Sein Blick fiel auf etwas Schwarzes: Ein großer Rabe hockte dort reglos und starrte ihn mit Augen, die wie Lampen glühten, unverwandt an. »In seiner Trauerkleidung ist er ein Wanderer, genau wie ich«, dachte Madschnun, »und unsere Herzen empfinden gewiss dasselbe.«
Nizami Ganjavi, »Layla und Madschnun«
Es überraschte Cordelia immer wieder, wie London bewölkt, sogar regnerisch, und zugleich so gleißend hell sein konnte, dass ihr die Augen brannten. Als sie mit Alastair in der Kutsche saß und ins grelle Licht des milchweißen Himmels blinzelte, musste sie an den strahlenden Sonnenschein in Paris denken. Ihre Zeit dort schien bereits in weite Ferne gerückt zu sein, wie die Erinnerung an einen Traum.
Schweigend verfolgten Cordelia und Alastair, wie der Fahrer die Kutsche durch den Verkehr von The Strand navigierte. Noch vor einem Jahr hätte Alastair sie mit Fragen bombardiert. Doch jetzt hatte er offenbar kein Problem damit abzuwarten, bis Cordelia das Wort ergriff.
»Alastair«, sagte sie, als die Kutsche auf The Mall mit ihren weißen Reihenhäusern einschwenkte. »Vermutlich hat Magnus dich gebeten, mich abzuholen?«
Alastair musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Cordelia, zieh deine Handschuhe an. Es ist kalt. Und ja, Magnus hat mir erzählt, dass du gerade via Portal zurückgekehrt wärst. Er hat gesagt, dass du nach deiner Reise erschöpft wirkst und es vielleicht zu schätzen wüsstest, von jemandem in Empfang genommen zu werden.«
»In Empfang genommen zu werden« , murmelte Cordelia. »Wie ein Gepäckstück. Übrigens habe ich keine Handschuhe dabei. Ich muss sie im Hotel vergessen haben.«
Übertrieben laut seufzend zog Alastair seine Handschuhe aus und schob sie über Cordelias Hände. Obwohl die Handschuhe an Cordelia geradezu lachhaft groß aussahen, waren sie sehr warm, zumal Alastair sie gerade erst selbst getragen hatte. Dankbar bewegte Cordelia die Finger.
»Magnus’ Nachricht hat mich überrascht«, sagte Alastair. »Ich hätte gedacht, du würdest in dein Haus in der Curzon Street zurückkehren. Vielleicht erinnerst du dich noch? Das Haus, in dem du mit James Herondale wohnst? Deinem Ehemann?«
Cordelia schaute aus dem Fenster. Rund um einen großen steinernen Triumphbogen stauten sich Kutschen, Omnibusse und andere Fahrzeuge. Der Bogen war irgendein berühmtes Monument – allerdings konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie er hieß. Über ihnen auf dem Kutschbock beschwerte sich der Fahrer lautstark über den Verkehr. »Ich habe mir Sorgen um Mâmân gemacht«, sagte Cordelia. »Ich hätte nicht wegfahren sollen, so kurz bevor das Baby kommt. Genau genommen habe ich vor, mindestens bis zu seiner Geburt in Cornwall Gardens zu bleiben.«
»Es ist bewundernswert, wie sehr du dich für deine Familie aufopferst«, entgegnete Alastair trocken. »Ich bin sicher, es hat rein gar nichts damit zu tun, dass du gerade erst mit dem Parabatai deines Mannes nach Paris durchgebrannt bist.«
Cordelia seufzte. »Ich hatte meine Gründe, Alastair.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte er und überraschte sie erneut. »Ich wünschte, du würdest mir erzählen, welche Gründe genau. Liebst du Matthew?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Cordelia. Nicht dass sie sich zu diesem Thema noch keine Gedanken gemacht hätte, doch im Moment war ihr nicht danach, mit Alastair darüber zu diskutieren.
»Liebst du James denn?«
»Na ja, wir sind verheiratet.«
»Das ist eigentlich keine richtige Antwort«, erwiderte Alastair. »Ich mag James nicht besonders«, fügte er hinzu, »aber andererseits mag ich auch Matthew nicht besonders. Wie du siehst, stecke ich diesbezüglich in einem Dilemma.«
»Ja, das muss wirklich hart für dich sein«, konterte Cordelia verärgert. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, woher du die Kraft nimmst, trotzdem weiterzuleben.«
Sie machte eine abschätzige Handbewegung, deren Wirkung allerdings dadurch beeinträchtigt wurde, dass Alastair in schallendes Gelächter ausbrach. »Tut mir leid«, sagte er. »Aber diese Handschuhe sind so riesig an dir.«
»Pah!«, sagte Cordelia missbilligend.
»Was James angeht …«
»Sind wir auf einmal die Sorte Familie, die miteinander über ihre intimen Beziehungen spricht?«, unterbrach Cordelia ihn. »Vielleicht möchtest du mir etwas über Charles erzählen?«
»Eigentlich nicht. Charles scheint sich auf dem Weg der Besserung zu befinden. Aber abgesehen davon, dass er überlebt, kümmert es mich nicht weiter, was mit ihm passiert«, sagte Alastair. »Genau genommen hat es sogar Momente gegeben, in denen mein Interesse an seinem Überleben deutlich nachließ. Er hat ständig verlangt, dass ich seine Kissen zurechtrücke. ›Und jetzt das Fußkissen , Alastair‹«, sagte Alastair mit einer piepsigen Stimme – die, wie fairerweise gesagt werden musste, nicht die geringste Ähnlichkeit mit Charles’ tatsächlicher Stimme besaß. Alastair hatte wirklich kein Talent dafür, Leute zu imitieren.
»Ich hätte nichts gegen ein Fußkissen«, wandte Cordelia ein. »Hört sich ziemlich gemütlich an.«
»Da du dich im Moment eindeutig in einem seelischen Ausnahmezustand befindest, werde ich dein Gefasel ignorieren«, erwiderte Alastair. »Hör zu, du musst mit mir nicht über deine Gefühle reden – weder was James betrifft noch Matthew, oder welchen Männer-Harem du dir auch immer zugelegt haben magst. Ich will nur wissen, ob es dir gut geht.«
»Nein, du willst wissen, ob einer von ihnen mich schlecht behandelt hat, damit du hinter ihm herjagen oder ihn zusammenbrüllen kannst«, sagte Cordelia finster.
