8

Gegen allen Seelenfrieden

Ein für alle Mal sei’s gesagt: Ich wusste oft, wo nicht immer, zu meinem Kummer, dass ich sie gegen alle Vernunft, alle Aussichten, allen Seelenfrieden, alle Hoffnung, alles Glück, gegen jede erdenkliche Entmutigung liebte. Und ein für alle Mal: Ich liebte sie um nichts weniger, weil ich dies wusste.

Charles Dickens, »Große Erwartungen«

Ariadne war noch nie zuvor in einem fremden Bett aufgewacht. Während sie sich den Schlaf aus den Augen blinzelte, fragte sie sich, ob es immer so seltsam war. Sie fühlte sich ein wenig orientierungslos – zunächst einmal, weil die Strahlen des Sonnenlichts in anderen Winkeln und Schattierungen durchs Fenster hereinfielen als in ihrem eigenen Zimmer. Gleich darauf wurde ihr klar, dass sie sich in Annas Schlafzimmer befand, und sie gestattete sich, für einen Moment einfach im Hier und Jetzt zu sein: Sie schlief dort, wo Anna sonst schlief, wo Anna jede Nacht ihren Kopf aufs Kissen legte, wo sie träumte. Ariadne empfand eine Art intimer Distanz – als wären Anna und sie zwei Hände, die sich von gegenüberliegenden Seiten an dieselbe Glasscheibe drückten. Die Erinnerung an ihre miteinander verschränkten Hände in der Flüsterkammer kehrte zurück, an Anna, die langsam Ariadnes Haarschleife um ihre Finger wickelte …

Doch dann brach die Realität herein, und Ariadne tadelte sich dafür, dass sie sich so viele romantische Gefühle erlaubt hatte. Allerdings war es nur deshalb dazu gekommen, weil sie gerade erst aufgewacht war, redete sie sich ein.

Anna hatte der Liebe abgeschworen, hatte sie gesagt, und Ariadne musste ihr glauben. Um sich zu schützen, hatte Anna einen Teil von sich abgeschottet, und Ariadne konnte diesen Teil nicht retten, konnte ihn nicht wieder zum Leben erwecken.

Das Wasser im Krug auf dem Waschtisch war mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Hastig wusch Ariadne sich das Gesicht, flocht ihre Haare zu einem Zopf und zog das Kleid an, das sie schon bei ihrer Ankunft getragen hatte. Es war zerknittert und nicht mehr frisch, doch sie hatte keine saubere Kleidung mitgebracht, nur ein paar persönliche Dinge. Sie würde neue Sachen kaufen müssen.

Kurz darauf betrat sie vorsichtig das Wohnzimmer. Sie wollte Anna nicht wecken, falls sie noch schlief. Allerdings musste sie feststellen, dass Anna keineswegs mehr schlief und noch dazu Gesellschaft hatte. Am Frühstückstisch saßen Annas Bruder Christopher und – ausgerechnet – Eugenia Lightwood. Die drei schienen ihr Frühstück fast beendet zu haben. Eugenia, die Ariadne zwar sympathisch fand, aber nicht unbedingt zu den Leuten zählte, denen sie sich anvertrauen würde, winkte ihr zu und lächelte. Was auch immer Anna ihr über die Umstände von Ariadnes Anwesenheit erzählt haben mochte, es schien sie nicht besonders zu kümmern.

»Ah, Ariadne! Ich wollte dich nicht wecken«, sagte Anna gut gelaunt. »Willst du etwas frühstücken? Leider hab ich nur Tee und Toast. Christopher, mach Platz!«

Christopher kam der Aufforderung pflichtbewusst nach und verstreute jede Menge Krümel um sich, während er auf dem Polstersofa, das man als Sitzgelegenheit an den Tisch gezogen hatte, einen Platz weiterrutschte. Ariadne ließ sich neben ihm nieder, nahm eine Toastscheibe aus dem Toastständer und bestrich sie mit Butter. Anna schenkte ihr mit freundlicher Miene eine Tasse Tee ein.

