14

Niemals einfach

Die Wahrheit ist selten klar und niemals einfach.

Oscar Wilde, »Bunbury – Eine triviale Komödie für ernsthafte Leute«

Zwischen den Verhören las Grace Christophers Notizen.

Seine Schrift war gedrängt und ordentlich, eine Mischung aus Gedanken und Gleichungen, die sich wie ein Sternschnuppenschauer über die einzelnen Seiten ausbreiteten. Beim Lesen der Notizen hatte Grace das Gefühl, als würde sie ein Buch in einer anderen Sprache lesen, in einer Sprache, die sie fast fließend beherrschte. Es gab Momente, in denen sie sich begeistert aufsetzte, weil sie den Inhalt der Zeilen verstand, und Momente, in denen sie sich entmutigt fragte, ob sie jemals etwas begreifen würde.

Bruder Zachariah war so freundlich gewesen, ihr ein Arbeitsheft und einen Stift mitzubringen, damit sie sich eigene Notizen machen konnte. Sie war häufig so sehr in die Arbeit versunken, dass sie überrascht hochschreckte, wenn einer der Stillen Brüder kam und sie aus ihrer Zelle zu den Sprechenden Sternen brachte, für weitere Befragungen.

Dabei wurde sie weder gefoltert noch sonst irgendwie gequält. Aber ein endloser Strom flüsternder Stimmen in ihrem Kopf zwang sie, längst verschüttete und lange ignorierte Erinnerungen ans Licht zu holen. Wann hat dich deine Mutter das erste Mal mit in den Wald genommen? Wann bist du dir deiner Kräfte bewusst geworden und hast begriffen, was du damit bewirken kannst? Wann ist dir klar geworden, dass du den Befehlen eines Dämons folgst? Warum bist du nicht weggelaufen?

Und seit Tatiana aus der Adamant-Zitadelle geflohen war, war das Ganze noch schlimmer geworden. Wohin, glaubst du, könnte deine Mutter geflohen sein? Weißt du, ob deine Mutter ein Versteck hatte? Ist sie beim Dämon Belial?

Grace hatte keine Antworten. In ihrem Kopf war nichts außer der Feststellung, dass sie es nicht wusste. Dass ihre Mutter sie nie als ebenbürtig betrachtet und sich ihr nicht anvertraut hatte. Dass sie sich mehr als jeder andere wünschte, dass ihre Mutter ergriffen und bestraft würde. Eingesperrt an einem sicheren Ort, wo sie nie wieder jemandem schaden konnte.

Am Ende der Verhöre fühlte sich Grace immer schlaff wie ein Waschlappen und ließ sich von Bruder Zachariah in ihre Zelle zurückführen. Danach saß er so lange schweigend auf einem Stuhl vor der Gittertür, bis Grace nicht mehr zitternd auf ihrem Bett kauerte. Sobald sie wieder atmen konnte, ging er und ließ sie allein – was ihr am liebsten war.

Allein, um über magische Gleichungen und das Gewicht chemischer Stoffe nachzudenken, über Mathematik, die den Gesetzen der Physik widersprach, und über Diagramme, die über ihrem Bett zu schweben schienen, während sie auf den Schlaf wartete. Leuchtende Linien, die sich über die steinernen Wände zogen.

Grace saß an ihrem Schreibtisch und mühte sich mit einer besonders zähen Berechnung ab, als Bruder Zachariah an der Tür erschien. Er bewegte sich zwar lautlos durch die Stadt der Stille, klopfte aber ihr zuliebe immer an die Gitterstäbe, um sich anzukündigen, damit sie nicht erschrak, wenn er zu sprechen begann.

Du hast Besuch, Grace.

Überrascht hätte sie fast den Stift fallen lassen, richtete sich dann auf und machte im Geist eine schnelle Bestandsaufnahme ihres Erscheinungsbilds: ein schlichtes, elfenbeinfarbenes Kleid, die Haare mit einem Band zurückgebunden. Einigermaßen präsentabel. »Ist Christopher hier?«, fragte sie.

Zachariah schwieg einen Moment und erklärte dann: Dein Bruder, Grace. Jesse ist hier. Er ist vom Institut in London hierhergekommen.

