12

Die sehen konnten

Du hast ihn schon von Kindheit an gekannt,

So sagst du; und ein sonderbares Straßenkind

war er für jene, die ihn sehen konnten –

Nachgerade furchterregend, würd’ ich meinen,

Die Welt mit seinen Augen zu entdecken,

So wie ein andrer Junge Buchfinken erspäht.

Edwin Arlington Robinson, »Ben Jonson Entertains a Man from Stratford«

Während Anna, Ariadne und Matthew durch den matschigen Schnee zu Annas Wohnung zurückstiefelten, behielt Anna Matthew aufmerksam im Auge.

Matthew war schon immer ihr Gefährte und Komplize gewesen. Sie hätte schwören können, dass sie sich an den Tag erinnerte, als sie im Alter von zwei Jahren auf einer Decke gesessen hatte und man ihr Matthew als glucksendes Baby in den Schoß gelegt hatte. Damals hatte sie an Ort und Stelle beschlossen, dass sie die besten Freunde werden würden.

Es hatte eine Zeit gegeben, vor etwa zwei Jahren, als ein dunkler Schatten sich in Matthews Augen eingenistet hatte – ein Schatten, wo zuvor immer Sonnenschein gewesen war. Er hatte nicht darüber sprechen wollen, und nach einiger Zeit war der Schatten verschwunden und durch eine etwas wildere und sprödere Heiterkeit ersetzt worden. Anna hatte es darauf zurückgeführt, dass Jungen in der Pubertät seltsam waren. Denn war James in diesem Alter nicht ebenfalls seltsam und distanziert gewesen?

Doch heute in der Devil Tavern hatte Anna gesehen, dass der Schatten in Matthews Augen zurückgekehrt war. Sie war klug genug, das Ganze auf die schreckliche Situation mit Cordelia und James zurückzuführen. Wenn Matthew unglücklich war, und daran bestand kein Zweifel, dann so sehr, dass er darüber krank geworden war. Die Schatten unter seinen Augen sahen aus wie die verblassenden Blutergüsse eines Boxers.

Deshalb hatte sie ihn zu sich nach Hause zum Tee eingeladen. Er war einverstanden gewesen, vor allem als klar wurde, dass Cordelia James und Lucie zum Institut begleiten würde. Auf dem Weg in die Percy Street redete er kaum, und er trug weder Hut noch Handschuhe, als fände er Gefallen an der schneidend kalten Luft.

In der Wohnung angekommen, entschuldigte sich Ariadne und ging sich umziehen, denn ein Wagen in der Tottenham Court Road hatte den Saum ihres Kleids mit Matsch bespritzt. Anna bot Matthew etwas zu essen an, was er ablehnte, und Tee, den er akzeptierte. Seine Hände zitterten, als er die Tasse zum Mund führte.

Schimpfend half Anna ihm aus seinem klammen Mantel und reichte ihm ein Handtuch, damit er sich die nassen Haare trocknete. Als er seine Tasse geleert hatte, schenkte sie ihm einen weiteren Tee ein und fügte einen Schuss Brandy hinzu. Einen Moment lang machte Matthew den Eindruck, als wollte er protestieren – eigenartig, er hatte noch nie gegen Brandy in seinem Tee protestiert –, hielt sich dann aber zurück. Seine goldenen Haare standen in alle Richtungen ab. Er nahm die Tasse und schaute zur Tür von Annas Schlafzimmer. »Dann wohnt Ariadne jetzt also bei dir?«

Typisch Matthew – ungeachtet der Umstände war er immer für Klatsch zu haben.

»Vorübergehend«, antwortete Anna. »Sie konnte nicht bei den Bridgestocks bleiben.«

»Auch wenn es nur ein vorübergehendes Arrangement ist«, setzte Matthew an, dessen Hände nach einem Schluck des hochprozentigen Tees nicht mehr zitterten, »hältst du das denn für eine gute Idee?«

»Und was weißt ausgerechnet du über gute Ideen?«, konterte Anna. »Deine letzte Idee bestand darin, mit James’ Frau nach Paris durchzubrennen.«

»Ah, aber ich bin ja bereits dafür bekannt, dass ich nur furchtbare Ideen habe – während du als jemand giltst, der über ein gutes Urteilsvermögen und gesunden Menschenverstand verfügt.«

»Na bitte«, entgegnete Anna. »Wenn es keine gute Idee wäre, dann würde ich es nicht tun, da ich ja nur gute Ideen habe.«

Matthew wollte protestieren, aber Anna brachte ihn mit einem mahnenden Finger zum Schweigen: Ariadne kehrte in einem pfirsichfarbenen Tageskleid ins Wohnzimmer zurück. Anna kannte nur wenige Personen, die diesen Korallenton tragen konnten, aber er schien Ariadnes Haut von innen zum Leuchten zu bringen. Ihr offenes Haar fiel ihr in einer schwarzen, seidigen Fülle auf die Schultern.

Als Ariadne Matthew betrachtete, entdeckte Anna Sorge in ihrem Blick. Aber Ariadne schwieg wohlweislich und nahm nur neben ihm auf dem weichen violetten Sofa Platz.

Gut – zeig ihm nicht, dass du dir Sorgen machst, dachte Anna. Er wird sich nur aufführen wie ein störrisches Pony.

Doch Ariadne war von ihrer Mutter gut in Etikette unterwiesen worden. Vermutlich konnte sie sich mit jemandem über das Wetter unterhalten, dessen Kopf in Flammen stand. »Wie ich gehört habe, Matthew, hast du deine eigene Wohnung«, sagte sie und nahm eine Tasse Earl Grey entgegen. »Bedeutet das, dass du genau wie Anna lieber allein lebst?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es dabei nur um eine Vorliebe ging. Mein Umzug war eher eine Notwendigkeit«, antwortete Matthew. »Aber mein Domizil gefällt mir ziemlich gut«, fügte er hinzu, »und dir könnte es auch gefallen. Die Wohnungen werden von Dienstboten betreut. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in der Lobby gegen einen Dämon kämpfen könnte, aber der Portier zu höflich wäre, um irgendwelche Fragen zu stellen.« Er wandte sich an Anna: »Hast du mich deshalb hergebeten? Wegen Ratschlägen zur Wohnungssuche?«

Anna schwieg. Die Vorstellung, dass Ariadne wieder auszog, beunruhigte sie auf eine Weise, die sie nicht erklären konnte. Natürlich wünschte sie sich ihre Privatsphäre zurück, die Ruhe und Bequemlichkeit ihrer eigenen Wohnung, die Zuflucht, die sie bot, nur von ihr allein bewohnt …

Ariadne stellte ihre Teetasse ab. »Ganz und gar nicht. Wir wollten deinen Rat in einer anderen Sache: Es geht um etwas, das ich gefunden habe.«

Matthew zog die Augenbrauen hoch; seine Neugier war eindeutig geweckt. Ariadne nahm den Brief vom Kaminsims und reichte ihn Matthew. Er faltete das Schriftstück auseinander und überflog es, wobei seine Augen immer größer wurden.

»Wo hast du den gefunden?«, fragte er schließlich. Zu ihrer Freude stellte Anna fest, dass er jetzt deutlich wacher und konzentrierter wirkte.