»Ich könnte beides wollen«, bemerkte Alastair. Endlich hatten sie das Verkehrschaos hinter sich gelassen und rumpelten durch Knightsbridge, vorbei an Harrods, das in weihnachtlichem Schmuck erstrahlte, und durch Straßen, auf denen sich Händler mit ihren Karren drängten und Kastanien und heiße Pasteten verkauften.
»Ich habe mir wirklich Sorgen um Mâmân gemacht«, sagte Cordelia.
Alastairs Miene entspannte sich etwas. »Mâmân geht es gut, Layla, abgesehen von der Müdigkeit. Sie schläft sehr viel. Wenn sie wach ist, trauert sie um unseren Vater. Ich glaube, die Trauer macht sie so müde, nicht ihr Zustand.«
»Ist sie mir böse?« Cordelia war nicht klar gewesen, dass sie die Frage stellen würde, als sie ihr bereits über die Lippen gekommen war.
»Weil du nach Paris gefahren bist? Nein, überhaupt nicht. Als wir deine Nachricht bekommen haben, hat sie ziemlich gelassen reagiert. Gelassener, als ich erwartet hatte, um ehrlich zu sein. Sie meinte, wenn deine Träume dich nach Paris geführt hätten, dann wäre sie glücklich. Ich kann mich nicht erinnern, dass so etwas über meine Paris-Reisen gesagt worden wäre«, fügte Alastair hinzu. »Der Älteste zu sein, ist eine schreckliche Bürde.«
Cordelia seufzte. »Ich hätte nicht wegfahren sollen, Alastair. Ich glaube nicht, dass ich es getan hätte, wenn es nicht ihretwegen gewesen wäre. Wegen Lilith. Aber ich bin nutzlos . Ich kann niemanden beschützen. Kann mein Schwert nicht mal in die Hand nehmen.«
»Cortana.« Alastair sah sie an, mit einem seltsamen Ausdruck in den dunklen Augen. Cordelia wusste, dass sie die gleichen Augen hatte: schwarz, die Iris nur eine Nuance heller als die Pupille. Aber als sie Alastair jetzt ansah, wurde ihr bewusst, dass das Strahlen seiner Augen sein Gesicht veränderte und dessen Härte milderte. Dass seine Augen außergewöhnlich waren. Was ihre eigenen Augen anging, hatte sie so etwas nie gedacht. Vermutlich beurteilten die meisten Leute sich selbst nicht auf diese Weise. »Layla, ich muss dir etwas sagen.«
Cordelia versteifte sich. »Was ist los?«
»Ich konnte Cortana nicht im Haus behalten«, erklärte Alastair, »oder bei mir. Wegen einiger ziemlich … unerfreulicher Besucher.«
Sie fuhren jetzt am Hyde Park vorbei, ein verschwommener grüner Streifen vor Cordelias Fenster. »Dämonen?«
Alastair nickte. »Ravener«, sagte er. »Spionagedämonen. Ich wäre ja mit ihnen allein fertiggeworden, aber mit Mâmân in der Nähe … Keine Sorge«, fügte er hastig hinzu, als er ihre Miene sah. »Thomas hat mir geholfen, Cortana zu verstecken. Wo, werde ich dir nicht verraten, aber es befindet sich an einem sicheren Ort. Und seitdem hat sich kein Ravener mehr blicken lassen.«
Cordelia brannte darauf, Alastair zu fragen, wo er das Schwert versteckt hatte. Doch sie wusste, dass das nicht ging. Obwohl es albern war, fehlte Cortana ihr schrecklich. Ich habe mich derartig verändert, dass ich nicht weiß, ob Cortana mich wieder erwählen würde – selbst wenn ich nicht mehr Liliths Paladin wäre, dachte sie. Die Vorstellung war bedrückend.
»Thomas hat dir geholfen?«, fragte sie stattdessen. »Thomas Lightwood?«
»Sieh mal, wir sind da!«, verkündete Alastair fröhlich. Und noch bevor die Kutsche ganz zum Stillstand kam, stieß er die Tür auf und sprang hinaus.
»Alastair!« Cordelia folgte ihrem Bruder, der seinen Sprung offenbar unbeschadet überstanden hatte und bereits den Fahrer bezahlte.
Cordelia blickte zum Haus hinauf. Sie mochte es, mit seiner ruhigen, weißen Fassade und der glänzenden, schwarzen 102, die auf der rechten Säule prangte. Mochte die stille Londoner Straße mit dem vielen Grün. Trotzdem war es nicht ihr Zuhause , dachte sie, während sie Alastair zur Haustür folgte. Es war das Haus ihrer Mutter – eine Zuflucht, aber kein Heim. Ihr Zuhause war in der Curzon Street.
Cordelia hatte den Verdacht, dass Risa ihre Ankunft durch ein Fenster beobachtet hatte, weil sie sofort die Haustür aufriss, um sie hereinzulassen. Vorwurfsvoll zeigte sie auf Cordelias Koffer, der mitten im Eingangsbereich stand.
»Er ist plötzlich hier aufgetaucht«, klagte sie und fächelte sich mit einem Geschirrtuch Luft zu. »Von einem Moment auf den anderen – puff! Das hat mir einen gehörigen Schrecken eingejagt, kann ich euch sagen. Tekan khordam. «
»Verzeih, liebste Risa«, sagte Cordelia. »Ich bin mir sicher, dass Magnus nicht vorhatte, dich zu erschrecken.«
Risa murmelte etwas vor sich hin, während Alastair den Koffer hochhob und sich daranmachte, ihn die Treppe hinaufzuschleppen. »Was hast du in Paris gekauft?«, fragte er missbilligend. »Einen Franzosen?«
»Nicht so laut, er schläft«, erwiderte Cordelia. »Er spricht kein Englisch, kann aber ›Frère Jacques‹ singen und ausgezeichnete Crêpes suzette zubereiten.«
Alastair schnaubte. »Risa, kannst du mir helfen?«
»Nein«, sagte Risa. »Ich werde Layla jetzt zu khanoom Sona bringen. Wenn sie erst einmal ihre Tochter gesehen hat, wird es ihr wieder deutlich besser gehen.«
Cordelia schlüpfte aus ihrem Mantel und winkte Alastair noch schuldbewusst zu, bevor sie Risa durch den Korridor zum Schlafzimmer ihrer Mutter folgte. Risa legte mahnend einen Finger an die Lippen und warf einen Blick ins Zimmer. Dann schob sie Cordelia in den halbdunklen Raum und schloss die Tür hinter ihr.