»Ich habe noch nie verstanden, wozu Toastständer gut sein sollen«, murmelte Eugenia. »Sie sorgen nur dafür, dass der Toast so schnell wie möglich kalt wird.«

»Anna«, wandte Christopher sich an seine Schwester, »ich habe in der letzten Zeit an etwas gearbeitet und … Na ja, falls du einverstanden bist, würde ich gern ein paar kleine Runen in den Boden deines Teekessels ritzen, bevor du ihn auf den Herd stellst, um …«

»Nein, Christopher«, erwiderte Anna und tätschelte ihm die Schulter. »Ariadne, wie du siehst, habe ich ein Team für unsere Mission zusammengestellt.«

Ariadne blinzelte. »Welche Mission?«

»Natürlich die Mission, deine Sachen in deinem Elternhaus zu packen und sie abzutransportieren.«

Erneut blinzelte Ariadne. »Das machen wir heute

»Es ist so aufregend«, warf Eugenia ein, und ihre dunklen Augen funkelten. »Für solche Missionen bin ich immer zu haben.«

»Deine Mutter wird, wie wir alle wissen, über den Wegzug ihrer einzigen Tochter sehr bestürzt sein«, sagte Anna. »Deshalb werden wir mitkommen, um den Einschnitt ein wenig abzumildern. Eugenia genießt ja seit jeher das Vertrauen von Mrs Bridgestock …«

Eugenia legte sich eine Hand auf die Brust und verbeugte sich.

»… und wird sie beruhigen. Ich dagegen fungiere als destabilisierender Faktor und werde deine Mutter aus dem Konzept bringen, damit sie nicht in Tränen ausbrechen oder in Erinnerungen an deine Kindheit schwelgen kann. Oder beides.«

»Beides ist wahrscheinlich«, seufzte Ariadne. »Und Christopher?«

»Christopher bietet die Sicherheit einer vertrauenswürdigen, männlichen Präsenz …«

»Meine Rede!«, rief Christopher erfreut.

»… aber vor allem ist er mein kleiner Bruder und muss tun, was ich ihm sage«, beendete Anna ihren Satz.

Nachdenklich biss Ariadne ein Stückchen Toast ab. Der Plan war wirklich raffiniert. Ihre Mutter, stets darauf bedacht, die Etikette zu wahren, würde gegenüber unangemeldeten Besuchern ein Höchstmaß an Höflichkeit an den Tag legen. Selbst wenn sie bemerken sollte, dass Ariadne ihre Sachen aus dem Haus brachte, würden die versammelten Lightwoods sie so in Atem halten, dass sie niemals so unhöflich wäre, in der Gegenwart von Gästen eine Szene zu machen.

Der andere raffinierte Aspekt des Plans bestand darin, dass Anna und sie nicht über die Tatsache nachdenken mussten, dass Ariadne in Annas Bett aufgewacht war – oder welche Gefühle sie diesbezüglich hatten.

»Leider werden wir uns ziemlich beeilen müssen«, sagte Christopher. »Wir drei werden am Vormittag im Institut erwartet.«

Eugenia verdrehte die Augen. »Onkel Will will nur Aufgaben für die Weihnachtsfeier verteilen.«

»Soll die noch immer stattfinden?«, fragte Anna überrascht. »Trotz allem, was zurzeit los ist?«

»Nichts kann die Weihnachtsfeier der Herondales stoppen«, sagte Christopher. »Sogar ein Höllenfürst würde angesichts von Onkel Wills Talent zum Feiern das Weite suchen. Davon abgesehen … es ist doch gut, wenn es etwas gibt, auf das sich alle freuen können, oder?«

Ariadne fragte sich unwillkürlich, wie Eugenia darüber dachte. Im Sommer war ihre Schwester Barbara während einer Feier des Instituts zusammengebrochen und wenig später – durch ein Dämonengift – gestorben.

Falls Eugenia daran dachte, ließ sie es sich jedoch nicht anmerken. Den ganzen Weg von der Wohnung hinunter zur Kutsche der Lightwoods wirkte sie beschwingt und entschlossen.

Erst als Ariadne in der Droschke saß, die rüttelnd durch die Percy Street in Richtung Cavendish Square fuhr, wurde ihr klar: Wenn sie ihre Sachen heute holte, konnte sie ihr Gepäck nirgendwo anders unterbringen als in Annas Wohnung. Aber das musste Anna ja ebenfalls aufgefallen sein, oder? Ariadne versuchte, Annas Aufmerksamkeit zu erregen. Doch sie war mit Eugenia in ein Gespräch über verschiedene Stadtteile vertieft, in denen Ariadne möglicherweise eine geeignete Wohnung für eine alleinstehende junge Frau finden konnte.