»Im Arbeitszimmer meines Vaters«, antwortete Ariadne. »Und der Brief ist eindeutig von ihm: seine Handschrift, seine Unterschrift.«

»Aber er hat ihn nicht abgeschickt«, sagte Matthew. »Also erpresst er jemanden oder hatte es zumindest vor, ist aber vor seiner Reise zur Adamant-Zitadelle nicht mehr dazu gekommen. Hat er bemerkt, dass der Brief verschwunden ist?«

Ariadne biss sich auf die Unterlippe. »Ich … weiß es nicht. Ich glaube, er wollte den Brief verbrennen … Ich habe ihn im Kamin gefunden, daher nehme ich nicht an, dass er danach sucht. Aber seit seiner Rückkehr haben wir noch nicht miteinander gesprochen.«

»Die Frage ist doch: Wen würde der Inquisitor erpressen wollen – und weswegen?«, warf Anna ein.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Ariadne. »Er befindet sich bereits in einer hohen Machtposition. Warum sollte er etwas gegen jemanden in der Hand haben wollen? Wenn ein Schattenjäger gegen das Gesetz verstößt, hat er die volle Autorität, um ihn umgehend zur Verantwortung zu ziehen.«

Matthew schwieg einen Moment. »Ist dieser Brief der Grund dafür, dass du das Gefühl hattest, du müsstest ausziehen?«, fragte er schließlich. »Dass es für dich zwingend notwendig wurde?«

»Man hat mich von klein auf dazu erzogen, eine vorbildliche Schattenjägerin zu sein«, antwortete Ariadne leise. »Ich bin die Tochter des Inquisitors. Es ist die Aufgabe meines Vaters, dafür zu sorgen, dass alle Nephilim den unglaublich hohen Anforderungen von Raziels Gesetzen entsprechen. Und er stellt an seine Familie keine geringeren Anforderungen. Ich wurde zu einer gehorsamen Tochter erzogen, die zu einer gehorsamen Ehefrau werden sollte. Ich war bereit, alles zu tun, was sie sagten … zu heiraten, wen sie wollten …«

»Charles, zum Beispiel«, sagte Matthew.

»Ja. Aber letztendlich war das doch alles Unsinn, oder? Mein Vater hält sich offenbar nicht mal selbst an seine eigenen hohen Anforderungen.« Sie schüttelte den Kopf und schaute aus dem Fenster. »Die Heuchelei war wohl der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.« Erneut wandte sie sich Matthew zu, und bei ihren Worten empfand Anna unwillkürlich Stolz auf sie: »Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich keinen Mann heiraten würde, den sie für mich aussuchen. Und dass ich überhaupt keinen Mann heiraten werde. Weil ich keine Männer liebe, sondern Frauen.«

Matthew wickelte eine blonde Haarsträhne um seinen Zeigefinger – eine nervöse Angewohnheit aus Kindheitstagen. »Hast du gewusst, dass du etwas gesagt hast, was sie nicht hören wollte? Etwas, das sie vielleicht dazu bringt, dich zu verstoßen? Oder dich sogar … zu hassen?«

»Ja«, bestätigte Ariadne. »Trotzdem würde ich es wieder tun. Ich bin mir sicher, dass meine Mutter um die Tochter trauert, die sie nie hatte. Aber wenn sie mich liebt – und ich glaube, dass das der Fall ist –, dann muss sie mich so lieben, wie ich wirklich bin.«

»Was ist mit deinem Vater?«

»Bei seiner Rückkehr aus Island stand er unter Schock. Danach habe ich fast einen ganzen Tag nichts von ihm gehört, und dann erhielt ich einen Brief – er wusste offenbar, dass ich bei Anna wohne –, in dem stand, dass ich nach Hause kommen könne, wenn ich mich bei meiner Mutter entschuldigen und meine Worte zurücknehmen würde.«

»Was du nicht tun wirst«, sagte Matthew.

»Was ich nicht tun werde«, bestätigte Ariadne mit einem traurigen Lächeln. »Für dich mag das alles schwer zu verstehen sein. Deine Eltern sind so außerordentlich freundlich.«

Matthew schien zusammenzuzucken. Anna dachte mit Schmerz an die Zeit zurück, als die Fairchilds eine der liebevollsten Familien in ihrem Umfeld gewesen waren – bevor Charles so kalt und Matthew so traurig geworden war.

»Tja, zumindest erpressen sie niemanden«, sagte Matthew. »Etwas ist mir an diesem Brief aufgefallen: ›Deine Familie hat von der Beute der … großer Tintenfleck … profitiert, aber es könnte alles verloren gehen, wenn du dein Haus nicht in Ordnung gebracht hast.‹ Was wäre, wenn ›Beute‹ wörtlich gemeint ist: Kriegsbeute, Trophäen?«

Ariadne runzelte die Stirn. »Aber seit Unterzeichnung des Abkommens ist es illegal, Trophäen von den Unterweltlern zu nehmen.«

Anna schauderte. Trophäen. Es war ein hässliches Wort, ein hässliches Konzept. Dahinter steckte die Praxis, Besitztümer von unschuldigen Schattenweltlern zu konfiszieren – weit verbreitet vor dem historischen Friedensvertrag zwischen Schattenweltlern und Schattenjägern, der jetzt als »das Abkommen« bezeichnet wurde. Weit verbreitet und meist ungeahndet. Viele alte Schattenjägerfamilien hatten sich auf diese Weise bereichert.

»Der Brief bezieht sich möglicherweise nicht auf Verbrechen, die jetzt begangen werden. Als das Abkommen 1872 unterzeichnet wurde, waren die Nephilim aufgefordert, die Trophäen zurückzugeben, die sie sich angeeignet hatten«, sagte Anna. »Aber viele hielten sich nicht daran. Die Baybrooks und die Pouncebys zum Beispiel. Ihr Vermögen stammte ursprünglich aus Kriegsbeute. Jeder weiß das.«

»Was schrecklich ist, aber keine Entschuldigung für Erpressung«, meinte Ariadne.

»Ich bezweifle, dass die Erpressung auf moralischer Entrüstung basiert«, wandte Matthew ein. »Es scheint sich eher um eine bequeme Ausrede zu handeln. Dein Vater möchte diese Person erpressen und hat einen Grund dafür gefunden.« Er rieb sich die Augen. »Es könnte jeder sein, den er kontrollieren will. Beispielsweise Charles.«

Ariadne starrte ihn verblüfft an. »Aber mein Vater und Charles haben sich immer gut verstanden. Selbst nach der Auflösung unserer Verlobung haben sie sich schnell arrangiert. Charles wollte immer genau die Art von Politiker werden, die mein Vater ist.«

»Was könnte Charles getan haben, das ihn erpressbar macht?«, fragte Anna.

Matthew schüttelte den Kopf. Seine inzwischen trockenen Haare fielen ihm in die Augen. »Nichts. Es war nur eine Idee. Ich frage mich, ob mit ›Beute‹ vielleicht die Vorteile politischer Macht gemeint sein könnten. Aber ich bin ebenfalls der Meinung, dass wir zuerst Baybrook und Pounceby in Betracht ziehen sollten.« Er wandte sich an Ariadne. »Würdest du mir den Brief ausleihen? Ich werde Thoby damit konfrontieren – ihn kenne ich am besten. Und er hat einem Verhör noch nie gut standgehalten. Einmal hat er in der Akademie den Picknickkorb von jemand anderem geklaut, ist aber bei der Befragung eingeknickt wie billiges Papier.«

»Natürlich«, sagte Ariadne. »Und ich bin mit Eunice befreundet. Ich glaube, sie wird sich gern mit mir treffen und nicht einmal bemerken, dass sie befragt wird. Dafür ist sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt.«

Matthew stand auf wie ein Soldat, der sich für seine Rückkehr in die Schlacht wappnete. »Ich sollte jetzt aufbrechen«, sagte er. »Oscar wird schon sehnsüchtig auf mich warten.«

Anna begleitete ihn zur Haustür. Als Matthew sie öffnete, schaute er die Treppe hinauf, zur Wohnung, wo Ariadne zurückgeblieben war.