Cordelia stand blinzelnd da, während ihre Augen sich langsam an den schwachen Schein des Kaminfeuers und der Nachttischlampe gewöhnten. Sona saß im Bett, einen Berg bunter Kissen im Rücken, und hielt ein Buch in den Händen. Ihr Bauch wirkte runder als vor einer Woche, als Cordelia sie zuletzt gesehen hatte. Und obwohl ihr Gesicht bleich und müde wirkte, schenkte sie Cordelia ein strahlendes Lächeln.
Cordelia wurde von Schuldgefühlen überwältigt. »Mâmân« , rief sie und eilte zum Bett, um ihre Mutter vorsichtig zu umarmen.
»Willkommen daheim«, sagte Sona und fuhr Cordelia mit der Hand durchs Haar.
»Es tut mir leid, Mâmân . Ich hätte nicht wegfahren sollen …«
»Mach dir keine Sorgen.« Sona legte das Buch beiseite. »Ich habe dir doch gesagt, dass man tun sollte, was einen glücklich macht. Das ist das Wichtigste. Also bist du nach Paris gereist. Was soll daran so schlimm sein?« Forschend musterte sie Cordelia mit ihren dunklen Augen. »Früher dachte ich, dass es das Wichtigste wäre, durchzuhalten, stark zu bleiben. Aber wenn man über längere Zeit unglücklich ist, dann … vergiftet es einem das Leben.«
Cordelia ließ sich auf dem Stuhl am Bett nieder und nahm die Hand ihrer Mutter. »War es wirklich so schrecklich? Mit Baba?«
»Ich hatte ja dich und Alastair«, sagte Sona. »Das hat mich immer glücklich gemacht. Was deinen Vater angeht … Ich kann nur um das Leben trauern, das wir nie hatten … das wir hätten haben können, wenn er … wenn alles anders gekommen wäre. Aber man kann niemanden heilen, Cordelia«, fügte sie hinzu. »Letztendlich müssen sich die Betroffenen selbst heilen – sofern das überhaupt möglich ist.«
Sona seufzte und blickte in die Flammen, die im Kamin tanzten.
»Als ich beschlossen hatte, dass wir nach London ziehen«, fuhr sie fort, »wollte ich damit unsere Familie retten. Deinen Vater retten. Und das ist uns gelungen. Ist dir gelungen. Deshalb werde ich immer stolz auf dich sein.« Sie lächelte wehmütig. »Aber der Grund für unseren Umzug existiert nicht mehr. Vielleicht sollten wir anfangen, darüber nachzudenken, London zu verlassen.«
»Du willst zurück nach Cirenworth?« Cirenworth war ihr derzeit verschlossenes und unbewohntes Landhaus in Devon, mit abgedeckten Möbeln und Verdunklungsvorhängen vor den Fenstern. Die Vorstellung, dorthin zurückzukehren, erschien Cordelia seltsam.
»Nein, Layla, nach Teheran«, antwortete Sona. »Ich habe meine Tanten und Cousinen dort viel zu lange nicht gesehen. Und da dein Vater nicht mehr da ist …«
Cordelia starrte sie an. Teheran, wo ihre Mutter geboren war. Teheran, dessen Sprache und Geschichte sie so gut kannte wie ihre eigenen Hände. Trotzdem handelte es sich um einen Ort, an den sie sich nicht erinnern konnte und mit dessen Bräuchen sie nicht vollständig vertraut war.
»Teheran?«, wiederholte sie. »Ich … Aber wir wohnen hier .« Der Schock hatte ihr fast die Sprache verschlagen. »Und wir können jetzt nicht weggehen. Die Brigade braucht uns.«
»Du hast genug für die Brigade getan«, entgegnete ihre Mutter. »Du kannst auch in Persien eine einflussreiche Schattenjägerin sein – falls du das wünschst. Solche werden überall gebraucht.«
Da spricht die wahre Mutter, dachte Cordelia.
»Layla, ich sage nicht, dass du mit nach Teheran ziehen musst. Schließlich hast du hier einen Ehemann, und es wäre vernünftig, wenn du hierbleibst.«
Cordelia spürte, dass ihre Mutter vorsichtig und zurückhaltend vorging, als sie die Ehe ihrer Tochter zur Sprache brachte. Bedrückt fragte sie sich, was ihre Mutter wohl glaubte, was zwischen James und ihr schiefgelaufen war. Oder spürte sie nur intuitiv, dass etwas im Argen lag? So oder so bot sie Cordelia einen Ausweg an.
»Alastair hat bereits gesagt, dass er mitkommt«, fügte Sona hinzu. »Risa natürlich auch. Beide werden mir mit dem Baby helfen müssen.«
»Alastair hat gesagt, dass er mitkommt?«, fragte Cordelia erstaunt. »Nach Teheran? Und dass er mit dem Baby helfen wird?« Sie versuchte, sich vorzustellen, wie Alastair das Baby auf dem Arm hielt und Bäuerchen machen ließ – allerdings ohne Erfolg.