Anna rechnete also nicht damit, dass Ariadne ihre Sachen lange bei ihr unterstellen würde. Und bestimmt nicht so lange, bis die Situation unangenehm wurde. Obwohl Anna durchaus nicht den Eindruck machte, als wäre ihr das Ganze unangenehm: Sie war so schön und lebhaft wie immer. Außerdem trug sie eine spektakuläre Weste, die rosa und grün gestreift war, wie Zuckerstangen. Bestimmt hatte sie sie aus Matthews Garderobe mitgehen lassen. Annas Augen schimmerten so dunkelblau wie Stiefmütterchen. Und bald wirst du dir noch einreden, dass ihr Lachen wie Engelsgesang klingt, ermahnte sich Ariadne. Sei nicht so sentimental!

Kurz darauf erreichten sie das Haus der Bridgestocks. An der Haustür zögerte Ariadne und dachte an tausend Dinge, die bei ihrem Plan schiefgehen könnten. Anna dagegen sah sie erwartungsvoll an und hatte offenbar vollstes Vertrauen in Ariadnes Fähigkeit, mit der Situation fertigzuwerden. Dieser Blick bewirkte, dass Ariadne die Schultern straffte und ihre Unsicherheit verflog. Sie setzte ein Lächeln auf, öffnete mit ihrem Schlüssel die Tür, betrat die Eingangshalle und rief mit künstlicher Munterkeit: »Mutter, sieh nur, wen ich heute Morgen zufällig getroffen habe!«

Ihre Mutter erschien am oberen Ende der Treppe. Flora trug dasselbe Kleid wie am Vortag und hatte eindeutig eine schlaflose Nacht hinter sich. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten, und ihre Züge wirkten angespannt. Als ihr Blick auf ihre Tochter fiel, glaubte Ariadne, einen Hauch von Erleichterung in ihrem Gesicht zu sehen.

Ist es möglich, dass sie sich meinetwegen Sorgen gemacht hat?, fragte Ariadne sich. Doch im nächsten Moment hatte ihre Mutter Anna, Christopher und Eugenia erblickt, die hinter Ariadne hereindrängten, und zwang sich zu einem Lächeln.

»Eugenia, Liebes«, sagte sie herzlich und kam die Treppe herunter. »Und der junge Mr Lightwood. Und Anna natürlich …« Bildete Ariadne es sich nur ein, oder lag in dem Blick, den Flora Bridgestock Anna zuwarf, eine gewisse Kälte? »Wie geht es euren lieben Eltern?«

Sofort begann Eugenia in aller Ausführlichkeit zu berichten, dass Gideon und Sophie nach einem neuen Hausmädchen suchten. Denn wie sich herausgestellt hatte, war ihre Vorgängerin mit Omnibussen kreuz und quer durch die ganze Stadt gefahren, während eine Gruppe lokaler Wichtel die gesamte Hausarbeit erledigt hatte.

Ariadne hörte, wie Flora »Wie furchtbar!« und »Welch schwierige Zeiten!« rief, während Eugenia sie geschickt in den Salon lotste, dicht gefolgt von Anna und Christopher. Offensichtlich hatte sie Eugenia unterschätzt, überlegte Ariadne. Eugenia würde eine ausgezeichnete Spionin abgeben.

Nachdem Ariadne einen schnellen Blick mit Anna getauscht hatte, hastete sie die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer angekommen, holte sie einen großen Reisekoffer und füllte ihn mit ihren Habseligkeiten. Wie schwierig es doch war, so schnell ein ganzes Leben einzupacken! Natürlich Kleidung und Bücher, aber auch alte Kostbarkeiten: ein Sari, der ihrer leiblichen Mutter gehört hatte, und ein Pata von ihrem leiblichen Vater. Außerdem eine Puppe – ein Geschenk ihrer Adoptiveltern –, die jetzt allerdings nur noch ein Knopfauge besaß.

Aus dem Erdgeschoss drang Annas laute Stimme zu ihr hoch: »Christopher hat uns den ganzen Morgen über mit Berichten von seinen neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen unterhalten. Christopher, erzähl Mrs Bridgestock doch einmal, was du uns vorhin erläutert hast!«

Das konnte nur bedeuten, dass Flora langsam unruhig wurde. Also blieb ihr nur noch wenig Zeit.

