatsächlich seltsam«, räumte Alastair ein. »Aber das ist allein Cordelias Sache.« Er drehte Cortana in der Hand, und das bleiche Sonnenlicht funkelte auf der Klinge. »Wie dem auch sei … Ich habe versucht, das Schwert möglichst immer bei mir zu tragen. Was tagsüber kein Problem darstellt, aber nach Sonnenuntergang schon. Jedes Mal, wenn ich einen Schritt vor die Tür mache, scheint es ganze Schwärme dieser verdammten Dämonen anzuziehen, wie ein Leuchtfeuer.«

»Bist du dir sicher, dass sie dich wegen des Schwerts angreifen?«

»Willst du damit andeuten, dass es an meiner Person liegt?«, fauchte Alastair. »Sie haben mich jedenfalls nicht angegriffen, bevor Cordelia mir das Schwert anvertraut hat. Sie hat es mir gegeben, weil sie nicht wollte, dass irgendjemand weiß, wo es sich befindet. Ich vermute, diese räudigen Dämonenkreaturen wurden als Spione geschickt, von jemandem, der auf der Suche nach Cortana ist. Vielleicht Lilith oder Belial. Aber es steht ja ein ganzes Pantheon von Schurken zur Auswahl.«

»Das heißt also: Wer auch immer auf der Suche nach Cortana ist, weiß, dass du das Schwert hast?«

»Zumindest nimmt der- oder diejenige das an«, antwortete Alastair. »Ich vermute , dass ich alle Dämonen getötet habe, bevor sie Bericht erstatten konnten. Auf jeden Fall ist bisher noch nichts Garstigeres aufgetaucht, um mich anzugreifen. Trotzdem ist das auf Dauer kein Leben.«

Thomas verlagerte sein Gewicht. »Hast du mich, äh, hergebeten, damit ich dir helfe?«, fragte er. »Das würde ich nämlich gern. Wir könnten einen Wachdienst organisieren. Christopher und ich könnten uns abwechseln. Und Anna würde sicher auch helfen …«

»Nein«, erwiderte Alastair.

»Ich versuche wirklich nur zu helfen«, sagte Thomas.

»Ich habe dich nicht hierhergerufen, weil ich Hilfe brauche. Es war reiner Zufall, dass du hier aufgetaucht bist, gleich nachdem …« Alastair machte eine ausladende Geste, die wohl die Dämonen einschließen sollte, welche sich in den Stallungen versteckten. Er schob Cortana zurück in die Schwertscheide an seiner Hüfte. »Tatsächlich habe ich dich hergebeten, weil ich wissen wollte, warum du mir eine Nachricht geschickt hast, in der du mich dumm nennst.«

»Das stimmt nicht«, protestierte Thomas empört. Doch dann erinnerte er sich zu seinem Entsetzen an die Zeilen, die er in Henrys Labor geschrieben hatte. Lieber Alastair, warum bist du so dumm und so frustrierend, und warum muss ich ständig an dich denken?

O nein! Aber wie …?

Alastair zog ein angesengtes Stück Papier aus der Tasche und reichte es Thomas. Der größte Teil des Schreibens war bis zur Unlesbarkeit verkohlt. Übrig geblieben waren lediglich folgende Worte:

Lieber Alastair,

warum bist du so dumm

Ich putze mir die Zähne

niemand soll davon erfahren

Thomas

»Ich weiß zwar nicht, warum du nicht willst, dass jemand erfährt, dass du dir die Zähne putzt«, fügte Alastair hinzu, »aber ich werde diese Information selbstverständlich streng vertraulich behandeln.«

Thomas fühlte sich hin- und hergerissen zwischen einem Gefühl schrecklicher Demütigung und einer seltsamen Euphorie. Natürlich musste Christophers albernes Experiment genau dieses eine Mal funktionieren, zumindest teilweise. Andererseits hatte es tatsächlich teilweise funktioniert. Er konnte es kaum erwarten, Kit davon zu erzählen.

»Alastair«, sagte er. »Dieses Geschreibsel ist reiner Unsinn. Christopher hatte mich gebeten, für ein Experiment ein paar Worte aufs Papier zu kritzeln.«

Alastair musterte ihn skeptisch. »Wenn du es sagst.«

»Hör zu«, fuhr Thomas fort, »auch wenn du mich nicht hergebeten hast, damit ich dir helfe, will ich wirklich gern helfen. Ich …« Ich hasse die Vorstellung, dass du in Gefahr schwebst. »Ich halte es schon für ein Problem, wenn du ständig von Dämonen angegriffen wirst. Und ich bezweifle, dass Cordelia das Schwert bei dir gelassen hätte, wenn sie davon ausgegangen wäre, dass so etwas passiert.«

»Nein, vermutlich nicht«, räumte Alastair ein.