Grace stellte fest, dass sie trotz ihres Schals am ganzen Körper fror. Das ist nicht möglich, dachte sie. Ich habe so darauf geachtet, nicht zu fragen … nicht nach Lucie und nicht nach …

»Jesse?«, flüsterte sie. »Kann ich ihn sehen … bitte?«

Zachariah zögerte, dann verschwand er. Mit zittrigen Beinen erhob Grace sich vom Stuhl. Jesse. Er war so lange Zeit nur für sie real gewesen. Doch jetzt war er lebendig, jemand, der im Londoner Institut gewesen war, jemand, der von dort hierher reisen konnte.

Elbenlicht tanzte über die Wände und erleuchtete ihre Zelle zusätzlich. Einen Moment später folgte Jesse dem Lichtschein.

Grace hielt sich an der Schreibtischkante fest, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Sie hatte gehofft, dass Lucie ihn zum Leben wiedererwecken würde. Sie hatte darauf vertraut. Aber ihn jetzt so zu sehen – exakt so, wie er am Tag vor seiner schrecklichen Runenzeremonie ausgesehen hatte: jung und hochgewachsen, gesund und lächelnd

Sie starrte ihn an, als er an die Tür trat und seine Elbenlichtfackel in eine Halterung an der Wand steckte. Er war derselbe junge Mann wie früher und dennoch ganz anders. Grace erinnerte sich nicht, dass er so neugierige Augen oder einen so ironischen, nachdenklichen Zug um den Mund gehabt hatte.

Jesse schob seine linke Hand durch die Gitterstäbe. Eine Hand mit einer großen schwarzen Voyance -Rune. »Grace«, sagte er. »Grace. Ich bin’s. Es hat funktioniert

Im Allgemeinen weinte Grace Blackthorn nicht – oder zumindest weinte sie keine echten Tränen. Das war eine der ersten Lektionen gewesen, die ihre Mutter ihr erteilt hatte. »Die Tränen einer Frau«, hatte sie gesagt, »sind eine ihrer wenigen Machtquellen. Sie sollten ebenso wenig freiwillig vergossen werden, wie ein Krieger sein Schwert in einen Fluss werfen sollte. Wenn du vorhast, Tränen zu vergießen, solltest du von vornherein wissen, was du damit bezwecken willst.«

Deshalb registrierte Grace jetzt erstaunt den salzigen Geschmack in ihrem Mund. Es war so lange her, dass sie geweint hatte. Sie ergriff die Hand ihres Bruders und hielt sie fest. Und als Jesse versicherte: »Grace, alles wird gut, Grace«, gestattete sie es sich, ihm zu glauben.

Ariadne musste sich eingestehen, dass es ein schönes Gefühl war, die Treppe in Annas Haus bis zu ihrer Wohnung hochzusteigen. Dann Annas Schlüssel aus ihrer perlenbesetzten Tasche zu holen und sich in ein bezauberndes, gemütliches Heim einzulassen, in dem es nach Leder und Rosen duftete. Gewöhn dich erst gar nicht daran, ermahnte sie sich, als sie aus der Kälte in den Eingangsbereich des Wohnhauses trat. Letztendlich konnte nichts Gutes dabei herauskommen. Mittlerweile war ihr mehr als bewusst, wie gefährlich es war, sich in Fantasien über ein Leben mit Anna zu verlieren. Außerdem kehrte sie gerade von der Suche nach einer eigenen Wohnung zurück. Das war ohnehin das Beste für sie beide.

Die Suche nach einer geeigneten Wohnung im Zentrum Londons hatte sich allerdings als schwieriger herausgestellt als das Aufspüren eines Naga-Dämons in einem Abwasserkanal. Alle bezahlbaren Wohnungen waren nicht bewohnbar – und umgekehrt. Ariadne bekam die gleiche Entlohnung wie alle anderen Schattenjäger. Aber da sie bei ihren Eltern gewohnt hatte, hatte sie ihnen den gesamten Betrag zur Begleichung ihrer Lebenshaltungskosten gegeben und nichts angespart.