»Du brauchst nicht alles zu wiederholen, was ich sage, Layla. Und du musst auch nicht hier und jetzt eine Entscheidung treffen.« Sona tätschelte ihren Bauch, und ihr fielen vor Müdigkeit fast die Augen zu. »In meinem Zustand kann ich heute Abend ganz sicher nicht in eine mehrere Tausend Kilometer entfernte Stadt ziehen. Zuerst muss ich dieses Kind hier zur Welt bringen. Danach kannst du entscheiden, was du tun willst.«
Sie schloss die Lider. Cordelia küsste ihre Mutter auf die Stirn und ging hinaus in den Korridor, wo Alastair auf der Lauer lag. Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Du hast von alldem gewusst? Du hast zugestimmt , mit nach Teheran zu ziehen, ohne mir ein Wort davon zu sagen?«
»Na ja, du warst in Paris. Außerdem dachte ich, dass Mâmân es dir erzählen sollte, nicht ich.« In der Dunkelheit des Korridors konnte Cordelia seine Miene nicht deutlich erkennen. »Hier gibt es nichts, was mich hält, nicht wirklich. Bei dir ist das vermutlich anders. Aber unsere Lebenssituationen sind verschieden.«
Cordelia konnte ihren Bruder nur schweigend ansehen. Sie brachte es nicht über sich, ihm zu sagen, was sie fühlte … dass ihr alles zu entgleiten schien: James, Matthew, Lucie. Ihre Bestimmung als Schattenjägerin, als Trägerin Cortanas. Wie würde es sein, all das und auch noch ihre Familie zu verlieren, und trotzdem in London zu bleiben?
»Vielleicht auch nicht«, erwiderte sie schließlich. »Vielleicht sind sie sich ähnlicher, als du denkst.«
In dem Moment, als die Kutsche der Konsulin verschwunden war, machte sich James auf den Weg zur Curzon Street. Der eisige Wind schnitt wie ein Messer durch seinen Mantel.
Zwischen dem Institut und seinem Haus lagen gut drei Kilometer Fußmarsch. Aber James wollte Zeit für sich haben. Um ihn herum wirbelte der lebhafte Londoner Alltag: von der Fleet Street mit all ihren Journalisten, Rechtsanwälten und Geschäftsleuten bis zum Leicester Square, wo Hunderte von Menschen vor dem Alhambra Theatre Schlange standen, um Eintrittskarten für das Winterballett zu ergattern. In den hell erleuchteten Fenstern der Brasserie des Hotel de l’Europe prosteten Touristen einander zu. Als James den Piccadilly Circus erreichte, hatte die Abenddämmerung eingesetzt, und die Lichter rund um die Eros-Statue waren in Wolken aus tanzenden Schneeflocken gehüllt, wie Heiligenscheine. Es herrschte so viel Verkehr, dass er zum Erliegen gekommen war. Eine Flut von Weihnachtseinkäufern aus der Regent Street wogte an ihm vorbei, schwer beladen mit in Packpapier gewickelten Paketen. Ein rotgesichtiger Mann, der offensichtlich bei Hamleys gewesen war und eine riesige Plüschgiraffe auf dem Arm trug, lief direkt in James hinein. Anscheinend wollte er etwas Unhöfliches sagen, doch als er James’ Gesicht bemerkte, wich er hastig zurück.
James hatte sich nicht durch Zauberglanz getarnt, da seine Winterkleidung die Runenmale verdeckte. Trotzdem konnte er es dem Mann nicht verübeln, dass er das Weite gesucht hatte. Als er im Vorbeigehen in den Schaufenstern sein Spiegelbild begutachtete, sah er einen jungen Mann mit kreideweißem Gesicht und versteinerter Miene, die vermuten ließ, dass er soeben eine schreckliche Nachricht erhalten hatte.
Das Haus in der Curzon Street wirkte auf ihn, als würde es schon monatelang leer stehen und nicht erst seit ein paar Tagen. James stampfte im Eingangsbereich Eis und Schnee von seinen Stiefeln. Die helle Tapete erinnerte ihn an das erste Mal, als er Cordelia hierhergebracht hatte. Wie hübsch, hatte sie gesagt. Wer hat sie ausgesucht?
Damals war er einen Moment lang von Stolz erfüllt gewesen, als er Cordelia erzählt hatte, dass er die Tapete ausgewählt hatte. Stolz darauf, etwas ausgesucht zu haben, das ihr gefiel.
Jetzt ging er durch alle Räume und drehte die Gaslampen hoch. Sein Weg führte ihn durchs Speisezimmer und am Arbeitszimmer vorbei, wo Cordelia und er so viele Schachpartien gespielt hatten.
Plötzlich bemerkte er aus dem Augenwinkel einen Lichtschimmer. Noch immer im Mantel, lief er nach unten in die Küche, wo er völlig unerwartet von einem markerschütternden Schrei begrüßt wurde.
Blitzschnell zog er seinen Dolch und fand sich gleich darauf Auge in Auge mit Effie wieder, die auf der anderen Seite der Küchentheke stand. Sie schwang einen Kochlöffel, wie ein Gladiator, und ihr grauer Dutt zitterte.
»Donnerwetter«, schnaufte sie, als sie ihn erkannte, und entspannte sich. »Mit Ihnen hatte ich nicht gerechnet.«
»Tja, ich bleibe auch nicht lange«, sagte James und steckte den Dolch ein. »Genau genommen werde ich noch mindestens für ein paar Tage im Institut bleiben. Schattenjägerangelegenheiten.«
»Und Mrs Herondale?«, fragte Effie neugierig. Sie hatte noch immer den Kochlöffel in der Hand.
»Sie wird bei ihrer Mutter wohnen, bis das Baby auf der Welt ist.«
»Tja, mir hat davon niemand was erzählt«, murrte Effie. »Mir erzählt ja nie jemand was.«
James spürte, wie er Kopfschmerzen bekam. »Ich bin mir sicher, dass sie es begrüßen würde, wenn du ein paar ihrer Sachen in einen Koffer packen könntest. Jemand wird ihn morgen abholen.«
Effie hastete aus der Küche, anscheinend erleichtert, dass sie eine konkrete Aufgabe erhalten hatte. Vielleicht war sie aber auch einfach nur froh, von ihrem messerschwingenden Dienstherrn wegzukommen. Heute mache ich mir wirklich nur Freunde , dachte James.
Er setzte seinen Gang durchs Haus fort und zündete Lampen an. Draußen war es dunkel geworden, und der Lichtschein spiegelte sich in den Fensterscheiben. James wusste, dass er eigentlich seinen eigenen Koffer packen sollte, obwohl noch Kleidung und Waffen von ihm im Institut waren – Sachen, die er in seinem alten Zimmer zurückgelassen hatte. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er ein paar Gegenstände mitnehmen sollte, die einen sentimentalen Wert für ihn hatten. Einerseits wollte er sie bei sich haben, andererseits wollte er nicht darüber nachdenken, dass er vermutlich nicht so bald in die Curzon Street zurückkehren würde, um hier mit Cordelia zu leben.