»Warum verstecken wir es nicht?«, schlug Thomas vor. »Cortana, meine ich.«

»Mir ist klar, dass das die vernünftigere Lösung wäre«, sagte Alastair. »Aber es fühlt sich sicherer an, es bei mir zu tragen – auch wenn ich immer wieder angegriffen werde. Wenn es versteckt wäre, würde ich mir ständig Sorgen machen, dass derjenige, der auf der Suche nach dem Schwert ist, es auch findet . Was würde ich Cordelia dann sagen? Und was wäre, wenn der Dämon, der es haben will, es dazu benutzt, die Welt zu zerstören oder etwas in der Art? Das fände ich schrecklich. Mir fällt einfach kein sicheres Versteck ein.«

»Hm. Was wäre, wenn ich ein Versteck wüsste, das sicher genug wäre?«

Alastair zog die dunklen, geschwungenen Augenbrauen hoch. »Lightwood, du steckst wie immer voller Überraschungen. Sag mir, woran du gedacht hast.«

Thomas folgte seiner Aufforderung.

Cordelia trat in ihrem gestreiften Ausgehkleid aus ihrem Zimmer und sah, dass Matthew am Frühstückstisch saß und gerade ein Croissant mit Butter bestrich. Draußen schien die Sonne, warf ihre blütengelben Strahlen durch die hohen Rundbogenfenster und verwandelte Matthews Haar in einen Heiligenschein aus gesponnenem Gold.

»Ich wollte dich nicht wecken«, sagte er. »Schließlich waren wir gestern Abend ziemlich lange auf.« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Frühstück?«

Auf dem Tisch stand ein beängstigendes Angebot aus Croissants, Butter, Orangenmarmelade, verschiedenen Fruchtkonfitüren und Gelees, Porridge, Speck und Bratkartoffeln, Crumpets, Räucherheringen, Rühreiern und Tee. »Welche Armee verpflegen wir denn heute?«, fragte Cordelia und ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Matthew sinken.

Er zuckte leicht die Schultern. »Ich war mir nicht sicher, was du essen willst. Deshalb habe ich alles bestellt.«

Cordelia spürte, wie ihr Herz weich wurde. Obwohl Mat­thew es gut verbarg, konnte sie ihm ansehen, dass er nervös war. Sie war letzte Nacht sehr aufgewühlt gewesen. Und sie erinnerte sich, dass er die Arme um sie gelegt hatte, während sie im Schein der Gaslaternen auf dem Boulevard de Clichy standen und Fiacres an ihnen vorbeirumpelten wie Züge. Sie hatte ihm gesagt, er wäre unglaublich nett zu ihr gewesen, und das stimmte ja auch.

Während Cordelia sich eine Tasse Tee einschenkte, meinte Matthew: »Ich dachte, wir könnten heute dem Musée Grévin einen Besuch abstatten? Dort präsentiert man den Besuchern Skulpturen aus Wachs und einen Spiegelsaal, der dem Inneren eines Kaleidoskops ähnelt …«

»Matthew«, setzte Cordelia an, »ich möchte heute Abend gern wieder ins Cabaret de l’Enfer gehen.«

»Ich hätte nicht gedacht …«

»Dass ich mich amüsiert habe?« Cordelia spielte mit ihrem Löffel. »Na ja, vermutlich nicht. Aber wenn … wenn das wirklich mein Vater war, dann will ich die Wahrheit erfahren. Ich würde Madame Dorothea gern eine Frage stellen, auf die nur mein Vater die Antwort weiß.«

Matthew schüttelte den Kopf und brachte dabei seine blonden Locken durcheinander. »Ich kann dir nichts abschlagen«, sagte er. Cordelia spürte, wie sie rot wurde. »Aber … nur unter der Bedingung, dass wir uns heute ausgiebig amüsieren – ohne an Geister oder düstere Warnungen zu denken. Einverstanden?«

Cordelia erklärte sich einverstanden, und so verbrachten sie den Tag mit der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten. Matthew bestand darauf, die kleine Brownie-Kamera mitzunehmen, die er sich gekauft hatte. Und Cordelia posierte im Musée Grévin bereitwillig mit zahlreichen Wachsfiguren: angefangen vom Papst über Napoleon, Victor Hugo und Marie-Antoinette bis hin zu verschiedenen anderen Figuren in Räumen, in denen Szenen aus der Französischen Revolution nachgestellt waren. Einige der Wachsfiguren wirkten so lebensecht, dass es sich ausgesprochen seltsam anfühlte, sich zwischen sie zu stellen.