»Sie ist tapfer«, sagte er. »Tapferer als wir, glaube ich.«

Anna legte ihm eine Hand an die Wange. »Mein Matthew. Wovor hast du solche Angst? Was traust du dich nicht, deinen Eltern mitzuteilen?«

Matthew schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich … ich kann nicht, Anna. Ich will nicht, dass du mich verachtest.«

»Ich würde dich nie verachten. Wir alle sind unvollkommene Geschöpfe. So wie Diamanten fehlerhaft sind, so macht auch uns jede Unvollkommenheit einzigartig.«

»Vielleicht möchte ich gar nicht einzigartig sein«, erwiderte Matthew. »Vielleicht möchte ich einfach nur glücklich und gewöhnlich sein.«

»Matthew, mein Lieber, du bist die am wenigsten gewöhnliche Person, die ich kenne – von mir selbst einmal abgesehen. Das ist ein Teil dessen, was dich glücklich macht . Du bist ein Pfau, keine Ente.«

»Wie ich sehe, hast du den Hass der Herondales auf Enten von deiner Mutter geerbt«, sagte Matthew mit einem matten Lächeln. Dann schaute er hinauf in den tiefschwarzen, mit Sternen übersäten Himmel. »Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass etwas furchtbar Dunkles auf uns zukommt. Die Warnungen haben uns bis nach Paris verfolgt. Nicht dass ich die Gefahr oder den Kampf fürchte. Es geht um etwas Größeres … ein größerer Schatten, der auf uns alle fällt. Auf ganz London.«

Anna runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«, fragte sie, aber Matthew schien zu glauben, er hätte schon zu viel gesagt, und reagierte nicht. Er strich nur seine Jacke glatt und machte sich auf den Weg – eine schlanke Gestalt, die unbeobachtet von Passanten durch die Percy Street ging.

»Du könntest im Institut übernachten, Daisy«, sagte Lucie, während sie mit Jesse, James und Cordelia durch die Fleet Street stiefelte. Die Straßenlaternen waren angezündet worden, und jede warf einen Lichtkreis, in dem winzige Schneeflocken wie Schwärme eisiger Mücken umherschwirrten. Der Wind hatte aufgefrischt und wirbelte erneut eisige Flocken um die vier herum – was nur Jesse zu genießen schien, der sein Gesicht nach oben in die Nacht reckte.

Kurz zuvor hatte er ihnen erklärt, dass er seit Jahren weder Hitze noch Kälte hatte spüren können und dass ihn extreme Temperaturen deshalb noch immer erfreuten. Offenbar war er einmal so dicht an den Kamin im Salon des Instituts gekommen, dass seine Jacke versengt wurde, bevor Lucie ihn fortziehen konnte.

»Ich meine, sieh dir an, wie stark es schneit«, fügte Lucie jetzt hinzu.

»Vielleicht«, sagte Cordelia. Sie warf einen Seitenblick auf James, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Helle Flocken landeten in seinem dunklen Haar.

Aber sie dachte den Gedanken nicht zu Ende, da sie inzwischen das Institut erreicht hatten. In der Eingangshalle stampften sie den Schnee von ihren Schuhen und hängten ihre Mäntel neben Monturen und einem Sortiment von Waffen an Haken bei der Tür. James läutete eine der Dienstbotenglocken – vermutlich, um Will und Tessa zu informieren, dass sie wieder zurück waren – und schlug dann vor: »Wir sollten in eines der Schlafzimmer gehen. Da sind wir ungestört.«

Wenn sie in der Curzon Street gewesen wären, hätten sie sich natürlich keine Sorgen machen müssen, dass Will und Tessa sie belauschen konnten. Aber James hatte versprochen, im Institut zu bleiben, solange Tatiana frei herumlief, und Cordelia glaubte ohnehin nicht, dass sie es in der Curzon Street ausgehalten hätte.

»In dein Zimmer«, sagte Lucie sofort. »In meinem herrscht Chaos.«

James’ Zimmer. Cordelia war nicht oft dort gewesen – sie hatte nur verschwommene Erinnerungen daran, wie sie nach ihrer Ankunft in London James hatte besuchen wollen, eine Ausgabe von Layla und Madschnun in der Hand, und ihn mit Grace in diesem Zimmer vorgefunden hatte. Hätte sie ihn doch damals nur gleich aufgegeben, statt diese Farce so lange mitzumachen. Sie schwieg, als sie durch die Kapelle gingen, die jetzt unbeleuchtet und nicht dekoriert vor ihnen lag. Erst vor wenigen Wochen waren James und sie hier getraut worden; helle Blumenkränze hatten die Bänke und die Gänge geschmückt. Auf dem Weg zum Altar war sie über zerdrückte Blütenblätter geschritten und hatte deren cremigen Tuberosen-Duft gerochen.

Sie schaute zu James, doch er schien in Gedanken versunken. Natürlich konnte sie nicht erwarten, dass er mit diesem Ort das Gleiche verband wie sie: Wahrscheinlich empfand er ihn nicht wie ein scharfes Messer im Herzen.

James führte sie alle in sein Zimmer. Es wirkte viel ordentlicher als damals, als er noch hier gewohnt hatte – vermutlich, weil es fast leer war. Nur am Fußende des Betts stand eine offene Truhe. Cordelia erkannte darin James’ Kleidung, die er aus ihrem Haus mitgenommen hatte, und ein paar Kleinigkeiten. Blitzte da Elfenbein auf? Bevor sie genauer hinsehen konnte, hatte James den Deckel der Truhe mit dem Fuß geschlossen. Er wandte sich Jesse zu: »Schließ bitte die Tür ab.«

Jesse zögerte und drehte sich dann zu Cordelias Überraschung zu ihr um. »Cordelia«, sagte er. »Lucie hat so viel von dir erzählt, dass ich das Gefühl habe, als würde ich dich kennen. Aber in Wahrheit … bin ich fast ein Fremder für dich. Wenn du lieber allein mit James und Lucie reden möchtest …«

»Nein.« Cordelia streifte ihre Handschuhe ab und schob sie in die Manteltaschen. Sie schaute von Lucies besorgter Miene zu James’ ernstem Gesicht und wieder zu Jesse. »Wir stehen alle auf die eine oder andere Art mit Belial in Verbindung«, sagte sie. »Lucie und James, weil sein Blut auch in ihren Adern fließt. Du wegen der ungeheuerlichen Weise, wie er dich kontrolliert hat. Und ich, weil ich Cortana trage. Er fürchtet und hasst uns alle. Du bist genauso Teil dieser Geschichte wie jeder andere von uns.«

Jesse erwiderte ihren Blick. Sie konnte durchaus verstehen, warum Lucie sich zu ihm hingezogen fühlte, dachte Cordelia. Er war attraktiv, aber das war nicht alles. Er strahlte eine Intensität, eine konzentrierte Aufmerksamkeit aus, als würde er alles in seiner Umgebung sorgfältig ins Auge fassen. Diese Vorstellung weckte in seinem Gegenüber den Wunsch, von ihm ins Auge gefasst zu werden. »In Ordnung«, sagte er. »Dann schließe ich die Tür jetzt ab.«

Sie verteilten sich ein wenig unbeholfen im Raum: James setzte sich auf die Truhe, Cordelia in den Sessel, Lucie auf James’ Bett, und Jesse nahm auf der Fensterbank Platz, mit dem Rücken gegen das kalte Glas gelehnt. Dann schauten alle erwartungsvoll Cordelia an.