Alles im Haus erinnerte ihn an sie. Und das, was er im Hinterkopf bereits gewusst hatte, wurde jetzt offensichtlich: Jede Entscheidung, die er beim Einrichten des Hauses getroffen hatte, war in der Hoffnung erfolgt, Cordelia damit eine Freude zu bereiten. Das Schachbrett im Arbeitszimmer, die persischen Miniaturen, die Marmorplatte über dem Kamin, in die auch das Wappen der Familie Carstairs gemeißelt war. Wie war es möglich, dass er es damals nicht begriffen hatte? Cordelia und er hatten vereinbart, nur ein Jahr verheiratet zu bleiben. Und er hatte geglaubt, in Grace verliebt zu sein. Trotzdem hatte er bei der Gestaltung des Hauses, von dem er angeblich gehofft hatte, es eines Tages mit Grace zu teilen, keinen einzigen Gedanken an sie verschwendet.
Das Armband hatte seine Wirkung sehr subtil ausgeübt. Vermutlich hatte er sich damals ja tatsächlich gefragt, warum Grace in seinen Gedanken keine größere Rolle spielte. Doch das Armband hatte dafür gesorgt, dass solche Überlegungen nur kurz aufflackerten und schnell ausgelöscht wurden. Jetzt konnte er die Art und Weise, wie er damals über die Situation gedacht hatte, nicht mehr nachempfinden. Es war seltsam, dass er sich seiner eigenen Gefühle nicht bewusst gewesen war – und so ärgerlich, dass er sich ihrer jetzt bewusst war, nur leider zu spät.
James fand sich am Kamin im Salon wieder. Auf dem Kaminsims lagen die Fragmente des silbernen Armbands. Effie musste sie vom Boden aufgehoben haben, nachdem James sie dort zurückgelassen hatte.
Er brachte es nicht über sich, die Bruchstücke zu berühren. Sie lagen einfach da und schimmerten mattgrau im Kerzenlicht. Die Gravur auf der Innenseite – LOYAULTÉ ME LIE – war zusammen mit dem Armband in zwei Hälften gespalten worden. Jetzt sahen die beiden Teile nur wie ein kaputtes Schmuckstück aus, nicht wie ein Gegenstand, der jemandes Leben zerstören konnte.
Und doch hatte das Armband sein Leben zerstört. Als er an seine Gefühle für Grace dachte – und es waren Gefühle gewesen, körperlich und unnatürlich – und schlimmer noch: daran dachte, was er zu fühlen geglaubt hatte, empfand er eine tiefe Abscheu, die ihn sowohl wütend machte als auch quälte. Das Armband hatte seine Gefühle verfälscht. Seine Liebe fehlgeleitet. Seine Unschuld als Waffe gegen ihn eingesetzt.
Er dachte an Grace, die jetzt in der Stadt der Stille saß. Im Dunkeln, allein. Gut! Hoffentlich verrottet sie dort, dachte er mit einer Bitterkeit, die völlig untypisch für ihn war. Eine Bitterkeit, die ihn unter anderen Umständen beschämt hätte.
Plötzlich tauchte vor ihm ein orangefarbenes Flackern auf, wie von einer Kerze, und schwebte durch das offene Fenster herein. Es handelte sich um ein Blatt Papier, gefaltet wie ein Brief. Allerdings stand es in Flammen und wurde schnell vom Feuer verzehrt. Sanft landete es auf dem Klavier und steckte dort auch noch das darunterliegende Spitzendeckchen in Brand.
Christopher, dachte James sofort.
Er löschte die Flammen und entfernte die Asche von den Rändern des Papiers. Als er es umdrehte, war nur noch ein Wort lesbar. James war sich ziemlich sicher, dass es Haustür lautete.
Neugierig ging er zur Haustür und öffnete sie. Dort fand er in der Tat Christopher vor, der sich mit verlegener Miene auf der Treppe herumdrückte.
»Gehört das dir?«, fragte James und hielt den verkohlten Papierfetzen hoch. »Und was gibt es eigentlich gegen Türklingeln einzuwenden?«
»Alles, was ich tue«, erwiderte Christopher, »tue ich im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts. Wie hat es denn funktioniert?«
»Na ja, der Großteil deiner Nachricht ist verbrannt, und du schuldest mir ein Spitzendeckchen«, sagte James.
Christopher nickte bedächtig, zog ein kleines Notizbuch und einen Bleistift aus der Jackentasche und notierte etwas. »Ich setze es auf die Liste mit Dingen, die ich Freunden ersetzen muss. Alles im Interesse der …«
»Wissenschaft. Ich weiß«, sagte James. »Tja, dann komm mal rein.« Als Christopher eintrat und seinen Mantel aufhängte, konnte James sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das Kleidungsstück war an den Ärmeln ausgefranst, wo es mit Feuer und diversen säurehaltigen Lösungen in Berührung gekommen war. Christophers hellbraune Haare standen vom Kopf ab wie der Flaum eines Entenkükens. Er wirkte auf eine Weise vertraut und unverändert, die sich wie ein Lichtschimmer in einer dunklen Welt anfühlte.
»Ist Cordelia hier?«, fragte Christopher, während James ihn in den Salon führte. Dort ließen sie sich in Sessel fallen, und Christopher schob das kleine Notizbuch zurück in die Jackentasche.
»Nein«, sagte James. »Sie hat beschlossen, vorerst bei ihrer Mutter zu bleiben. Zumindest, bis das Baby auf der Welt ist.«
Er fragte sich, wie oft er diese Sätze noch würde sagen müssen. Sie gingen ihm bereits jetzt gewaltig auf die Nerven.
»Natürlich«, sagte Christopher energisch. »Das ist völlig nachvollziehbar. Genau genommen wäre es seltsam, wenn sie nicht bei ihrer Mutter bleiben würde, so kurz vor der Geburt ihres neuen Geschwisterchens. Wenn ich das richtig verstehe, müssen so viele Menschen wie möglich anwesend sein, wenn ein Baby auf die Welt kommt, um … na ja, du weißt schon.«
James zog eine Augenbraue hoch.