Schließlich erklärte Matthew, er bräuchte frische Luft, und sie winkten einen Fiacre heran, damit er sie zum Bois de Boulogne brachte. »In Paris ist alles besser«, verkündete Matthew, während sie an der Opéra vorbeifuhren und langsam durch die Rue Saint-Lazare rollten. »Mit Ausnahme des Verkehrs vielleicht.«

Dem musste Cordelia zustimmen. Als sie den Arc de Tri­omphe passierten und sich dem Bois de Boulogne näherten, schienen Hunderte von Kutschen auf den Eingang zuzuströmen. Dazu kamen hupende Autos, Reiter auf Pferden, Gruppen von Fahrradfahrern und Massen von Fußgängern. Der im Gewimmel gefangene Fiacre wurde langsam durch eine von Bäumen gesäumte Allee gedrängt, die am Ufer eines Sees endete, wo eine fröhliche Gruppe junger Studenten – dem kalten Wetter trotzend – ein lautstarkes Picknick veranstaltete.

Als Matthew und Cordelia schließlich dankbar aus der Kutsche kletterten, musste Cordelia unweigerlich an das Picknick im Regent’s Park denken – eine ihrer ersten Begegnungen mit den Tollkühnen Gesellen. Sie dachte an Christopher, der Zitronentörtchen aß, an Thomas’ freundliches Lächeln und Annas Lachen, an Lucies Wissbegierde, an James …

Nein, sie würde nicht an James denken. Trotzdem konnte sie sich einen wehmütigen Blick auf die Studenten und ihr Picknick nicht verkneifen, obwohl sie ihr so furchtbar jung vorkamen – jünger als sie und ihre Freunde, auch wenn sie wahrscheinlich an der Universität studierten. Sie kannten die Schattenwelt nicht, sahen sie nicht und konnten sich nicht vorstellen, was hinter dem dünnen Gespinst … hinter der Illusion lauerte, die sie von einem dunkleren Universum trennte.

Cordelia beneidete sie.

Schließlich fanden Matthew und sie eine freie Parkbank und ließen sich darauf nieder. Matthew legte den Kopf in den Nacken und hielt sein Gesicht ins fahle Winterlicht. Cordelia wurde bewusst, wie müde er aussah. Passend zu seinen blonden Haaren war Matthews Haut extrem blass und empfindlich. Jeder Bluterguss und jeder Schatten zeichnete sich deutlich ab. Und die Ringe unter seinen Augen schimmerten so dunkel, als wären sie aufgemalt. Kein Wunder – schließlich war er die halbe Nacht wach gewesen, rief sie sich schuldbewusst in Erinnerung. Matthew hatte ihre Hand gehalten, während sie sich unruhig im Schlaf gewälzt hatte.

»Matthew«, sagte Cordelia.

»Hm?«, fragte er, ohne die Augen zu öffnen.

»Ich dachte, dass wir uns vielleicht mal unterhalten sollten … über meinen Bruder und deinen.«

Obwohl Matthew die Augen weiterhin geschlossen hielt, spürte sie, dass er sich versteifte. »Alastair und Charles? Was ist mit ihnen?«

»Na ja«, sagte Cordelia, »es kann dir ja nicht entgangen sein …«

»Nein, es ist mir nicht entgangen.«

Cordelia glaubte nicht, bei Matthew je zuvor einen so kühlen Tonfall gehört zu haben – schon gar nicht ihr gegenüber. Sie erinnerte sich an ihre erste richtige Begegnung. Daran, dass sie sich damals gefragt hatte, ob er sie vielleicht nicht mochte. Und wie er sie trotzdem bezaubert hatte. Helles Haar, würziges Eau de Cologne, die Andeutung eines Lächelns.

»Ich bin kein Idiot. Mir ist durchaus aufgefallen, wie Charles deinen Bruder ansieht. Und wie dein Bruder Charles nicht ansieht. Liebe, unerwiderte Liebe.« Jetzt öffnete Matthew die Augen. Im Sonnenlicht wirkten sie besonders hellgrün. »Und fairerweise muss ich sagen: Ich bezweifle, dass mein Bruder irgendetwas getan hat, um die Art von Liebe zu verdienen, die er eindeutig empfunden hat.«

»Wirklich? Glaubst du, dass Charles tatsächlich so viel für Alastair empfunden hat? Er war derjenige, der es geheim halten wollte.«

»Ah, wegen seiner Karriere , davon bin ich fest überzeugt«, entgegnete Matthew impulsiv. »Es hängt vermutlich davon ab, wie man Liebe definiert. Liebe, für die man nichts aufgibt … Liebe, die man bereitwillig für ein angenehmeres Leben opfert, ist meiner Meinung nach keine Liebe. Liebe sollte oberste Priorität haben.«

Die Intensität seiner Worte erschreckte Cordelia. Sie empfand sie wie einen Vorwurf: Hätte sie bereit sein sollen, mehr für James aufzugeben, mehr zu opfern? Für Lucie? Für ihre Familie?