»Es geht um den Traum, von dem du erzählt hast«, erklärte sie. »Um das, was Belial gesagt hat: ›Sie erwachen.‹«

»Ich habe keine Ahnung, was damit gemeint ist«, räumte James ein. »Aber Großvater mag Rätsel. Ganz gleich, ob sie eine Lösung haben oder nicht.«

»Autsch – nenn ihn nicht Großvater«, stöhnte Lucie. »Das klingt so, als hätte er uns während unserer Kindheit Huckepack genommen.«

»Ich bin mir sicher, das hätte er getan, wenn es darum gegangen wäre, uns Huckepack einen Vulkan hinaufzutragen und dann Luzifer zu opfern«, schnaubte James.

»Dich hätte er niemals geopfert«, sagte Lucie gereizt. »Er braucht dich.«

Jesse räusperte sich. »Ich glaube, Cordelia wollte uns etwas sagen?«

James richtete den Blick auf sie, obwohl Cordelia bemerkte, dass seine Augen rasch abschweiften, als könnte er es nicht ertragen, sie direkt anzusehen. »Daisy?«

»Ja«, sagte sie und erzählte ihnen rasch vom Cabaret de l’Enfer, von Madame Dorothea und ihren Worten, die – theoretisch – von ihrem Vater stammten. »›Sie erwachen‹«, sagte sie schaudernd. »Normalerweise hätte ich das alles wahrscheinlich für Unsinn gehalten, doch während Liliths Angriff hat sie dieselben Worte benutzt. Dabei bin ich nicht sicher, ob sie überhaupt wusste, was sie bedeuten«, fügte Cordelia hinzu. »Sie sagte: ›Belial hat seine Pläne nicht aufgegeben. Auch ich habe das Raunen im Wind gehört. Sie erwachen.‹«

Als sie ihren Bericht beendet hatte, seufzte Lucie. »Warum sind prophetische Ankündigungen immer so vage ? Warum gibt es nicht ein paar Informationen darüber, wer erwacht, oder warum wir aufpassen sollten?«

»Aber Belial wollte, dass ich es höre«, erwiderte James. »Er sagte: ›Hörst du das, mein Enkelsohn? Sie erwachen!‹ Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er damit nicht einen Wurf Welpen irgendwo in Oxfordshire meinte.«

»Seine Worte sollen dir Angst machen. Genau darum geht es«, sagte Jesse. Alle Blicke hefteten sich auf ihn. »Damit will er dich kontrollieren. Meine Mutter hat diese Methode oft angewendet – tu dieses oder jenes oder fürchte dich vor den Konsequenzen.«

»Aber hier gab es keine Befehle, keine Forderungen«, wandte James ein. »Nur diese Warnung.«

»Ich glaube nicht, dass Belial Angst empfindet«, meinte Jesse. »Nicht so wie wir. Er will Dinge ergreifen und besitzen. Und er empfindet Wut, wenn nicht nach seinem Willen gehandelt wird. Angst ist für ihn ein menschliches Gefühl. Er weiß, dass sie Sterbliche dazu bringt, sich irrational zu verhalten. Vielleicht glaubt er, dass wir im Kreis rennen, wenn er uns Angst einjagt, und er dann leichter das tun kann, was er vorhat.« Jesse seufzte. »Was auch immer das sein mag.«

»Belial hat nur vor einer einzigen Sache Angst«, sagte James. »Vor Cordelia.«

Jesse nickte. »Er will nicht sterben. Wenn er sich also vor etwas fürchtet, dann vor Cortana, in Cordelias Händen.«

»Vielleicht meint er nur, dass eine Horde von Dämonen erwacht ist«, überlegte Lucie. »Dämonen, die er uns auf den Hals hetzen will.«

»Er hätte jederzeit eine ganze Dämonenarmee aufstellen können«, bemerkte James. »Warum ausgerechnet jetzt?«

»Vielleicht brauchten sie eine militärische Ausbildung«, mutmaßte Lucie. »Die meisten Dämonen sind ja nicht wirklich diszipliniert , oder? Selbst wenn ein Höllenfürst sie kommandiert.«

Cordelia versuchte, sich vorzustellen, wie Belial mit einer Horde Dämonen militärische Grundübungen exerzierte. Doch es gelang ihr nicht. »Lucie«, setzte sie an und zögerte. »Mit deinen Kräften könnten wir … Na ja, glaubst du, es wäre klug, wenn wir versuchen … meinen Vater durch dich zu erreichen? Um herauszufinden, ob er mehr weiß.«

Lucie zog eine unbehagliche Miene. »Ich glaube nicht, dass wir das tun sollten. Ich habe schon einmal einen unwilligen Geist heraufbeschworen, und das Ganze ist … unangenehm. Als würde man ihn foltern.« Sie schüttelte den Kopf. »Das möchte ich deinem Vater nicht antun.«

»Möglicherweise war es ja gar nicht dein Vater, der zu dir gesprochen hat«, sagte Jesse. »Die Worte ›Sie erwachen‹ weisen zwar darauf hin, dass es sich um einen Geist handelte, der wusste, wer du bist. Aber dieser Geist hat sich vielleicht als dein Vater ausgegeben.«

»Ich weiß«, räumte Cordelia ein. Aber ich wünsche mir so sehr, dass es mein Vater war. Ich hatte keine Gelegenheit, mich richtig von ihm zu verabschieden.

»Wenn du versuchen könntest, ihn zu erreichen, Lucie«, sagte sie. »Nicht, um ihn zurückzuholen, sondern einfach nur, um zu überprüfen, ob er ein Geist ist, der irgendwo in der Zwischenwelt schwebt …«

»Das habe ich, Cordelia«, entgegnete Lucie. »Ich habe es versucht – und nein, ich habe nichts gespürt. Dein Vater schien nirgendwo zu sein, wo ich … ihn erreichen konnte.«

Cordelia zuckte zusammen, fast so, als hätte man sie geohrfeigt. Lucies Ton war so kalt – obwohl vermutlich nicht kälter als ihr eigener, als sie Lucie im Ballsaal angefahren hatte, dachte sie. Auch James und Jesse wirkten verwundert. Doch bevor jemand etwas sagen konnte, klopfte es laut an der Tür – weniger ein Klopfen als vielmehr ein Geräusch, als würde jemand mit einem Hammer gegen die Tür schlagen. Alle fuhren zusammen, bis auf James, der die Augen verdrehte.