Und die Wohnungen, die sie sich leisten konnte , sofern sie ihren Schmuck verkaufte, waren ohne Ausnahme schrecklich. Da war die Wohnung im Keller eines Hauses, deren Besitzer unbefangen verkündete, er spaziere des Öfteren nackt durchs Wohnzimmer und erwarte nicht, vorher anklopfen oder sich anderweitig ankündigen zu müssen. Dann war da die Wohnung voller Ratten – Haustiere, wie ihr die Vermieterin erklärte. Die restlichen Wohnungen, die Ariadne besichtigt hatte, waren samt und sonders schimmelig, mit defekten Wasserhähnen und Rissen im Putz. Schlimmer noch: Was auch immer Irdische von einer wohnungssuchenden Frau in Ariadnes Alter – und mit ihrer Hautfarbe – hielten: Nichts davon war schmeichelhaft. Und die meisten hatten keine Skrupel, es auch auszusprechen.

»Ich muss nach Whitechapel«, murmelte Ariadne vor sich hin, während sie die Treppe hinaufstieg. »Ich werde eine Bande messerschwingender Gangster auftun und mich ihnen anschließen, um etwas Geld zu verdienen. Vielleicht steige ich bis an die Spitze auf und werde ein Verbrechergenie.«

Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf und öffnete die Wohnungstür. Dahinter fand sie Anna vor, die auf ihr halb ausgeräumtes Bücherregal starrte. Auf allen umliegenden Oberflächen stapelten sich Bücher. Anna trug ein weites, weißes Hemd unter einer Seidenweste mit Goldknöpfen und balancierte auf einem gefährlich kippeligen Stuhl. »Ich ordne sie nach Farben«, erklärte sie und zeigte auf die Bücher. »Was hältst du davon, Liebes?«

»Wie willst du irgendeinen Titel finden?«, fragte Ariadne, die sich hütete, sich von diesem beiläufigen Liebes aus der Ruhe bringen zu lassen. Anna nannte alle so. »Oder erinnerst du dich daran, welche Farbe all deine Bücher haben?«

»Natürlich«, entgegnete Anna und hüpfte vom Stuhl. Ihr schwarzes Haar war zerzaust, die Nadelstreifenhose schmiegte sich förmlich um ihre Hüften – zweifellos eine Maßanfertigung für Annas schlanke Rundungen. Ariadne seufzte innerlich. »Tut das nicht jeder?« Anna betrachtete Ariadne genauer. »Was ist los? Wie läuft die Wohnungssuche?«

Die eine Hälfte von Ariadne wollte Anna ihr Herz ausschütten – zumindest hätten sie dann über den nackten Vermieter in Holborn lachen können. Doch sie hatte versprochen, so schnell wie möglich aus Annas Wohnung auszuziehen. Bestimmt freute sich Anna darauf, ihr Zuhause bald wieder für sich zu haben, oder?

»Es ist sehr gut gelaufen«, antwortete sie stattdessen und hängte ihren Mantel auf. Kann ich nicht einfach hierbleiben? , dachte sie, stellte diese Frage aber nicht. »Ich habe eine entzückende kleine Wohnung in Pimlico gefunden.«

»Großartig!« Mit einem lauten Rumms schob Anna ein grünes Buch ins Regal – ein bisschen energischer, als Ariadne erwartet hätte. »Wann kannst du einziehen?«

»Ach, am Ersten«, sagte Ariadne. »Neues Jahr, neuer Anfang, wie man so schön sagt.«

»Sagt man das?«, fragte Anna. »Egal. Wie ist die Wohnung denn?«

»Sie ist wirklich schön«, erwiderte Ariadne. Ihr war klar, dass sie sich immer tiefer hineinritt, doch sie konnte sich nicht mehr bremsen. »Hell und luftig und, äh, mit dekorativen Wandleuchtern.« Jetzt musste sie also innerhalb der nächsten zehn Tage nicht nur eine Wohnung in Pimlico finden, nein, diese musste auch noch »hell« und »luftig« sein. Mit »dekorativen Wandleuchtern«. Dabei war Ariadne sich nicht mal sicher, wie Wandleuchter eigentlich genau aussahen. »Winston wird begeistert sein.«

»Winston!«, sagte Anna. »Warum haben wir ihn nicht mitgenommen, als wir bei deinen Eltern waren?«