»Lass gut sein«, sagte Matthew in sanfterem Tonfall. »Ich glaube, dass Charles nicht länger das Objekt von Alastairs Zuneigung ist. Deshalb wird die ganze Angelegenheit mit der Zeit in Vergessenheit geraten. Jetzt habe ich allerdings leichte Kopfschmerzen. Wir sollten über etwas anderes reden.«

»Dann werde ich dir eine Geschichte erzählen«, sagte Cordelia. »Vielleicht etwas aus dem Schāhnāme ? Möchtest du etwas über die Niederlage von Zahhāk, dem bösen Drachenschah, hören?«

Matthews Augen leuchteten auf. »Unbedingt«, sagte er und lehnte sich auf der Bank zurück. »Erzähl mir eine Geschichte, meine Liebe.«

Als James aufstand, fühlte er sich noch immer so müde, als hätte er kaum geschlafen. Er ging zum Waschtisch und spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, was ihn schlagartig wach machte. Dann betrachtete er sich im Spiegel: müde Augen und herabhängende Lider unter nassen, schwarzen Locken. In einem Mundwinkel entdeckte er eine scharfe Falte, an die er sich nicht erinnern konnte.

Kein Wunder, dass Cordelia dich nicht haben will.

Dann befahl er sich brutal, damit aufzuhören, und zog sich rasch an. Als er seine Manschetten zuknöpfte, hörte er im Flur vor seinem Zimmer ein Rascheln, wie von einer neugierigen Maus. Mit zwei schnellen Schritten war er an der Tür und riss sie auf. Es überraschte ihn nicht im Geringsten, dass Lucie direkt vor ihm stand, in einem blauen Kleid mit Spitzenbesatz, das für die Jahreszeit ungewöhnlich sommerlich wirkte, und ihn wütend anfunkelte.

»Wenn das nicht die heimliche Prinzessin Lucie ist«, sagte er sanftmütig, »die ihrer schrecklichen Familie einen Besuch abstattet.«

Lucie legte ihm eine Hand auf die Brust, schob ihn zurück ins Zimmer und kickte die Tür hinter sich zu. »Wir müssen reden – bevor wir nach unten gehen.«

»Pass bloß auf«, sagte James. »Du klingst schon genau wie Mutter früher, bevor sie uns eine Standpauke gehalten hat.«

Mit einem leisen Aufschrei ließ Lucie die Hand sinken. »Tu ich nicht «, widersprach sie. »Apropos Eltern, erinnerst du dich noch, wie wir uns dieses riesige Meerschweinchen gekauft haben? Und wie wir Mama und Papa erzählt haben, dass es ein Geschenk vom Institut in Lima gewesen wäre?«

»Ach ja, Spots«, sagte James. »Ich erinnere mich noch sehr gut an das kleine Biest. Er hat mich gebissen.«

»Er hat alle gebissen«, konterte Lucie abschätzig. »Ich bin mir sicher, dass es als Kompliment gemeint war. Aber was ich eigentlich sagen will: Es hat geklappt, weil du und ich dieselbe Geschichte parat hatten und auf Grundlage derselben Informationen argumentiert haben.«

»Stimmt«, sagte James und registrierte zufrieden, dass er aller Niedergeschlagenheit zum Trotz noch immer in der Lage war, seine Schwester auf die Palme zu bringen. »Glückliche Erinnerungen an eine glorreiche Vergangenheit.«

»Aber ich habe keine Ahnung, wie viel du Vater erzählt hast«, fuhr Lucie ungeduldig fort. »Worüber auch immer. Du dagegen weißt alles, was ich erzählt habe. Und überhaupt ist das alles nicht fair. Und nicht gut.«

»Na ja, ich habe ihm und Magnus fast alles erzählt, glaube ich.« James setzte sich aufs Bett. »Jedenfalls alles, was ich wusste. Und falls sie nach dem Gespräch mit mir noch irgendwelche Wissenslücken hatten, dann wurden die höchstwahrscheinlich durch die Ereignisse der letzten Nacht gefüllt.«

»Alles?« , fragte Lucie in forderndem Ton.

»Nichts über Cordelia«, räumte James ein. »Nichts über Lilith oder Paladine oder … irgendetwas in der Art.«

»Gut.« Lucie entspannte sich etwas. »Ich glaube nicht, dass wir ihnen davon erzählen können, oder? Das ist Cordelias Geheimnis. Es wäre ihr gegenüber nicht fair.«

»Abgemacht«, sagte James. »Hör mal, Luce … warum hast du mir nie von Jesse erzählt? Ich meine damit nicht, dass du versucht hast, ihn wieder zum Leben zu erwecken«, sagte er schnell, als Lucie zu protestieren begann. »Ich verstehe, dass du mir davon nichts erzählt hast. Du wusstest, dass mir das nicht gefallen hätte. Und du wusstest auch, dass mir deine Zusammenarbeit mit Grace ebenfalls nicht gefallen hätte.«

»Richtig«, sagte Lucie.