»Bridget«, rief er. »Ich habe dir doch gesagt …«

»Deine Eltern schicken mich, um dich zum Abendessen zu rufen«, fauchte Bridget. »Wie ich sehe, hast du die Tür verriegelt. Weiß der Himmel, was du da drinnen treibst. Und wo ist deine Schwester?«

»Lucie ist hier bei mir«, rief James. »Wir führen eine private Unterhaltung.«

»Pah!«, stieß Bridget hervor. »Habe ich dir schon mal das Lied von dem jungen Prinzen vorgesungen, der nicht zum Essen kommen wollte, als seine Eltern ihn riefen?«

»Oje«, murmelte Lucie. »Alles, nur kein Lied.«

Ein hübscher junger Mann war Edward der Prinz,

Trug stets nur das feinste Tuch.

Doch eines dunklen Tages erschien er nicht zum Essen,

Auch nicht auf der Eltern Gesuch.

Jesse zog die Augenbrauen hoch. »Ist das eine echte Ballade?«

James winkte ab. »Du wirst dich noch an Bridget gewöhnen. Sie ist … exzentrisch.«

Bridget sang weiter:

Der Vater, der weinte, die Mutter, die jammerte,

Doch Edward wollte und wollte nicht hören.

Noch zur gleichen Nacht überfiel ihn ein Räuber

Und schnitt ihm ab beide Öhren.

Cordelia musste lachen, trotz ihrer Sorgen. James schaute sie an und lächelte – sein echtes Lächeln, das sie innerlich dahinschmelzen ließ. Oje.

»Ich glaube, du würdest selbst ohne Ohren gut aussehen, James«, sagte Lucie, während Bridget davonstapfte. »Du könntest dir einfach die Haare wachsen lassen und die Löcher damit verdecken.«

»Ein wunderbarer Rat von einer liebenden Schwester«, meinte James und sprang von der Truhe. »Cordelia, wolltest du zum Abendessen bleiben?«

Cordelia schüttelte den Kopf. Es würde nur wehtun, mit Will und Tessa in einem Raum zu sein. Dazu kamen noch die Spannungen mit Lucie, die nicht ausgeräumt werden konnten, solange sie von anderen umgeben waren. »Ich sollte besser zu meiner Mutter zurückkehren.«

James nickte nur. »Dann begleite ich dich hinaus.«

»Gute Nacht«, sagte Lucie, nicht direkt zu Cordelia. »Jesse und ich werden im Esszimmer die Stellung halten.«

Nach einem sorgfältigen Blick erst in die eine, und dann in die andere Richtung führte James Cordelia durch den Gang und die Treppe hinab. Aber ihre heimliche Flucht wurde vereitelt: Plötzlich erschien Will auf dem Treppenabsatz. Er war gerade dabei, seine Manschettenknöpfe zu richten, und strahlte vor Freude, als er Cordelia entdeckte. »Meine Liebe«, sagte er. »Wie schön, dich zu sehen. Kommst du aus Cornwall Gardens? Wie geht es deiner Mutter?«

»Oh, sehr gut, danke«, antwortete Cordelia. Doch dann wurde ihr klar: Wenn ihre Mutter wirklich in so guter Verfassung wäre, hätte sie selbst kaum einen Grund, sich von James und dem Institut fernzuhalten. »Allerdings ist sie sehr müde, und wir sind natürlich alle besorgt und hoffen, dass sie wieder zu Kräften kommt. Risa versucht, sie wieder aufzupäppeln, mit vielen … Suppen.«

Suppen? Cordelia wusste nicht, warum sie das gesagt hatte. Vielleicht, weil ihre Mutter ihr immer erzählt hatte, dass Ash-e Jo , eine zitronige Graupensuppe, alles kurieren konnte.

»Suppen?«

»Suppen«, wiederholte Cordelia bestimmt. »Risa kümmert sich wirklich sehr gut um meine Mutter, aber natürlich möchte Mâmân mich so oft wie möglich bei sich haben. Ich lese ihr vor …«

»Ah, irgendetwas Interessantes? Ich suche immer nach neuer Lektüre«, sagte Will, der inzwischen seine Manschettenknöpfe geschlossen hatte. Sie waren mit gelbem Topaz besetzt. Die Farbe von James’ Augen.

»Äh … nein«, antwortete Cordelia. »Eigentlich nur sehr langweilige Sachen. Bücher über … Ornithologie.« Wills Augenbrauen wanderten nach oben, doch James sprang bereits in die Bresche.

»Ich muss Cordelia jetzt wirklich nach Hause bringen«, sagte er und legte ihr eine Hand auf den Rücken. Die ganz normale Geste eines Ehemanns, nicht im Geringsten bemerkenswert. Doch für Cordelia fühlte es sich an wie ein Blitzschlag zwischen den Schulterblättern. »Ich bin gleich wieder zurück, Vater.«

»Nun, Cordelia, wir alle hoffen, dass du bald wiederkommst«, sagte Will. »James verzehrt sich förmlich nach dir. Unvollständig ohne seine bessere Hälfte, stimmt’s, James?« Pfeifend stieg er die Treppe hinauf und verschwand dann durch den Gang.

»Weißt du«, sagte James nach langem Schweigen, »als ich zehn war und mein Vater allen meine Zeichnungen zeigte, die ich von mir als Jonathan Shadowhunter gemacht hatte, wie er einen Drachen tötet … Damals dachte ich, meine Eltern könnten mich nicht noch stärker demütigen. Aber ich habe mich wohl geirrt. Er hat sich gerade selbst übertroffen.«

»Dein Vater ist ein Romantiker, das ist alles.«

»Das ist dir also aufgefallen?« James’ Hand lag noch immer auf ihrem Rücken, und Cordelia besaß nicht die Willenskraft, ihn zu bitten, er möge sie von dort wegnehmen. Sie ließ sich von ihm nach unten führen, wo sie in der Eingangshalle ihren Mantel nahm, während James sich auf die Suche nach Davies machte, einem der Dienstboten des Instituts, damit er die Kutsche vorfuhr.

Kurz darauf gesellte sie sich zu ihm auf die Eingangstreppe. James trug keine Jacke, und der eisige Wind zerzauste seine dunklen Haare, die seine Wangen und seinen Nacken küssten. Als er sie kommen sah, atmete er aus – eine weiße Wolke – und griff in seine Tasche.

Zu Cordelias Überraschung holte er ein Paar Handschuhe heraus. Ihre Handschuhe. Hellgraues Ziegenleder mit einem Muster aus Blättern – obwohl sie jetzt sehr zerknittert und auch ein wenig fleckig wirkten, als wären Regentropfen darauf gefallen.

»Die hast du vergessen, als du nach Paris gefahren bist«, sagte James mit sehr ruhiger Stimme. »Ich wollte sie dir zurückgeben. Entschuldige … Ich habe sie die ganze Zeit mit mir herumgetragen und wollte sie dir schon längst geben.«

Verwirrt nahm Cordelia die Handschuhe entgegen. »Aber … warum hast du sie mit dir herumgetragen?«

Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, eine typische Geste. »Ich will ehrlich zu dir sein. Ganz ehrlich, denn ich glaube, das ist unsere einzige Hoffnung, aus dieser Situation herauszukommen. Und ich hoffe noch immer, Daisy. Ich werde dich nicht belästigen , was dich und mich betrifft, aber ich werde uns auch nicht aufgeben.«

Sie musterte ihn überrascht. Trotz des Scherzes auf der Treppe im Haus, er wäre gedemütigt worden, lag nun eine stille Entschlossenheit in seinem Gesicht, in seinen Augen. Sogar eine Art stählerner Stolz. Er schämte sich nicht für seine Gefühle – so viel war klar.