»Jedenfalls«, fuhr Christopher fort, bevor James antworten konnte, »habe ich mit Thomas gesprochen. Und wir haben uns gefragt … Ich will damit sagen, dass er dachte und ich der gleichen Meinung war, dass … Also, Matthew hatte uns eine Nachricht geschickt, in der stand, dass er mit Cordelia in Paris wäre und sie dort viel Spaß hätten. Und dass er uns nach seiner Rückkehr alles erklären würde. Und jetzt seid ihr alle aus Paris zurückgekommen, du, Matthew und Cordelia. Aber Cordelia ist nicht hier, und …«
»Christopher«, unterbrach ihn James ruhig. »Wo ist Thomas?«
Christophers Ohren liefen rot an. »Er ist bei Matthew und spricht mit ihm.«
»Verstehe«, sagte James. »Du hast mich bekommen und Thomas Math. Um wenigstens einem von uns Informationen zu entlocken.«
»So ist es nicht«, widersprach Christopher unglücklich, und James kam sich vor wie ein Schuft. »Wir sind schließlich die Tollkühnen Gesellen – einer für alle und alle für einen …«
»Ich glaube, das waren die drei Musketiere«, warf James ein.
»Genau genommen vier Musketiere, wenn man D’Artagnan mitzählt.«
»Christopher …«
»Wir hatten noch nie Streit«, fuhr Christopher fort. »Nicht untereinander, meine ich. Zumindest nichts Ernstes. Wenn du dich mit Math zerstritten hast … wollen wir helfen, die Sache wieder ins Lot zu bringen.«
Gegen seinen Willen war James gerührt. So nahe Christopher und er sich auch seit Jahren standen, war Christopher höchst selten – wenn überhaupt – bereit, über etwas so Irrationales wie Gefühle zu reden.
»Wir brauchen einander«, sagte Christopher schlicht. »Gerade jetzt.«
»Ach, Kit.« James nahm einen Druck in den Augen wahr. Und dann spürte er den unwiderstehlichen Drang, Christopher zu umarmen. Da er jedoch wusste, dass eine solche Geste seinen Freund nur beunruhigen würde, hielt er sich zurück. »Es ist nicht so, als ob Math und ich uns die Köpfe einschlagen. Und keiner von uns beiden ist wütend auf Cordelia – oder sie auf uns. Die Situation zwischen uns ist einfach … kompliziert.«
»Cordelia brauchen wir auch«, sagte Christopher. »Und Cortana. Ich habe einiges zum Thema Paladine gelesen …«
»Du hast wahrscheinlich von der Sache mit dem Inquisitor gehört? Was passiert ist, als er hinter Tatiana her war?«
»Ich bin umfassend informiert«, bestätigte Christopher. »Es sieht ganz danach aus, als würde Belial bald seinen nächsten Angriff starten. Und ohne Cordelia oder ihr Schwert …«
»Lilith hasst Belial ebenfalls«, sagte James. »Sie würde Cordelia nicht daran hindern, Cortana gegen ihn einzusetzen, falls es dazu kommen sollte. Trotzdem will Cordelia nicht handeln, solange Lilith die Zügel in der Hand hält. Und ich kann es ihr nicht verübeln.«
»Nein«, pflichtete Christopher ihm bei. »Wenigstens gibt es keinen Leichnam, von dem Belial Besitz ergreifen kann – so wie er es bei Jesse Blackthorn gemacht hat.«
»Du weißt vermutlich auch von Lucie und Jesse …?«
»O ja«, sagte Christopher. »Ich habe ihn gestern Abend beim Familientreffen kennengelernt. Er scheint ein recht netter Kerl zu sein – obwohl er mich bedauerlicherweise keine Experimente an sich durchführen lassen will.«
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum.«
»Vielleicht überlegt er es sich noch einmal, wenn sich die Lage beruhigt hat.«
»Vielleicht«, sagte James, hatte jedoch seine Zweifel. »Doch als Erstes müssen wir eine Versammlung abhalten – also diejenigen von uns, die über Cordelia und Lilith Bescheid wissen – und dann besprechen, was wir unternehmen können.«
Christopher runzelte die Stirn. »Weiß Jesse das mit Cordelia und Lilith? Lucie wird wollen, dass er bei jedem Treffen dabei ist.«
»Und das sollte er auch«, sagte James. »Er kennt Belial, wie kein anderer von uns. Nicht einmal ich.« Müde rieb er sich die Augen. Er war vollkommen erschöpft, so als wäre er mit dem Zug statt durch ein Portal aus Paris zurückgekehrt. »Ich werde es ihm erzählen.«
»Und ich werde allen, die zu der Versammlung kommen, einen Schwarm meiner neuen Flammenbotschaften schicken«, fügte Christopher aufgeregt hinzu.
»Nein!«, protestierte James. Und als Christopher beunruhigt blinzelte, fuhr er fort: »Wir können einfach Boten schicken.«
»Und Flammenbotschaften«, sagte Christopher.
James seufzte. »Also gut. Ich werde die Boten benachrichtigen. Und die Feuerwehr.«
Die Suche nach Matthews Wohnung stellte für Thomas kein Problem dar. Er war schon einmal dort gewesen. Aber selbst wenn nicht, hätte jeder, der Matthew kannte und erraten sollte, in welchem Gebäude in Marylebone sein Freund wohnte, auf das barocke, rosafarbene Ungetüm an der Ecke der Wimpole Street getippt.
Der Portier ließ Thomas herein und informierte ihn, dass Mr Fairchild zwar zu Hause sei, er ihn aber nicht stören wolle. Thomas zeigte seinen Zweitschlüssel vor und wurde unverzüglich mit dem Aufzug, der große Ähnlichkeit mit einem goldenen Vogelkäfig besaß, zu Matthews Wohnung hinaufgeschickt. Nachdem er mehrmals an die Tür geklopft und keine Antwort erhalten hatte, schloss er auf.