»Es gefällt mir noch immer nicht«, räumte James ein. »Trotzdem verstehe ich, warum du das Gefühl hattest, es tun zu müssen. Aber warum hast du mir nie von Jesses Existenz erzählt … oder dass du ihn sehen kannst?«

Lucie stieß, mit einer für sie untypischen Schüchternheit, mit der Schuhspitze gegen eine Wollmaus. »Vermutlich … war mir bewusst, dass die Tatsache, dass ich ihn sehen konnte, etwas Seltsames an sich hatte. Etwas Düsteres und Unheimliches. Etwas, das den Leuten nicht gefallen hätte.«

»Luce, ich weiß besser als jeder andere, was es bedeutet, Kräfte zu haben, die andere beunruhigend finden. Sogar grotesk.«

Ruckartig hob Lucie den Kopf. »Du bist nicht grotesk , Jamie, oder abstoßend oder sonst etwas in der Art …«

»Unsere Kräfte haben denselben Ursprung«, fuhr James fort. »Belial. Wer würde besser verstehen als ich, wie sehr man damit zu kämpfen hat? Ich muss daran glauben, dass ich Gutes tun kann – sogar mit Kräften, die aus der Dunkelheit stammen. Ich glaube das um meinetwillen. Und auch um deinetwillen.«

Lucie blinzelte ein paarmal, dann ließ sie sich neben James aufs Bett sinken. Einen Moment verharrten sie in einvernehmlicher Stille, und ihre Schultern berührten sich. »James«, setzte Lucie schließlich an, »Jesse wird dich brauchen. Es gibt Dinge, bei denen du ihm helfen kannst … und ich nicht. Die Tatsache, dass Belial von ihm Besitz ergriffen hatte, die Runenmale toter Schattenjäger auf seiner Haut … das alles quält ihn. Ich kann es in seinen Augen sehen.«

Ja, ich auch , dachte James. »Ich kann mit ihm reden. Sobald wir wieder in London sind.«

Lucie lächelte – ein stilles, irgendwie erwachsenes Lächeln, ein wenig traurig. Ein Lächeln, das James nicht mit seiner kleinen Schwester assoziierte. Aber vermutlich hatte sie sich verändert. Das galt für sie alle. »Papa hat es mir erzählt«, sagte Lucie. »Das mit Cordelia. Und Matthew. Dass sie zusammen nach Paris gefahren sind. Er schien anzunehmen, dass es dir nichts ausmacht, aber ich …« Sie wandte sich ihm zu. »Macht es dir etwas aus?«

»Definitiv«, sagte James. »Ich hätte nie gedacht, dass mir etwas so viel ausmachen könnte.«

»Also liebst du Grace nicht?«

»Nein! Nein«, sagte James. »Ich glaube nicht, dass ich sie je geliebt habe. Ich …« Für einen Moment stand er kurz davor, seiner Schwester die Wahrheit sagen: Es war ein Zauber. Sie hat mir nie etwas bedeutet. Diese Gefühle sind mir aufgezwungen worden. Aber es wäre nicht in Ordnung gewesen, Lucie davon zu erzählen, bevor er Cordelia informiert hatte. Cordelia musste es als Erste erfahren. »Glaubst du, Cordelia liebt ihn? Matthew, meine ich. Wenn das der Fall ist …«

»Ich weiß«, sagte Lucie. »Wenn das der Fall ist, wirst du dich still zurückziehen und ihrem Glück nicht im Weg stehen. Glaub mir, ich bin bestens mit der aufopferungsvollen Natur der He­rondale-Männer vertraut. Aber … falls sie wirklich etwas für Matthew empfindet, dann hat sie es mir gegenüber nie gezeigt oder erwähnt. Allerdings …«

James bemühte sich um eine höflich fragende Miene.

»Allerdings ist Paris eine romantische Stadt«, fuhr Lucie fort. »An deiner Stelle würde ich hinfahren und Cordelia sagen, was du wirklich empfindest. So schnell wie möglich.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, boxte sie ihn gegen die Schulter. »Nicht trödeln!«

»Du hast mich geboxt«, sagte James. »Glaubst du, dass deine Argumente überzeugender sind, wenn du mich schlägst

Im nächsten Moment klopfte es an der Tür, und Magnus schaute herein. »Ich unterbreche diesen wunderbaren Augenblick geschwisterlichen Einvernehmens nur ungern«, sagte er, »aber Malcolm würde gern unten mit uns allen sprechen.«

Als Lucie und James die Treppe herunterkamen, saß Malcolm in einem Sessel am Kamin. Er hatte ein riesiges, in schwarzes Leder gebundenes Buch auf den Knien, dessen Ecken mit Kanten aus gehämmertem Metall verstärkt waren. Allerdings trug er noch immer dieselbe Kleidung wie am Abend zuvor.