Sie hatte gerade ihre Montur zusammengefaltet und das Pata auf den Kleiderstapel in ihrem Koffer gelegt, als Anna an der Tür erschien. »Fertig?«, fragte sie. »Denn deine Mutter wird bald versuchen, Christophers Redefluss zu unterbrechen.«

Ariadne stand auf und wischte sich die staubigen Hände am Rock ab. Ganz bewusst verzichtete sie darauf, noch einen letzten Blick durch das Zimmer zu werfen – zu den vertrauten Möbeln oder der Wolldecke, die ihre Mutter für sie gestrickt hatte, bevor sie aus Indien hier angekommen war. »Ich bin so weit.«

Gemeinsam trugen Anna und Ariadne den Koffer hinunter zur Haustür, wobei es ihnen sogar gelang, nicht an jeder Stufe anzustoßen. Als sie an der Tür zum Salon vorbeikamen, bemerkte Ariadne, wie ihre Mutter, die auf dem Sofa saß, den Blick von Christopher abwandte und in ihre Richtung schaute. Floras Gesicht wirkte blass und angespannt. Ariadne musste gegen das Verlangen ankämpfen, zu ihr zu gehen, sie zu fragen, wie sie sich fühlte, und ihr eine Tasse Tee zu holen, so wie sie es sonst in schwierigen Zeiten tat.

Der Fahrer der Droschke lief die Stufen der Eingangstreppe hinauf, um den Koffer entgegenzunehmen. Als Ariadne ins Haus zurückkehrte, konnte sie schon von Weitem hören, wie Eugenia ihre Mutter mit einer weiteren Dienstbotenanekdote beglückte. Unwillkürlich fragte sie sich, ob es den Lightwoods vielleicht gelingen würde, ihre Mutter noch so lange abzulenken, bis sie zum Wintergarten flitzen und sich Winstons Käfig schnappen konnte. Genau genommen gehörte Winston ihr. Schließlich war er ein Geschenk ihrer Eltern. Anna hatte zwar nicht ausdrücklich zugestimmt , einen Papagei in ihrer kleinen Wohnung aufzunehmen. Aber Ariadne – und damit auch Winston – würden dort ja auch nur so lange bleiben, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hatte.

Sie wollte gerade loslaufen, um Winston zu holen, als von draußen ein lautes Kreischen ertönte. Anna stieß einen scharfen Warnruf aus. Ariadne wirbelte herum und sah, wie eine Hansom-Kutsche wie vom Teufel gejagt heranraste und gefährlich nah an der Droschke der Lightwoods zum Stehen kam. Die Tür der Kutsche schwang auf und spuckte einen Mann in einem schmutzigen Reisemantel aus, auf dessen Kopf ein zerknickter Hut saß. Er warf dem Kutscher eine Handvoll Münzen zu und stürmte dann direkt auf die Haustür der Bridgestocks zu.

Ariadne erkannte zwar weder Mantel noch Hut oder den schwankenden, unsicheren Gang, aber der Mann war ihr vertraut – obwohl sein Gesicht von dichten, weißen Bartstoppeln bedeckt war und er um Jahre gealtert zu sein schien.

»Vater?«, flüsterte sie. Eigentlich hatte sie gar nichts sagen wollen, aber das Wort war ihr wie von selbst über die Lippen gekommen.

Anna warf ihr einen überraschten Blick zu. Offensichtlich hatte auch sie den Inquisitor nicht erkannt.

»Maurice?« Ariadnes Mutter war an die Tür geeilt, dicht gefolgt von Eugenia und Christopher, deren Gesichter Überraschung und Sorge widerspiegelten. Flora griff nach Ariadnes Hand und drückte sie kurz, bevor sie die Stufen hinunterlief und die Arme um ihren Mann schlang. Der stand jedoch stocksteif da, wie ein knorriger, alter Baum, und rührte sich auch nicht, als seine Frau schluchzte: »Was ist passiert ? Wo bist du gewesen? Warum hast du nichts von dir hören lassen …?«

»Flora«, sagte er, und seine Stimme klang rau, als hätte er sie durch Rufen oder Schreien überanstrengt. »Oh, Flora. Es ist schlimmer, als du dir vorstellen kannst. Es ist so viel schlimmer, als wir alle es uns vorgestellt haben.«

Als Cordelia am nächsten Morgen aufwachte, bestand ihre größte Angst darin, beim Verlassen ihres Zimmers entweder James oder Matthew zu begegnen. Deshalb zögerte sie ein mögliches Zusammentreffen so lange wie möglich hinaus, indem sie sich übertrieben sorgfältig anzog – obwohl sie am Einfallswinkel der Sonnenstrahlen, die durch die Fenster hereindrangen, erkennen konnte, dass es bereits später Vormittag war.