Ariadne seufzte. »Ich habe es versucht, hatte aber einfach keine Gelegenheit dazu. Deshalb habe ich schreckliche Schuldgefühle. Als hätte ich ihn ausgesetzt. Er wird überhaupt nicht verstehen, was los ist.«

»Na ja, er ist dein Vogel«, sagte Anna. »Winston war ein Geschenk, oder? Es ist dein gutes Recht, den Papagei zu dir zu holen.«

Ariadne seufzte erneut und setzte sich aufs Sofa. »Im Brief meiner Eltern stand, dass sie die Schlösser ausgetauscht haben. Ich komme nicht mal ins Haus. Wenigstens mag meine Mutter Winston. Sie wird sich gut um ihn kümmern.«

»Das ist Winston gegenüber schrecklich ungerecht. Er wird dich vermissen. Papageien hängen sehr an ihren Besitzern, habe ich gehört … und dass sie über hundert Jahre alt werden können.«

Ariadne zog eine Augenbraue hoch. »Ich wusste gar nicht, dass du so eine leidenschaftliche Fürsprecherin für die Gefühle von Vögeln bist.«

»Papageien sind sehr sensibel«, erwiderte Anna. »Bei ihnen dreht sich nicht alles nur um Piraten und Kekse. Ich weiß, dass wir uns heute Nachmittag mit den anderen in Chiswick treffen wollten. Zufälligerweise weiß ich aber auch , dass deine Eltern heute Abend bei der Konsulin sein werden – die ideale Gelegenheit, Winston zu befreien, damit er dein neues Leben mit dir teilen kann.«

»Bist du ganz spontan auf diese Idee gekommen?«, fragte Ariadne belustigt.

»Keineswegs«, antwortete Anna und warf einen Gedichtband von Byron in die Luft. »Ich habe in den letzten Tagen mindestens zwei, drei Stunden darüber nachgedacht. Und ich habe einen Plan ausgearbeitet!«

»Die Brüder der Stille wollten mich zuerst nicht zu dir lassen«, sagte Jesse lächelnd. Er hatte den Stuhl aus dem Gang so nah wie möglich an die Zellentür gezogen, während Grace ihren Schreibtischstuhl auf die andere Seite der Tür platziert hatte. Jetzt saß sie da und hielt Jesses Hand, während er ihr erzählte, was seit seiner Cornwall-Reise mit Lucie und Malcolm alles passiert war. Dabei staunte Grace die ganze Zeit, wie normal und lebendig er sich anfühlte. »Aber ich habe mich geweigert, mir meine Schutzzauber machen zu lassen, wenn sie mir nicht erlauben würden, dich bei dieser Gelegenheit zu sehen. Es würde schließlich keinen Sinn ergeben, wenn ich in die Stadt der Stille komme und dich nicht besuchen könnte, oder?«

»Manchmal frage ich mich, ob überhaupt irgendetwas noch Sinn ergibt«, sagte Grace. »Aber … ich bin so froh, dass du hier bist. Und dass Lucie das alles getan hat.«

»Ich werde ihr in deinem Namen danken.« Beim Gedanken an Lucie lächelte Jesse kurz – dieses verzückte Lächeln, das Grace immer wieder auf den Gesichtern ihrer eigenen Verehrer gesehen hatte. Sie fühlte einen Stich im Herzen, ignorierte ihn jedoch. Ihre Mutter hatte oft gesagt, wenn Jesse sich jemals verlieben sollte, würde er keine Zeit mehr für seine Mutter und seine Schwester haben. Aber ihre Mutter hatte sich bei so vielen Dingen geirrt. Außerdem konnte man nicht die Uhr zurückdrehen und Jesses Gefühle ungeschehen machen. Und er wirkte glücklich . Grace würde nichts ungeschehen machen wollen, selbst wenn sie es gekonnt hätte.

»Und ihr seid beide außer Gefahr«, sagte Grace. »Der Rat verdächtigt Lucie nicht, irgendetwas … getan zu haben?«

»Grace, mach dir keine Sorgen«, versicherte Jesse.

Aber sie konnte nicht anders. Es war unwahrscheinlich, dass der Rat den Unterschied zwischen Totenbeschwörung und dem, was Lucie getan hatte, verstehen oder sich überhaupt dafür interessieren würde. Jesse würde vorgeben müssen, dieser obskure Cousin der Blackthorns zu sein, und auch sie würde das vorläufig vortäuschen müssen. Vielleicht für immer. Trotzdem war es das wert.