Magnus und Jesse warteten auf dem Sofa, während Will hinter ihnen langsam auf und ab ging, mit gerunzelter Stirn und in Gedanken versunken. Jesse schenkte Lucie ein angespanntes Lächeln. Sie wusste, dass er sie damit beruhigen wollte, doch seine Sorge war ihm deutlich anzusehen. Am liebsten wäre sie zu ihm gegangen und hätte ihn umarmt. Doch ihr war klar, dass das ihren Bruder, ihren Vater und die beiden anwesenden Hexenmeister unnötig schockiert hätte. Sie würde sich gedulden müssen.

Nachdem alle Platz genommen hatten, räusperte sich Malcolm und berichtete: »Ich habe mich die ganze Nacht mit der Frage auseinandergesetzt, die gestern Abend gestellt wurde, und ich glaube, dass ich eine Antwort gefunden habe. Ich denke, dass Jesse nach London zurückkehren sollte, und zwar als Blackthorn.«

Will schnaubte überrascht.

»Seinem Erscheinungsbild nach ist er unverkennbar ein Blackthorn«, fügte Malcolm hinzu, »und ich bezweifle, dass es ihm gelingen würde, etwas anderes vorzugeben. Er sieht seinem Vater so ähnlich, als wäre er ein Replikat.«

»Das ist richtig«, warf Will ungeduldig ein, »aber wir haben bereits darüber gesprochen, dass es Probleme geben würde, wenn Jesse als er selbst auftritt. Erstens wird es Fragen zu etwaiger Totenbeschwörung aufwerfen, und zweitens war Jesse, als der Rat das letzte Mal von ihm gehört hat, ein Leichnam, von dem ein Dämon Besitz ergriffen hatte, um Schattenjäger zu ermorden.«

Jesse senkte den Blick und betrachtete seine Hände. Die Voyance -Rune, die einst Elias Carstairs gehört hatte. Er schob seine linke Hand hinter den Rücken, als könnte er ihren Anblick kaum ertragen.

»Ja, das haben wir alles besprochen«, sagte Malcolm barsch. »Ich schlage auch nicht vor, dass er als Jesse Blackthorn auftritt. Aber: Wie viele Leute haben ihn gesehen, nachdem er besessen war – also tatsächlich so, wie er jetzt ist?«

Einen Moment herrschte Stille. Dann meldete James sich zu Wort: »Lucie natürlich. Ich. Matthew, Cordelia … die Brüder der Stille, die seinen Körper vorbereitet haben …«

»Die meisten Mitglieder der Brigade haben gehört, was passiert ist«, sagte Malcolm. »Aber sie haben Jesse nicht gesehen

»Nein«, bestätigte Will. »Sie haben ihn nicht gesehen.«

»Ihr müsst verstehen, dass ich Verbindungen zur Familie Blackthorn habe, die keiner von euch teilt«, sagte Malcolm. »Ich war vor hundert Jahren ihr Mündel, der Pflegesohn von Felix und Adelaide Blackthorn.«

»Sie haben dich großgezogen?«, fragte James.

Malcolm presste die Lippen zusammen. »So würde ich es nicht nennen. Sie haben mich als ihr Eigentum betrachtet. Und für das Privileg, von ihnen ernährt, gekleidet und beherbergt zu werden, war ich verpflichtet, auf ihren Befehl Magie zu betreiben.«

»Manche Schattenjäger waren schon immer Abschaum. Meine Familie weiß das aus eigener Erfahrung«, knurrte Will.

Malcolm winkte ab. »Ich mache nicht die Nephilim im Allgemeinen verantwortlich für die Taten der Blackthorns. Sie sind die Einzigen, die für diese Taten zur Verantwortung gezogen werden müssten. Für diese Diskussion hier ist allerdings nur die Tatsache von Bedeutung, dass Felix und Adelaide vier Kinder hatten: Annabel, Abner, Jerome und Ezekiel.«

»Was für fürchterliche Namen sie früher hatten«, murmelte Lucie. »Einfach schrecklich.«

»Die Kinder hatten … eine andere Einstellung als ihre Eltern, was die Behandlung von Schattenweltlern anging«, fuhr Malcolm fort. »Insbesondere Ezekiel fand ihren Fanatismus und ihre Grausamkeit genauso widerwärtig wie ich. Nachdem er volljährig geworden war, hat er mit seiner Familie gebrochen und ist weggegangen. In der Stadt der Stille gibt es keine Aufzeichnungen darüber, dass Ezekiel Kinder hinterlassen hat, aber ich weiß, dass das nicht stimmt.«

Jesse hob den Kopf.