»Ich bin dir in jener Nacht gefolgt«, sagte er. »In der Nacht, in der du gegangen bist. Ich bin dir zu Matthews Wohnung und dann zum Bahnhof gefolgt. Und ich war auf dem Bahnsteig … und habe gesehen, wie du in den Zug gestiegen bist. Ich wäre dir weiter gefolgt, aber mein Vater hatte mich mit einer Ortungsrune in Waterloo ausfindig gemacht. Lucie war verschwunden, und ich musste ihm bei der Suche nach ihr helfen.«

Cordelia blickte auf die Handschuhe in ihrer Hand. »Du warst dort? Auf dem Bahnsteig?«

»Ja«, bestätigte James und legte ihre Hand über die Handschuhe. Seine Finger waren rot vor Kälte, die Nägel bis zum Nagelbett abgekaut. »Ich wollte, dass du es weißt. Ich bin dir in dem Moment gefolgt, als mir bewusst wurde, dass du gegangen warst. Ich wollte nicht warten, bis sich verletzter Stolz meldete oder etwas in der Art. Ich begriff, dass du gehen wolltest, und bin dir nachgelaufen. Denn wenn jemand geht, den du liebst, setzt du alles daran, diese Person zurückzubekommen.«

Jemand, den du liebst. Sein Gesicht war nur Zentimeter von ihrem entfernt. Ich könnte mich auf die Zehenspitzen stellen und ihn küssen , überlegte sie. Er würde den Kuss erwidern. Ich könnte die schreckliche Last ablegen, die ich trage, diese mahnende Last der Vorsicht: Pass auf. Denn du könntest wieder verletzt werden.

Doch dann blitzte Matthews Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Matthew und die Lichter von Paris und all die Gründe, warum sie weggelaufen war. Sie hörte das Knarren der Kutschenräder, die auf den Innenhof rollten, und wie bei Aschenputtel um Mitternacht war der Zauber gebrochen.

»Danke«, sagte sie. »Für die Handschuhe.«

Sie stieg die Treppe hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen und zu vergewissern, ob James ihr nachschaute.

Als die Institutskutsche in die violettgraue Londoner Abenddämmerung hinausrumpelte, kam ihr plötzlich ein Gedanke: Wenn James gesehen hat, wie ich in den Zug gestiegen bin, dann kann er nicht länger als eine Stunde mit Grace verbracht haben, vermutlich weniger. Und dann … ist er vor ihr geflohen? Aber was könnte seine Gefühle so plötzlich verändert haben?

Würde sich jemals irgendetwas wieder vertraut anfühlen? James war sich nicht sicher. Hier saß er nun, mit seiner Familie beim Abendessen im Esszimmer, wo er schon Tausende von Mahlzeiten eingenommen hatte. Und doch hatten die Ereignisse der letzten Wochen bewirkt, dass sich alles fremd anfühlte. Sein Blick fiel auf den Geschirrschrank mit den Glastüren und den zarten floralen Intarsien. Er erinnerte sich noch daran, wie seine Mutter ihn bei Shoolbred’s bestellt hatte, als Ersatz für das hässliche viktorianische Monster, das vorher dort gestanden hatte. Sein Blick wanderte weiter: zu den schmalen, eleganten Stühlen mit den geschnitzten Rückenlehnen in der Form von Farnblättern – von denen Lucie als Kind behauptet hatte, es wären kriegerische Piratenschiffe – über die hellgrüne Tapete bis hin zu den lilienförmigen Lampen aus weißem Glas zu beiden Seiten der kannelierten Porzellanvase auf dem Kaminsims, die Tessa jede Woche mit frischen Blumen füllte, selbst im Winter.

Nichts von alldem hatte sich verändert. Nur er selbst. Schließlich hatte er geheiratet und war in sein eigenes Haus gezogen. Schon bald würde er die Volljährigkeit erreichen, und der Rat würde ihn als Erwachsenen anerkennen. Aber jetzt fühlte er sich, als hätten ihn die Umstände gezwungen, wieder zu enge Kinderkleidung zu tragen – Sachen, denen er längst entwachsen war.

»Und was denkst du, James?«, fragte seine Mutter.

James blickte auf und hatte sofort Gewissensbisse. Er hatte nicht zugehört. »Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Wir haben gerade über die Weihnachtsfeier gesprochen«, berichtete Lucie. »Bis dahin sind es nur noch drei Tage.« Sie warf ihm einen mahnenden Blick zu, als wollte sie sagen: Ich weiß, dass du nicht zugehört hast. Aber haben wir nicht vorhin genau darüber gesprochen?

»Wirklich?« James runzelte die Stirn. »Wollen noch immer alle kommen?«

Seine Eltern legten sehr großen Wert auf die Tradition der Weihnachtsfeier des Instituts – eine Tradition, die unter Charlotte und Henry begonnen hatte. Die beiden hatten damals beschlossen, es wäre egal, dass Schattenjäger den weltlichen Feiertag nicht begingen. Er war in London so allgegenwärtig und den ganzen Dezember über in jeder Ecke der Stadt so präsent, dass sie den Wert eines festlichen Ereignisses erkannt hatten, auf das sich die Brigade in den langen, kalten Wintermonaten freuen konnte. Die Herondales hatten die Tradition eines Balls Ende Dezember fortgesetzt, und James wusste, dass sich seine Eltern auf einer der Weihnachtsfeiern des Instituts verlobt hatten.

»Ja, es ist wirklich seltsam«, bestätigte Tessa. »Aber die Einladungen wurden Anfang des Monats verschickt, vor all den Problemen, die wir jetzt haben. Wir hatten angenommen, einige Gäste würden vielleicht absagen, aber das ist nicht der Fall.«

»Die Feier ist wichtig für die Londoner Schattenjäger«, sagte Will. »Und der Erzengel weiß, dass es helfen wird, die Stimmung in der Brigade zu heben.«

Lucie warf ihrem Vater einen skeptischen Blick zu. »Ja, eine wahrhaft großherzige Tat … die Durchführung einer Feier, die man selbst mehr liebt als alle anderen Festivitäten.«

»Meine liebe Tochter, diese Unterstellung kränkt mich zutiefst«, protestierte Will. »Alle Mitglieder der Brigade werden vom Institut erwarten, dass es den Ton angibt und demonstriert, dass die Schattenjäger als auserwählte himmlische Krieger weiterhin eine geschlossene Front gegen die Mächte der Hölle bilden. › Eine halbe Meil, eine halbe Meil …‹«

»Will!«, rief Tessa vorwurfsvoll aus. »Was habe ich gesagt?«

Will zog eine reuige Miene. »Kein ›Der Angriff der Leichten Brigade‹ bei Tisch.«

Tessa tätschelte sein Handgelenk. »Ja, genau.«

»Ist mit der Veranstaltung der Feier eine besondere Gefahr verbunden?«, fragte Jesse.

Eine vernünftige Frage. James hatte bereits bemerkt, dass dies Jesses Art entsprach: Er war meist ruhig und äußerte nur selten einen Gedanken – aber wenn, dann brachte er die Dinge auf den Punkt.