Sie hatte schlecht geschlafen. Jedes Mal, wenn sie die Augen geschlossen hatte, war James’ Gesicht vor ihr aufgetaucht, und sie hatte seine Worte gehört: Ich habe mich bezüglich meiner Ehe getäuscht. Ich habe nicht geglaubt, dass sie real ist. Aber sie war real. Das Realste in meinem Leben.

Er hatte gesagt, dass er sie liebte.

Diese Worte waren alles, was sie je hatte hören wollen. Oder zumindest hatte sie das geglaubt. Doch jetzt wurde ihr klar, dass seine Liebeserklärung sie tief in ihrem Innersten nicht überzeugte. Sie wusste einfach nicht, was ihn dazu bewegt hatte. Vielleicht Mitleid. Oder sentimentale Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben in der Curzon Street. Zugegeben, er hatte gesagt, er wäre glücklich gewesen. Und sie hatte nie den Eindruck gehabt, dass Grace ihn glücklich machte, sondern immer nur unglücklich. Dennoch schien er dieses Unglück genossen zu haben. Und Gefühle äußerten sich durch Taten. Sie glaubte ja, dass James sie mochte, vielleicht sogar begehrte. Aber wenn er sie geliebt hätte …

Dann hätte er Grace weggeschickt.

Nachdem sie ihre Stiefel geschnürt hatte, ging sie hinüber ins Wohnzimmer und fand es leer vor. Die Tür zu Matthews Zimmer war geschlossen, und James ließ sich nirgends finden.

Die grüne Absinthflasche stand noch immer auf dem Tisch. Cordelia dachte an Matthew. Dachte an seinen Mund auf ihren Lippen und daran, wie blass er geworden war bei der Frage, ob James in sein Zimmer gegangen wäre.

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen trat Cordelia hinaus in den blau-goldenen Flur. Gleich darauf entdeckte sie den Hoteldiener, der gerade aus einem anderen Zimmer kam. »Monsieur!« , rief sie und eilte auf ihn zu. Zumindest konnte sie versuchen, etwas zu essen, bevor sie sich auf die Reise machen musste. »Ich wollte nach dem Frühstück fragen …«

»Ah, Madame «, begrüßte der Diener sie. »Bitte bemühen Sie sich nicht. Ihr Begleiter hat bereits Frühstück bestellt. Es müsste jeden Moment serviert werden.«

Cordelia war sich nicht sicher, welchen Begleiter er meinte: James oder Matthew? Eigentlich wollte sie mit keinem der beiden frühstücken – und definitiv nicht mit beiden zusammen. Aber es ging vermutlich zu weit, das dem Hoteldiener zu erklären. Sie dankte dem Mann und wollte sich gerade umdrehen, als sie zögerte. »Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen? Haben Sie gestern Abend eine Flasche Absinth in unsere Suite gebracht?«, erkundigte sie sich.

»Non, Madame.« Auf dem Gesicht des Dieners spiegelte sich Verwirrung. »Ich habe gestern Morgen eine Flasche gebracht. Um sechs Uhr.«

Jetzt war Cordelia diejenige, die eine verwunderte Miene zog. »Und weshalb?«

Der Diener wirkte noch überraschter. »Ich bringe jeden Morgen kurz nach Sonnenaufgang eine Flasche. Auf Wunsch von Monsieur Fairchild. Likör oder Absinth.« Er zuckte die Schultern. »Bei seinen früheren Aufenthalten wollte er sie immer abends, dieses Mal jedoch früh am Morgen. Für mich wäre es egal, wann ich sie bringe, habe ich ihm gesagt. Also jeden Morgen um sechs.«

Cordelia presste mühsam ein »Danke« hervor, machte auf dem Absatz kehrt und stolperte durch den Flur, während der Diener ihr hinterherstarrte.