In der Wohnung war es kalt, so kalt, dass Thomas eine Gänsehaut bekam. Nur wenige Lampen brannten und schenkten kaum Licht: Auf dem Weg ins Wohnzimmer wäre Thomas fast über Matthews Koffer gestolpert.
Dort angekommen brauchte er einen Moment, um Matthew zu entdecken, der ohne Hut und Schuhe vor dem Kamin auf dem Boden saß, den Rücken ans Sofa gelehnt. Sein Blick war auf die weichen, grauen Aschehaufen gerichtet, die auf dem kalten Feuerrost lagen.
In einer Hand hielt er eine Weinflasche, fest an die Brust gedrückt. Neben ihm lag Oscar, der winselte und Matthew die andere Hand leckte – als wüsste er, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Thomas ging durchs Zimmer, nahm ein paar Scheite aus dem Feuerholzständer und stapelte sie im Kamin. Als das Feuer prasselte, drehte er sich um und blickte auf Matthew hinunter. Im Schein der Flammen konnte er sehen, dass Matthews Kleidung zerknittert war. Seine scharlachrote Samtweste war aufgeknöpft, und auf seinem Hemd prangten mehrere Flecken, die Thomas zunächst für Blutspritzer hielt, bevor er erkannte, dass es sich um Wein handelte.
Matthews Augen waren gerötet, und das Grün seiner Iris schimmerte fast schwarz. Eine weitere – leere – Weinflasche steckte hinter ihm zwischen den Sofakissen. Er war unverkennbar ziemlich betrunken.
»Also«, sagte Thomas nach einem langen Moment, »wie war Paris?«
Matthew schwieg.
»Ich für meinen Teil hatte schon immer eine Schwäche für Paris«, fuhr Thomas im Plauderton fort. »Was für eine wunderschöne, alte Stadt! Einmal habe ich im Au Chien Qui Fume eine Mahlzeit zu mir genommen, die ich nicht so schnell vergessen werde. Die beste Ente meines Lebens!«
Ohne den Blick vom Feuer abzuwenden, erwiderte Matthew langsam: »Ich will nicht über verdammte Enten reden.« Er schloss die Augen. »Aber wenn du das nächste Mal in der Stadt bist und Ente magst – also auf dem Teller, meine ich –, musst du ins La Tour d’Argent gehen. Da schmeckt sie sogar noch besser, finde ich. Nach dem Essen erhält man eine Karte, zum Gedenken an die spezielle Ente, die man sich einverleibt hat. Herrlich morbide!« Matthew öffnete die Augen wieder. »Lass mich raten: Christopher hat James bekommen, und du musst dich mit mir abgeben.«
»Keineswegs«, protestierte Thomas. Matthew zog eine Augenbraue hoch. »Also gut, ja.« Er setzte sich neben Matthew auf den Boden. »Wir haben Streichhölzchen gezogen.«
»Und du hast verloren, nehme ich an.« Matthew holte tief Luft. »Hat Lucie mit euch gesprochen?«
»Sie hat uns darüber informiert, dass du zurück bist. Und möglicherweise hat sie sich ein wenig besorgt über dein Wohlbefinden geäußert. Aber wir sind von selbst auf die Idee gekommen, mit euch beiden zu reden.«
Matthew legte den Kopf in den Nacken und nahm einen Schluck aus der Flasche. Sie war halb leer. Thomas nahm den essigsauren Geruch des Weins wahr.
»Hör zu«, sagte er, »was auch immer du empfindest, Math, ich will dir helfen. Das alles verstehen. Aber das Wichtigste ist, dass du deine Freundschaft mit James erhältst – tu, was auch immer dazu notwendig ist. Ihr seid Parabatai . Und das ist so viel mehr, als ich jemals begreifen kann. Wenn ihr einander verliert, dann verliert ihr etwas, das sich niemals ersetzen lässt.«
»Dringe nicht in mich, dass ich dich verlassen soll« , sagte Matthew mit müder Stimme. »Tom, ich bin nicht wütend auf James.« Er streckte die Hand aus und kraulte Oscar kurz am Kopf. »Ich bin in Cordelia verliebt. Und zwar schon seit einiger Zeit. Und ich habe geglaubt … Ich habe wirklich geglaubt, und du vermutlich auch … dass ihre Ehe mit James ein Schwindel war und dass James immer nur Grace Blackthorn geliebt hat.«
»Äh, ja«, sagte Thomas. »Stimmt das denn nicht?«
Matthew lachte trocken. »Cordelia ist zu mir gekommen und hat erklärt, dass sie damit abgeschlossen hätte. Dass sie es nicht länger ertragen könne, alle zu täuschen. Dass es unerträglich geworden wäre. Und da habe ich gedacht …« Er lachte sarkastisch. »Ich habe gedacht, dass das vielleicht eine Chance für uns sein könnte, glücklich zu werden – eine Chance für uns alle , glücklich zu werden. James hätte mit Grace zusammen sein können, wie er es immer wollte. Und Cordelia und ich hätten nach Paris gehen können, wo wir glücklich gewesen wären. Aber dann ist James nach Paris gekommen«, fuhr Matthew fort, »und offenbar hatte ich mich in allem geirrt. Wie üblich. James sagt, dass er Grace nicht liebt. Dass er sie nie geliebt hat. Er liebt Cordelia. Und er will sie nicht aufgeben.«
»Das hat er gesagt?«, fragte Thomas. Er bemühte sich um einen gelassenen Tonfall, obwohl er innerlich erschüttert war. Es war wirklich erstaunlich, was Menschen alles voreinander verbergen konnten, sogar vor ihren engsten Freunden. »Hat Cordelia davon gewusst?«
»Anscheinend nicht«, sagte Matthew. »Sie wirkte genauso erstaunt ich. Bei James’ Ankunft hatten wir gerade …«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wissen will«, warf Thomas ein.