»Zufälligerweise weiß ich, dass Ezekiel sehr wohl Kinder hatte«, sagte Malcolm. »Er ist nach Amerika ausgewandert – damals noch eine junge Nation, in der es nur sehr wenige Schattenjäger gab – und hat eine irdische Frau geheiratet. Die beiden haben ihre Kinder als Irdische aufwachsen lassen. Aber natürlich hat Ezekiel sein Nephilimblut an sie weitergegeben, und seine Nachkommen sind Schattenjäger, wie jeder von euch.

Deshalb schlage ich vor, dass sich Jesse als einer von Ezekiels Enkeln ausgibt, der zu den Nephilim zurückgekehrt ist, um seine Verwandten ausfindig zu machen. Der, nachdem er die Wahrheit über seine Abstammung erfahren hatte, Schattenjäger werden wollte und deshalb Will im Institut aufgesucht hat. Schließlich ist Wills Geschichte nicht unähnlich.«

Das stimmte allerdings, dachte Lucie. Ihr Vater hatte sich erst für einen Irdischen gehalten. Und nachdem er die Wahrheit erfahren hatte, war er zu Fuß den ganzen Weg von Wales nach London gegangen, um sich der Brigade anzuschließen. Er war damals erst zwölf Jahre alt gewesen. »Ein ausgezeichneter Plan«, sagte sie, obwohl Will und Magnus noch immer eine zweifelnde Miene zogen. »Wir werden Jesse in Hezekiah Blackthorn umbenennen.«

»Das werden wir nicht«, sagte Jesse.

»Was ist mit ›Cornelius‹?«, fragte James. »Cornelius hat mir schon immer gefallen.

»Auf gar keinen Fall«, widersprach Jesse.

»Es sollte ein Name mit einem J am Anfang sein«, sagte Will und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ein Name, den Jesse sich leicht merken und auf den er reagieren kann. Jeremy zum Beispiel.«

»Dann bist du mit Malcolm einer Meinung?«, fragte Magnus. »Das ist unser Plan? Aus Jesse wird Jeremy?«

»Hast du einen besseren Vorschlag?« Will wirkte müde. »Etwas anderes, als Jesse auf sich selbst gestellt in die Welt hinauszuschicken? Im Institut können wir ihn beschützen. Schließlich ist er ein Schattenjäger. Er ist einer von uns.«

Magnus nickte nachdenklich.

»Können wir wenigstens den Lightwoods die Wahrheit sagen?«, fragte James. »Gabriel und Gideon, Sophie und Cecily? Immerhin sind sie Jesses Familie. Und er kennt sie nicht einmal.«

»Und meiner Schwester«, sagte Jesse. »Grace muss die Wahrheit erfahren.«

Lucie sah, wie sich James’ Gesichtszüge verhärteten.

»Natürlich«, versicherte Will. »Nur, Jesse … Ich weiß nicht, ob man es dir schon erzählt hat, aber …«

»Grace ist in der Stadt der Stille«, sagte James emotionslos. »In der Obhut der Stillen Brüder.«

»Nachdem Grace herausgefunden hatte, was eure Mutter dir angetan hat, hat sie sich aus eigenem Antrieb dorthin begeben«, fügte Will schnell hinzu. »Die Brüder der Stille stellen sicher, dass sie nicht auf ähnliche Weise durch Schwarze Magie beeinflusst wurde.«

Jesse starrte ihn fassungslos an. »In der Stadt der Stille? Sie muss schreckliche Angst haben. Ich will zu ihr.« Lucie spürte, dass er sich bemühte, ruhiger zu wirken, als er eigentlich war. »Ich weiß, dass die Brüder der Stille auch Schattenjäger sind … aber ihr müsst verstehen, dass unsere Mutter uns in dem Glauben erzogen hat, sie wären Teufel.«

»Ich bin mir sicher, dass sich ein Besuch arrangieren lässt«, sagte Will. »Und was die Vorstellung angeht, die Brüder der Stille wären Teufel: Wenn ein Bruder der Stille deine Schutzzauber durchgeführt hätte und nicht Emmanuel Gast, dann hätte man dir erst gar nicht so viel Leid antun können.«

»Seine Schutzzauber!« Lucie setzte sich ruckartig auf. »Sie müssen erneuert werden. Bis dahin läuft er Gefahr, dass Dämonen von ihm Besitz ergreifen.«

»Ich werde Jem darum bitten«, sagte Will. Lucie sah, wie ein seltsamer Ausdruck über James’ Gesicht huschte. »Wir können diese Täuschung nicht ohne Mitwirkung der Brüder bewerkstelligen. Ich werde sie darüber in Kenntnis setzen.«