Zurück in der Suite lehnte sie sich an die Wand und schloss die Augen. Matthew hatte sie in der Tat belogen. Er hatte geschworen, nicht zu trinken, und er hatte auch keinen Alkohol angerührt … zumindest nicht in ihrer Gegenwart. Aber der Hoteldiener hatte ihm jeden Morgen eine neue Flasche gebracht. Hatte er also die ganze Zeit getrunken, sobald sie außer Sichtweite gewesen war? Jedenfalls sprach alles dafür.

Eine Lüge zu viel, dachte Cordelia. Jetzt war sie wirklich unwiderruflich am Boden zerstört. Sie war immer wieder belogen worden, von allen, die ihr etwas bedeuteten. Ihre Familie hatte ihr Lügen über die Trinksucht ihres Vaters aufgetischt. James hatte gelogen – was Grace, was sie selbst, was die Voraussetzungen ihrer Ehe betraf. Lucie, die eigentlich ihre beste Freundin sein sollte und die Cordelia besser zu kennen glaubte als jeden anderen Menschen, hatte ihr ihre Beziehung zu Jesse Blackthorn verheimlicht und war aus London geflohen, ohne Cordelia zu benachrichtigen oder zu warnen.

Aber von Matthew hatte Cordelia angenommen, dass er anders wäre. Gerade weil er an nichts glaubte, weil er die Moral, wie sie die meisten Leute definierten, die Tugend und die hohe Gesinnung schon abgeschrieben hatte. Ihn interessierten nur Schönheit und Kunst und der tiefere Sinn des Lebens. Genau wie die Bohemiens. Und deshalb hatte Cordelia geglaubt, dass er sie nicht belügen würde – und dass er es ihr einfach sagen würde , wenn er trinken wollte.

Stattdessen hatte er ihr in die Augen gesehen und versprochen, nur wenig zu trinken, wenn sie mit ihm nach Paris käme. Er hatte sie sogar im Glauben gelassen, er hätte keinen einzigen Tropfen angerührt. Und dabei hatte der Hoteldiener ihm seit dem Tag ihrer Ankunft täglich eine Flasche Alkohol gebracht. Cordelia hatte geglaubt, selbst wenn Paris nicht ihre Rettung war, könnte die Stadt zumindest Matthews Rettung sein. Aber allem Anschein nach konnte man sich nicht ändern, indem man seinen Aufenthaltsort wechselte, sosehr man auch davon träumen mochte. Keiner von ihnen hatte seine Probleme hinter sich gelassen. Sie waren im Gepäck mitgereist.

Als James in die Suite zurückkehrte, war sie leer, als wäre noch niemand aufgewacht. Die Türen zu beiden Schlafzimmern waren geschlossen. Kopfschüttelnd ging er zu Matthews Tür und klopfte an. Als nichts passierte, klopfte er erneut, etwas fester, und wurde mit einem tiefen Stöhnen irgendwo aus den Tiefen des Raums belohnt.

»Frühstück«, rief er. Aus dem Inneren ertönte ein weiteres, noch tieferes Stöhnen. »Steh auf, Matthew!«, forderte er. Sein Tonfall klang schroffer, als er selbst erwartet hätte. »Wir müssen reden.«

Eine Serie von krachenden und polternden Geräuschen folgte. Nach etwa einer Minute riss Matthew die Tür auf und sah James blinzelnd an. Er wirkte völlig erschöpft, und James fragte sich, wie spät er letzte Nacht zurückgekommen sein mochte. Er hatte nur deshalb von Matthews Anwesenheit gewusst, weil sein zusammengeknüllter Mantel im Wohnzimmer auf dem Boden gelegen hatte, in Gesellschaft weiterer leerer Flaschen. Da James ihn vor dem Einschlafen nicht gesehen hatte, musste Matthew erst sehr spät in die Suite zurückgekehrt sein. James hatte gefühlte Stunden wach auf der Couch gelegen und in einem Zustand völliger Verzweiflung in die Dunkelheit gestarrt. Vor seiner Reise durch das Portal hatte Magnus ihm auf den Rücken geklopft und viel Glück gewünscht – doch wie sich herausstellen sollte, hätte ihm alles Glück der Welt nicht geholfen.