»Nicht, was Belial betrifft«, erklärte James. »Das Institut ist der sicherste Ort in ganz London. Wenn er mit seinen Dämonen irgendwie angreifen würde, dann würde sich die gesamte Brigade aus strategischen Gründen hierher zurückziehen.«

»Ich hatte eigentlich an meine Mutter gedacht«, sagte Jesse mit der gleichen ruhigen Stimme. »Eine Feier wie diese, wo so viele von euch an einem Ort versammelt sind … das könnte sie anziehen. Sie hierherlocken.«

Will betrachtete ihn nachdenklich. »Und was würde sie dann tun?«

Jesse schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Sie ist unberechenbar, aber auf jeden Fall hasst sie euch alle. Und sie hat eine besondere Abneigung gegen diese Weihnachtsfeiern. Sie hat oft davon gesprochen, dass man sie auf einer solchen Feier einmal gedemütigt hat, aber dass es die Brigade nicht interessiert hätte.«

Will seufzte. »Das war ich. Vor langer Zeit. Ich habe laut aus ihrem Tagebuch vorgelesen. Damals war ich zwölf. Und ich wurde ziemlich hart dafür bestraft, die Brigade war also sehr wohl auf ihrer Seite.«

»Ah, verstehe«, sagte Jesse. »Während meiner Kindheit dachte ich immer, es sei schrecklich, dass ihr so oft Unrecht widerfahren war. Erst später begriff ich, dass meine Mutter alles und jedes als Unrecht betrachtete, das man ihr antat. Sie sammelte förmlich Kränkungen, als wären es Porzellanfiguren: Sie holte sie gern hervor, sprach über sie und analysierte sie immer wieder, auf der Suche nach neuen Facetten des bösen Willens und Verrats. Diese eingebildeten Kränkungen waren ihr lieb und teuer … mehr als ihre Kinder.«

»Bei ihrem nächsten Schritt wird der Rat nicht so nachsichtig sein«, sagte Will streng. »Dann wird man ihr die Runenmale entziehen.«

»Vater«, tadelte Lucie und schaute demonstrativ in Jesses Richtung.

»Schon gut«, sagte Jesse. »Glaub mir. Nach allem, was sie mit mir gemacht hat …« Er legte seine Gabel ab und schüttelte den Kopf. »Ich versuche, nicht an Rache zu denken. Der Gedanke bereitet mir keine Freude, aber ich weiß, dass nun mal das getan werden muss, was nötig ist. Sie hat mir und Grace zu viel angetan, als dass sie noch eine Chance verdient hätte.«

Grace. Einen Moment lang konnte James nichts sagen – ihr Name schnürte ihm die Kehle zu. Der Gedanke an Grace war wie der Sturz in ein unendlich tiefes, schwarzes Loch, in eine Grube mit zahlreichen Spiegeln, die alle sein Bild zurückwarfen, wie er sich vor Scham wand.

Er sah, dass Lucie ihn anschaute, mit einem sorgenvollen Ausdruck in den blauen Augen. Sie konnte es nicht verstehen, das wusste er, aber sie spürte eindeutig seine Verzweiflung.

Sie räusperte sich und verkündete laut: »Ich dachte, da die Feier ja tatsächlich stattfindet, wäre das die beste Gelegenheit, um Jesse dem Rest der Brigade vorzustellen. Natürlich als Jeremy Blackthorn.«

Es war ihr gelungen, die Aufmerksamkeit ihrer Eltern auf etwas anderes zu lenken. Will beschrieb mit der Spitze seines Löffels langsam einen Kreis in der Luft. »Gute Idee, cariad

»Ich bin mir sicher, dass ihn sofort alle lieben werden«, sagte Lucie.

Jesse lächelte. »Ich wäre schon zufrieden, wenn ich nicht in der Stadt der Stille verrotten müsste.«

»Ach Unsinn«, sagte Tessa freundlich. »Der Rat hat mich akzeptiert, und er wird dich auch akzeptieren.«

»Jesse braucht etwas Neues zum Anziehen«, meinte Lucie. »Er kann nicht länger in James’ alten Sachen herumlaufen – sie sind ihm zu kurz.« Das stimmte. Jesse war größer als James, allerdings auch dünner. »Die Hälfte davon ist ausgefranst, und in allen Taschen findet man alte Zitronendrops.«

»Ich habe nichts gegen Zitronendrops«, sagte Jesse sanft.

»Natürlich«, rief Will aus. »Eine neue Garderobe für einen neuen Mann. Wir müssen dich zu Mr Sykes bringen …«

»Mr Sykes ist ein Werwolf«, erklärte Lucie.

»Und ein ausgezeichneter Schneider«, sagte Will. »An siebenundzwanzig von dreißig Tagen. An den restlichen Tagen schießt er mit seinen Farben und Schnitten ein wenig übers Ziel hinaus.«

»Wir sind nicht auf Sykes angewiesen«, versicherte Lucie im Theaterflüsterton und tätschelte Jesses Arm. »Wir setzen uns einfach mit Anna in Verbindung. Sie wird dir weiterhelfen.«

»Wenn ich der Brigade vorgestellt werden soll …« Jesse räusperte sich. »Ich würde gern den Fechtsaal nutzen. Ich bin im Kämpfen nur wenig bewandert und könnte viel stärker sein, als ich derzeit bin. Natürlich brauche ich nicht jede Fertigkeit zu beherrschen, denn ich bin schon ein wenig alt, um mit dem Lernen zu beginnen. Aber …«

»Ich werde mit dir trainieren«, bot James an. Die schwarze Grube war verschwunden; er saß wieder mit seiner Familie am Tisch. Erleichterung und Dankbarkeit machten ihn mitfühlend. Er wollte Jesse helfen. Und falls das zum Teil daran lag, dass er mit jemand anderem trainieren wollte als mit Matthew, so gestand er es sich zumindest im Moment nicht ein.

Jesse wirkte zufrieden. Will musterte die beiden mit einem Blick, der darauf hindeutete, dass ein walisisches Lied bereits am Horizont auf sie wartete. Zum Glück für alle Anwesenden tauchte jedoch Bridget plötzlich auf und zog eine finstere Miene, während sie die Tür hinter sich zuschlug. Sie ging zu Will und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Wills Augen leuchteten auf. »Meine Güte. Wir haben einen Anruf.«

Tessa schaute verwirrt. »Einen Anruf?«

»Einen Anruf!«, bestätigte Will. »Am Telefon . Bring es herein, Bridget.«

James hatte gar nicht mehr daran gedacht. Vor ein paar Monaten hatte Will eines der neuen irdischen »Telefone« im Institut anschließen lassen – obwohl James wusste, dass Magnus ziemlich viel mit Magie herumhantiert hatte, damit es funktionierte. Aber jetzt konnten die Institute es nutzen, um sich gegenseitig anzurufen. James war sich ziemlich sicher, dass irdische Telefone normalerweise über ein Kabel miteinander verbunden waren – was hier nicht der Fall war. Aber er hatte nichts sagen wollen.

Bridget kam mit einem schweren, hölzernen Apparat zurück. Sie hielt ihn auf Armeslänge von sich weg, als könnte er explodieren, während irgendwo im Inneren ununterbrochen eine Glocke wie ein Wecker läutete.

»Es rattert einfach immer weiter«, murrte Bridget und knallte den Apparat auf den Tisch. »Ich kann es nicht abstellen.«

»Das soll es ja«, sagte Will. »Lass es einfach hier, danke.« Er hob eine Art schwarzen Trichter ab, der an der Holzkiste befestigt war.