»Letzte Nacht hat man Mutter wieder gefangen genommen«, berichtete Jesse. »Im Bodmin Moor. Ich vermute, dass Belial ihrer überdrüssig geworden ist und sie dort ausgesetzt hat.« Er verzog den Mund. »So hat es ja kommen müssen. Sie hat von einem Dämon Loyalität erwartet …«

»Wieder gefangen genommen?« Grace war so fassungslos, dass sie kaum ein Wort herausbrachte. »Also … wird man sie nach Idris bringen? Sie mithilfe des Engelsschwertes verhören?«

Jesse nickte. »Du weißt, was das bedeutet, oder? Du musst nicht länger hierbleiben, Gracie. Es war sehr tapfer von dir, dich aus freien Stücken den Brüdern der Stille zur Verfügung zu stellen, damit sie herausfinden, ob Mutter auch mit dir etwas angestellt hat – so wie mit mir. Aber wenn es so wäre, dann hätten sie es doch inzwischen sicher herausgefunden, oder? Und bestimmt hast du dich hier auch sicherer gefühlt«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, »aber wenn du mit mir ins Institut zurückkommst …«

»Aber du bist jetzt Jeremy Blackthorn«, sagte Grace, während sich ihre Gedanken überschlugen. »Eigentlich solltest du mich doch gar nicht kennen.«

»Innerhalb der Institutsmauern bin ich noch immer Jesse, noch immer dein Bruder«, sagte er. »Und ich möchte dich bei mir haben. Dort bist du in Sicherheit …«

»Man wird über mich tuscheln«, wandte Grace ein. »Tatianas Tochter. Die ganze Brigade wird mich anstarren.«

»Du kannst nicht den Rest deines Lebens in der Stadt der Stille verbringen, weil du Angst vor bösartigem Klatsch hast«, sagte Jesse. »Ich weiß, dass es Sachen gibt, zu denen Mutter dich gezwungen hat und für die du dich schämst, aber die Leute werden es verstehen …«

Grace hatte das Gefühl, als würde ihr Herz plötzlich in ihrem Magen pochen. In ihrem Kopf hatte sich ein heißes, lähmendes Entsetzen ausgebreitet. Die Vorstellung, ins Institut zu ziehen, jeden Tag mit James zusammenzutreffen … James, der sie angesehen hatte, als wäre sie das furchtbarste Monster, dem er je begegnet war. James, dem sie so großes Unrecht angetan hatte. Und dann waren da auch noch Cordelia, Charles, Matthew … und Lucie …

Vielleicht kannten sie die Wahrheit noch nicht – allem Anschein nach hatte James das Geheimnis bisher bewahrt. Aber bald würden die anderen ebenfalls Bescheid wissen.

»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich muss hierbleiben.«

»Grace, auch ich trage Spuren der schrecklichen Dinge, zu denen mich unsere Mutter gezwungen hat – im wahrsten Sinne des Wortes. Aber hier geht es um Lucies Familie. Sie werden es verstehen.«

»Nein«, widersprach Grace. »Das werden sie nicht.«

Jesses intelligente grüne Augen wurden schmal. »Haben die Brüder der Stille etwas gefunden?«, fragte er ruhig. »Hat sie etwas mit dir angestellt …?«

Grace zögerte. Sie könnte ihn anlügen, dachte sie. Sie könnte die Wahrheit noch ein bisschen länger unter Verschluss halten. Aber Jesse war der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Er musste erfahren, wer sie wirklich war. Alles. Wenn er nur wusste, was sie durchgemacht hatte, und nicht, was sie getan hatte, würde er sie nie wirklich kennen.

»Es ist noch schlimmer«, sagte sie.

Und dann begann sie zu erzählen, alles, ohne ein Detail auszulassen – angefangen vom Wald über das Armband und der Verlobung mit Charles bis hin zu James’ Forderung, sie zu verhaften. Nur eines ersparte sie ihm: die letzte Bitte ihrer Mutter an sie, ihre Kräfte dafür einzusetzen, auch Jesse zu verführen und ihn Belials Willen zu unterwerfen.