Innerhalb kürzester Zeit hatte er nicht nur einen, sondern gleich zwei der wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren.

Als er schließlich doch noch eingenickt war, hatte er sich unruhig auf der Couch gewälzt. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er nicht geträumt, nur eine Art durchdringendes, weißes Rauschen wahrgenommen. Seltsam, dachte James – noch seltsamer als die dunklen Träume, die Belial ihm früher geschickt hatte. Das Geräusch hatte Ähnlichkeit mit dem Rauschen des Ozeans besessen, aber zugleich unangenehm und metallisch geklungen. Ein Geräusch, das ihm das Gefühl gab, als ob sein Herz zerbrochen wäre und einen schrillen Schrei ausstoßen würde, den nur er hören konnte.

Matthew trug noch immer dieselben Sachen wie am Abend zuvor – sogar die rote Samtweste, die zur Farbe von Cordelias Kleid passte. Allerdings war seine Kleidung jetzt zerknittert und schmutzig. Im Zimmer hinter ihm herrschte absolutes Chaos: Sein Koffer war umgestürzt, sodass sämtliche Kleidungsstücke herausquollen. Überall lagen leere Teller und Flaschen herum, wie die ans Ufer der Themse gespülten Glas- und Steingutscherben.

Matthews Augen waren gerötet, seine Locken völlig zerzaust. »Ich habe geschlafen«, verkündete er, mit tonloser Stimme.

James zählte innerlich bis zehn, bevor er reagierte: »Math, wir müssen zurück nach London.«

Matthew lehnte sich an den Türrahmen. »Ah! Du und Cordelia, ihr kehrt nach London zurück? Dann wünsche ich euch eine gute Reise. Oder sollte ich sagen: Bon voyage ? Du verschwendest wirklich keine Zeit, James. Aber ich habe dir das Schlachtfeld ja sowieso überlassen, oder?« Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und blinzelte gegen seine Müdigkeit an. »Ich werde nicht mit dir um sie kämpfen«, sagte er. »Es wäre würdelos.«

Jetzt, dachte James, jetzt wäre der Zeitpunkt, an dem Christopher oder Thomas oder Anna gehen würden. Wenn Matthew in streitsüchtiger Stimmung war, was selten vorkam, dann war es im Allgemeinen am besten, ihn so lange allein zu lassen, bis er sich wieder abgeregt hatte. Aber James lief nie davor weg, ganz gleich, wie scharf Matthews Worte auch wurden.

Selbst jetzt konnte er das schwache Zittern von Matthews Händen sehen, den Schmerz in seinem Blick, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als Matthew fest in die Arme zu schließen und ihn wissen zu lassen, dass er geliebt wurde.

Aber was hätte er schon sagen können, das Matthew getröstet hätte? Cordelia liebt dich? Drei Worte, die sich anfühlten, als würde ihm ein spitzer Stachel ins Herz gerammt. Drei Worte, von denen er nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob sie der Wahrheit entsprachen. Denn er wusste nicht, was Cordelia empfand.

James rieb sich die Schläfen, die zu pochen begonnen hatten. »So ist es nicht, Math«, sagte er. »Es gibt kein Schlachtfeld. Wenn ich vor letzter Woche auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte, was du für Cordelia empfindest …«

»Was dann?«, unterbrach Matthew ihn barsch. »Dann hättest du was ? Sie nicht geheiratet? Grace geheiratet? Denn genau das versteh ich nicht, Jamie: Du liebst Grace schon seit Jahren. Du hast sie geliebt, als du dachtest, es wäre hoffnungslos. Hast sie geliebt … wie hat Dickens es formuliert? Gegen alle Vernunft, alle Aussichten, allen Seelenfrieden, alle Hoffnung, alles Glück, gegen jede erdenkliche Entmutigung. «

»Ich habe sie nie geliebt«, entgegnete James. »Ich habe nur gedacht, dass ich sie lieben würde.«

Matthew stützte sich schwer gegen den Türrahmen. »Ich wünschte, ich könnte das glauben«, sagte er. »Denn für mich sieht es so aus, als hättest du in dem Moment, als Cordelia dich verlassen hat, beschlossen, dass du es nicht erträgst, verlassen zu werden. Vermutlich hat das noch niemand zuvor getan, oder? Alle haben dich immer geliebt.« Sein Tonfall klang erstaunlich sachlich. »Außer vielleicht Grace. Vielleicht war das sogar der Grund, weshalb du sie wolltest. Ich glaube nicht, dass sie dazu imstande ist, überhaupt irgendjemanden zu lieben.«