Sofort ertönte eine Stimme, die klang, als würde sie vom anderen Ende eines Tunnels rufen: »Identifizieren Sie sich!«

Will hielt den Trichter von seinem Kopf weg und zog eine gequälte Miene.

James und Lucie tauschten einen Blick. Die Stimme war unverkennbar: Albert Pangborn, der Leiter des Instituts in Cornwall. Zu Jesses Verwunderung tat Lucie mit einem breiten Grinsen so, als würden ihre Hände aneinanderkleben, was ihr einen missbilligenden Blick von Tessa einhandelte.

»Hier spricht Will Herondale«, sagte Will langsam und deutlich in die Sprechmuschel. »Sie haben mich angerufen.«

Albert schrie zurück: »Hier ist Albert Pangborn!«

»Ja, Albert«, sagte Will im selben bedächtigen Ton, »vom Institut in Cornwall. Du brauchst nicht zu schreien.«

»Ich wollte! Dir sagen! Wir haben diese Lady gefunden!«, schrie Albert. »Die, die gesucht wird!«

»Und welche Lady ist das, Albert?«, fragte Will. James war fasziniert: Es kam nur selten vor, dass sein Vater der ruhige und stille Teilnehmer einer Unterhaltung war.

»Die, DIE GESUCHT WIRD!«, brüllte Albert. »Von der Adamant-Zitadelle!«

Jesse erstarrte, als wäre ihm das Blut in den Adern gefroren. Aus dem Augenwinkel sah James, wie Lucie bleich wurde. Will war plötzlich ganz aufmerksam und beugte sich über den Telefonhörer. »Albert, sag das noch mal. Ihr habt welche gesuchte Frau gefunden?«

»Titania Greenthorpe!«, schrie Albert.

»Meinst du Tatiana Blackthorn, Albert?«

»Wie auch immer sie heißt! Sie kann es selbst nicht bestätigen, verstehst du!«

»Was?«, fragte Will. »Was meinst du?«

»Wir haben sie draußen im Moor gefunden! Einer von uns, meine ich, nicht ich selbst! Sondern der junge Polkinghorn!«

»Im Moor?«, hakte Will nach.

»Im Bodmin Moor!«, bestätigte Albert. »Während der Patrouille! Sie war ausgepustet wie ein Licht, als wir sie fanden! Ist noch immer nicht aufgewacht! Ziemlich schwer verletzt, würde ich sagen!«

Es musste sehr seltsam sein, durch leere Moore zu patrouillieren, statt durch die Straßen einer Stadt voller Irdischer, dachte James ein wenig benommen.

Albert schrie noch immer: »Zuerst dachten wir, sie sei tot, um ehrlich zu sein. Ist ziemlich schlimm aufgeschlitzt worden! Wollten ihr nicht mal Iratzen auftragen! Waren nicht sicher, ob sie es verträgt!«

»Wo ist sie jetzt?«, fragte Will.

»Im Sanktuarium«, antwortete Albert, der sich etwas beruhigte. »Hielt es für das Beste.«

Will nickte, obwohl Pangborn ihn natürlich nicht sehen konnte. »Das ist gut. Behaltet sie dort, Albert.« Tessa deutete fieberhaft Zeichnungen auf ihrem Arm an, und Will fügte hinzu: »Aber tragt ihr keine Runenmale auf. Wir wissen nicht, wie viel dämonische Magie noch in ihr stecken könnte.«

»Erstaunlich, was junge Leute heutzutage alles anstellen, was, Will?«, bemerkte Pangborn. »Du weißt, was ich meine! Die jungen Leute! Nicht zu bändigen!«

»Ich bin ein Jahr älter als Tatiana«, erwiderte Will.

»Genau, ein Grünschnabel eben!«, schrie Albert. »Hör zu, ich weiß nicht, wie ihr das in London handhabt, aber ich beherberge lieber keine Kriminellen im Sanktuarium meines Instituts! Kommt jemand her, um diese Frau abzuholen?«

»Ja«, bestätigte Will. »Die Stillen Brüder werden sich in Kürze auf den Weg machen, um sie zu untersuchen. Behaltet sie so lange im Sanktuarium. Aber keine Runenmale und möglichst wenig Kontakt. Wenn ihr könnt, haltet euch von ihr fern.«

»Was sollen wir entfernen?«, schrie Albert, doch Will hängte bereits auf. Ohne ein weiteres Wort beugte er sich herab, um Tessa einen Kuss zu geben, die so verblüfft wirkte wie alle anderen. Dann ging er aus dem Esszimmer.

Natürlich würde er Jem kontaktieren. James brauchte sich diese Frage gar nicht erst zu stellen – er kannte seinen Vater.

Einen Moment herrschte Schweigen im Raum. Jesse saß mit weißem Gesicht da wie eine Statue und starrte auf die gegenüberliegende Wand.

Schließlich meinte Tessa: »Vielleicht hat sie mit Belial gebrochen. Sie könnte ihm … Widerstand geleistet oder ihm widersprochen haben, und er hat sie im Moor ausgesetzt.«

»Das wäre äußerst untypisch für sie«, erwiderte Jesse bitter. James dachte sofort, dass eine solche Vorgehensweise auch für Belial untypisch wäre: Wenn Tatiana sich gegen ihn wandte, würde er sie sicher ohne zu zögern töten, oder?

»Es besteht immer Hoffnung, Jesse«, sagte Tessa. »Niemand ist ein hoffnungsloser Fall, nicht einmal deine Mutter.«

Jesse sah sie an – verwirrt, dachte James. Jesse hat nie eine liebevolle Mutterfigur in seinem Leben gehabt . Er hat nie eine Mutter gekannt, die ihm Hoffnung schenkt, statt Verzweiflung oder Angst einzuflößen.

Steif schob Jesse seinen Stuhl zurück und stand mit einer kleinen Verbeugung auf. »Ich glaube, ich sollte besser ein paar Minuten allein sein«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Ich werde Grace bei meinem Besuch morgen die Nachricht überbringen müssen. Aber ich bin sehr dankbar für das Abendessen. Und die freundlichen Worte«, fügte er noch hinzu, bevor er den Raum verließ.

»Soll ich ihm nachgehen?«, fragte Lucie.

»Noch nicht«, sagte Tessa. »Manchmal muss man einfach allein sein. Arme Tatiana«, meinte sie dann zu James’ Überraschung. »Ich kann mir nicht helfen, aber ich frage mich, ob Belial sich all die Jahre einfach genommen hat, was er von ihr wollte, und sie dann im Moor zum Sterben zurückgelassen hat.«

James dagegen fragte sich, ob Tessa noch immer »arme Tatiana« denken würde, wenn sie wüsste, was Tatiana ihrem eigenen Sohn durch Grace angetan hatte. Was würde sie davon halten, wenn sie erfuhr, wie James sich jetzt fühlte? Die brennende Bitterkeit in seiner Kehle, das schreckliche Gefühl, fast Freude über Tatianas Leid zu empfinden, beschämte ihn.

Er packte sein nacktes Handgelenk und hielt es fest. Sosehr er es sich auch wünschte, er konnte seinen Eltern nicht von dem Armband erzählen. Seine Mutter dachte immer nur das Beste von allen, und als er ihr Gesicht sah, voller Mitgefühl für eine abscheuliche Frau, die ihr immer nur Schlechtes gewünscht hatte, brachte er es nicht über sich, das zu zerstören.