»Wir haben uns geküsst«, sagte Matthew. »Das ist schon alles. Aber es war wie Alchemie – mit dem Unterschied, dass aus Elend Glück wurde statt aus Blei Gold.«
Thomas wusste genau, was Matthew meinte – aber das konnte er ihm unmöglich sagen. Stattdessen erwiderte er: »Ich kenne Cordelia gut genug, um zu wissen, dass sie dich nicht geküsst hätte, wenn sie es nicht gewollt hätte. Es scheint mir, wenn ihr sie beide liebt …«
»Wir haben abgemacht, dass wir ihre Entscheidung akzeptieren werden, wie auch immer sie ausfällt«, sagte Matthew matt. »Und im Moment besteht ihre Entscheidung darin, dass sie keinen von uns beiden sehen will.« Er stellte die Flasche ab und blickte auf seine Hand hinunter, die unübersehbar zitterte.
Gefühle und Alkohol, dachte Thomas voller Mitleid. Er selbst hätte seine Leidenschaft unterdrückt, doch dazu war Matthew noch nie in der Lage gewesen. Die Gefühle strömten aus ihm heraus wie Blut aus einer Schnittwunde.
»Ich habe alles zerstört«, sagte sein Freund. »Ich dachte wirklich, dass James sie nicht liebt. Dass meine Entscheidung das Beste für uns alle wäre. Stattdessen habe ich sie beide nur verletzt. Cordelias Gesicht, als sie ihn im Hotelzimmer gesehen hat …« Matthew schauderte. »Wie habe ich mich nur so irren können?«
Thomas rutschte näher an Matthew heran, sodass sich ihre Schultern berührten. »Wir alle irren uns manchmal. Machen Fehler.«
»Ich scheine besonders schwerwiegende zu machen.«
»Ich habe den Eindruck, dass du und James schon seit einiger Zeit bestimmte Aspekte eures Lebens voreinander verheimlicht«, fuhr Thomas fort. »Ihr beide. Und genau darüber solltet ihr reden – sogar noch dringender als über die Sache mit Cordelia.«
Matthew tastete nach der Weinflasche, doch als Oscar laut aufjaulte, zog er seine Hand zurück. »Wenn man ein Geheimnis hat, fällt es schwer zu beurteilen … ob das Offenbaren Heilung bringt oder nur noch mehr Schmerz. Wäre es nicht egoistisch, alles zu erzählen, nur um mein eigenes Gewissen zu erleichtern?«
Thomas wollte gerade protestieren: Nein, natürlich nicht! Doch dann zögerte er. Schließlich hatte er selbst ein Geheimnis, von dem Matthew, James und Christopher nichts wussten. Würde es irgendetwas besser machen, wenn er Matthew sein Geheimnis verriet? Oder würde Matthew daran denken, wie viel Leid Alastair ihm und seinen Freunden zugefügt hatte, und glauben, dass es Thomas gleichgültig war?
Andererseits … Wie konnte er Matthew dazu auffordern, die Wahrheit zu sagen, wenn er selbst weiterhin schwieg?
»Math«, setzte er an, »es gibt da etwas, das ich dir erzählen möchte.«
Matthew sah ihn an, genau wie Oscar, der ebenfalls neugierig zu sein schien. »Ja?«
»Ich mag keine Mädchen«, sagte Thomas. »Also, ich mag sie schon. Sie sind reizende Menschen. Und Cordelia und Lucie und Anna sind großartige Freundinnen …«
»Thomas« , sagte Matthew.
»Ich fühle mich zu Männern hingezogen«, sagte Thomas. »Aber nicht so wie du. Nur zu Männern!«
Bei diesen Worten lächelte Matthew. »Ich hatte schon so eine Vermutung, war mir aber nicht ganz sicher. Du hättest es mir schon früher erzählen können, Tom. Warum hätte es mir etwas ausmachen sollen? Es ist ja nicht so, als ob ich herumgesessen und darauf gewartet hätte, dass du einen Leitfaden mit dem Titel Wie man Frauen verführt verfasst.«
»Weil …«, sagte Thomas ziemlich kläglich, »der erste Mann, in den ich je … in den ich noch immer …« Er holte tief Luft. »Ich bin in Alastair verliebt. Alastair Carstairs.«
Oscar knurrte. Anscheinend missfiel ihm das Wort »Alastair«.
»Ah.« Matthew schloss die Augen. »Du …« Er zögerte, und Thomas merkte, dass er versuchte, trotz des Alkoholnebels einen klaren Gedanken zu fassen … dass er sich bemühte, nicht impulsiv zu reagieren. »Ich kann nicht über dich urteilen«, sagte er schließlich. »Der Erzengel weiß, dass ich schon genügend Fehler gemacht und genügend Menschen verletzt habe. Ich weiß nicht, ob es mir zusteht, über irgendjemanden zu urteilen. Nicht einmal über Alastair. Aber … weiß Alastair, was du empfindest?«
»Ja«, bestätigte Thomas.
»Und war er freundlich dir gegenüber?« Matthew öffnete die Augen. »Ist er … Seid ihr beide …?«
»Er will nicht mit mir zusammen sein«, sagte Thomas leise. »Aber nicht, weil er mich nicht mag. Er glaubt, dass er schlecht für mich ist. Ich denke, er glaubt … auf eine gewisse Art und Weise … dass er es nicht verdient, glücklich zu sein. Vielleicht ist er aber auch unglücklich und glaubt, es wäre eine Art ansteckende Krankheit, die sich ausbreiten könnte.«
»Das kann ich nachvollziehen«, sagte Matthew in leicht verwundertem Ton. »Wie viel Liebe haben sich die Menschen im Laufe der Jahrhunderte versagt, weil sie glaubten, sie hätten sie nicht verdient. Als ob die Vergeudung von Liebe nicht die größere Tragödie wäre.« Seine Augen schimmerten sehr dunkelgrün, als er Thomas ansah. »Liebst du ihn?«
»Mehr als alles andere«, antwortete Thomas. »Es ist nur … alles sehr kompliziert.«
Matthew lachte leise.
Thomas rutschte näher an Matthew heran und zog dessen Kopf an seine Schulter. »Wir werden eine Lösung finden«, sagte er. »Für all unsere Probleme. Wir sind schließlich die Tollkühnen Gesellen.«
»Das ist wahr«, sagte Matthew. Dann schwieg er eine Weile und meinte schließlich: »Vermutlich muss ich aufhören, so viel zu trinken.«
Thomas nickte und starrte in das lodernde Feuer. »Auch das ist wahr.«