» Matthew« James konnte das Gewicht des silbernen Armbands spüren, als würde es noch immer sein Handgelenk umschließen. Obwohl er genau wusste, dass es zerbrochen in der Curzon Street lag. Er wollte protestieren, seine Unschuld erklären. Aber wie sollte er das machen, wenn er Cordelia noch nichts davon erzählt hatte? Ihr schuldete er als Erster die Wahrheit. Doch der Gedanke, es ihr zu sagen, ihr Mitleid zu erregen, war noch immer unerträglich. Lieber wollte er gehasst werden als bemitleidet – von Daisy, von Matthew. Auch wenn ihm die Vorstellung, von seinem Parabatai gehasst zu werden, Übelkeit bereitete …

Plötzlich hörte er hinter sich ein lautes Krachen, als wäre eine Lampe heruntergefallen und zu Bruch gegangen. Blitzschnell wirbelte James herum – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich in der Wohnzimmerwand ein Portal öffnete.

Magnus trat hindurch, perfekt gekleidet in einem Nadelstreifenanzug. Während er James und Matthew musterte, wischte er sich mit der Hand ein Stäubchen von der makellosen Hemdbrust.

Am anderen Ende der Suite flog die Tür auf, und Cordelia erschien, bereits in kompletter Reisegarderobe, und starrte Magnus erstaunt an. »Magnus, ich hatte nicht erwartet … Ich meine, woher um alles in der Welt wusstest du, wo wir wohnen?«

»Das liegt daran, dass er mich letzte Nacht durch das Portal geschickt hat«, erklärte James. »Ich weiß, wo Matthew zu übernachten pflegt, wenn er in Paris ist.«

Matthew zuckte die Schultern. »Wenn ich eines bin, dann vorhersehbar.«

»Und der Nachtportier dieses Hotels ist ein Hexenmeister«, warf Magnus ein. »Wer sonst hätte diese Vorhänge auswählen können?« Als niemand reagierte, schweifte sein Blick von James zu Cordelia. James konnte sich vorstellen, dass sie beide äußerst angespannt wirkten. Dann musterte er Matthew, seine zerknitterte Kleidung mit den Weinflecken.

»Aha«, sagte Magnus verdrossen. »Wie ich sehe, spielen sich hier zwischenmenschliche Dramen ab.« Er hob die Hand. »Ich weiß nicht, worum es geht, und will es auch gar nicht wissen. James, du bist letzte Nacht hier eingetroffen, richtig?«

James nickte.

»Und hast du Cordelia und Matthew schon von Lucie erzählt … und von Jesse?«

James seufzte. »Nur, dass es ihnen gut geht. Es bestand keine Gelegenheit zu weiteren Ausführungen.«

Sowohl Cordelia als auch Matthew erkundigten sich sofort nach Lucie. Erneut hob Magnus die Hand, als würde er ein widerspenstiges Orchester dirigieren. »Ihr werdet die ganze Geschichte in London hören«, sagte er. »Es ist zwingend notwendig, dass wir jetzt umgehend zurückkehren.«

»Meine Mutter.« Cordelia suchte am Türrahmen Halt. »Ist alles in Ordnung mit ihr? Ist das Baby …«

»Deiner Mutter geht es gut«, erwiderte Magnus, gar nicht mal unfreundlich. Trotzdem wirkte seine Miene grimmig. »Aber die Lage in London ist ernst und wird wahrscheinlich noch ernster werden.«

»Bedroht der nächste Höllenfürst mit Tentakeln das Institut?«, fragte Matthew müde. »Falls dem so ist, würde mein Instinkt mir raten, dass ich dieses eine Mal besser aussetze.«

Magnus warf ihm einen strengen Blick zu. »Der Inquisitor ist zurückgekehrt und hat düstere Neuigkeiten mitgebracht. Tatiana Blackthorn ist aus der Adamant-Zitadelle geflohen und hat sich mit Belial verbündet. Ihr müsst unverzüglich mit mir nach London zurückkehren. Es gibt eine Menge zu besprechen.«