»Malcolm, hat außer dir noch jemand Zugang zu den Informationen über den amerikanischen Zweig der Blackthorns?«, fragte Magnus. »Falls jemand Verdacht schöpft …«

»Wir sollten diesen Plan gründlich ausarbeiten«, warf James ein. »Wir sollten uns hinsetzen und uns alle Einwände und alle Fragen überlegen, die die Leute zu Jesses Geschichte haben könnten, denn wir brauchen passende Antworten. Die Täuschung muss perfekt sein, ohne Schwachstellen.«

Der Vorschlag löste eine Woge der Zustimmung aus. Nur Jesse beteiligte sich nicht daran. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, sagte er: »Danke. Danke, dass ihr das für mich tut.«

Magnus hob ein unsichtbares Glas in Jesses Richtung. »Jeremy Blackthorn! Willkommen bei der Londoner Brigade.«

An diesem Abend zog Cordelia ihr rotes Samtkleid und den Umhang mit Pelzbesatz an, dazu ein Paar lange Abendhandschuhe aus Seide. Anschließend bestieg sie mit Matthew einen Fiacre , der sie nach Montmartre bringen würde. Die Kutsche setzte sich in Gang, und Paris glitt an den Fenstern vorbei. Sie fuhren durch die Rue de la Paix, wo das Licht der Schaufenster in der Dunkelheit eine lange Reihe leuchtender Vierecke bildete.

Matthew hatte seine Weste und Gamaschen farblich passend zu Cordelias scharlachrotem Samtkleid ausgewählt, und jedes Mal, wenn die Kutsche unter dem Licht einer Gaslaterne hindurchrollte, funkelten sie wie Rubine. Er trug schwarze Handschuhe, und seine Augen schimmerten sehr dunkel, während er Cordelia betrachtete. »Es gibt noch andere Etablissements, die wir erkunden könnten«, sagte er, als die Kutsche an der Kirche Sainte-Trinité mit ihrer großen Fensterrose vorbeirumpelte. »Da wäre Le Rat Mort …«

Cordelia zog ein belustigtes Gesicht. »Die tote Ratte?«

»In der Tat. Benannt nach einem Nagetier, das getötet wurde, weil es die Kunden gestört hat. Der mumifizierte Leichnam ist dort noch immer zu sehen.« Er grinste. »Ein beliebter Ort, um morgens um vier Hummer zu essen.«

»Natürlich können wir dort hingehen – nachdem wir im L’Enfer waren.« Cordelia hob das Kinn. »Ich bin fest entschlossen, Matthew.«

»Ich verstehe.« Sein Tonfall klang gelassen. »Wir alle haben jemanden, mit dem wir um jeden Preis in Kontakt treten wollen. Einige sind durch den Tod von uns getrennt, andere durch ihre Weigerung, uns zuzuhören, oder durch unsere Unfähigkeit zu sprechen.«

Impulsiv nahm Cordelia seine Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. Seine schwarzen Handschuhe bildeten einen scharfen Kontrast zu ihren scharlachroten. Schwarz und rot, wie die Figuren auf einem Schachbrett. »Matthew, wenn wir nach London zurückkehren – denn eines Tages werden wir zurückfahren –, dann musst du mit deinen Eltern reden. Sie werden dir verzeihen. Ihr seid eine Familie.«

Seine Augen wirkten eher schwarz als grün. »Verzeihst du deinem Vater denn?«

Die Frage schmerzte. »Er hat mich nie um Verzeihung gebeten«, sagte sie. »Vielleicht, wenn er es getan hätte … Und vielleicht will ich ja genau das hören … vielleicht ist das der Grund, weshalb ich wünschte, noch ein einziges Mal mit ihm sprechen zu können. Denn ich wünschte wirklich, ich könnte ihm verzeihen. Verbitterung ist eine schwere Last.«

Matthew drückte ihre Hand noch fester. »Und ich wünschte, ich könnte dir diese Last abnehmen.«

»Du trägst schon genug.« Die Kutsche wurde langsamer und kam vor dem Varieté zum Stehen. Licht strömte aus den offenen Türen im Maul des Dämons. Cordelia drückte kurz Matthews Hand und gab sie dann frei. Sie waren da.

Vor dem Eingang des Varietétheaters stand derselbe bärtige, breitschultrige Türsteher wie am Abend zuvor. Cordelia steuerte auf ihn zu, und Matthew folgte mit ein paar Schritten Abstand, da er noch den Fahrer bezahlt hatte. Als Cordelia den Eingang erreichte, sah sie, wie der Türsteher den Kopf schüttelte.

»Du hast hier keinen Zutritt«, sagte er mit starkem Akzent auf Englisch. »Paladin.«