Während Grace sprach, lehnte sich Jesse langsam auf seinem Stuhl zurück und zog seine Finger aus ihrer Hand. Zitternd ballte sie ihre Fäuste im Schoß und verstummte schließlich. Die Geschichte war erzählt. Grace hatte das Gefühl, als hätte sie sich vor den Augen ihres Bruders die Pulsadern aufgeschnitten und statt Blut wäre Gift herausgelaufen.

»Du«, sagte Jesse und räusperte sich. Sie konnte sehen, dass er ebenfalls zitterte, obwohl er seine Hände in die Manteltaschen gestopft hatte. »Du hast James diese Dinge angetan? Und anderen auch … Matthew und Charles und … Christopher?«

»Christopher nicht«, protestierte Grace. »Ich habe meine Kräfte nie gegen ihn eingesetzt.«

»Tatsächlich.« Grace hatte Jesses Stimme noch nie so kalt gehört. »Lucie hat gesagt, du hättest dich mit ihm angefreundet. Und ich wüsste nicht, wie das sonst hätte passieren können. Wie konntest du nur, Grace? Wie konntest du das alles tun?«

»Welche Wahl hatte ich denn?«, flüsterte sie. »Mutter hat gesagt, es wäre eine großartige Gabe. Sie hat gesagt, ich wäre eine Waffe in ihrer Hand. Und wenn ich nur täte, was sie sagte, dann würden wir dich gemeinsam wiedererwecken …«

»Benutz mich nicht als Entschuldigung«, knurrte Jesse.

»Ich hatte wirklich das Gefühl, dass mir keine andere Wahl blieb.«

»Aber das stimmt nicht«, sagte er. »Du hattest eine Wahl.«

»Das weiß ich jetzt.« Sie versuchte, ihm in die Augen zu sehen, doch er wich ihrem Blick aus. »Ich war nicht stark genug. Aber jetzt versuche ich, stark genug zu sein. Deshalb bin ich hier. Und deshalb werde ich hier nicht weggehen. Ich habe James die Wahrheit gesagt …«

»Aber du hast es niemand anderem erzählt. Lucie weiß nichts davon. Und Cordelia … Was du mit ihrer Ehe gemacht hast, Grace …«

James hat es ihr nicht erzählt?, dachte Grace überrascht, obwohl sie kaum noch irgendetwas fühlen konnte. Sie war wie betäubt, als hätte man ihr einen Körperteil abgetrennt und der erste Schock über die Verletzung wäre noch nicht abgeklungen. »Ich kann es niemandem erzählen«, sagte sie. »Und ich hätte es dir auch nicht erzählen sollen. Es ist ein Geheimnis. Die Brüder der Stille wollen es geheim halten. Sie wollen die Informationen nutzen, um unsere Mutter über das, was sie wissen, im Un­klaren zu lassen.«

»Ich glaube dir nicht«, entgegnete Jesse tonlos. »Du versuchst, mich zu einem Komplizen bei deinem Betrug zu machen. Das kannst du vergessen.«

Grace schüttelte müde den Kopf. »Frag James«, sagte sie. »Er wird dir das Gleiche erzählen wie ich. Sprich mit ihm, bevor du mit jemand anderem sprichst. Er hat ein Recht darauf …«

Jesse sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umkippte und krachend auf dem Steinboden aufschlug. »Du bist die Letzte, die mir erklären sollte, was James’ Rechte sind!«, entgegnete er und riss die Elbenlichtfackel von der Wand. Seine Augen glänzten im Feuerschein … Waren das etwa Tränen?

»Ich muss gehen«, sagte er. »Mir ist übel.«

Dann verschwand er ohne ein weiteres Wort. Und mit ihm das Licht.

Thomas wäre lieber mit nach Chiswick House gefahren, als Christopher in der Bibliothek des Instituts zu helfen – sosehr er Kit auch mochte. Natürlich war er unendlich neugierig auf den verlassenen Ort, der einst seiner Familie gehört hatte. Aber er hatte auch das Gefühl, dass sowohl James als auch Matthew seine emotionale Unterstützung stärker benötigten als Christopher. (Christopher wirkte so heiter wie immer.) Allerdings fragte sich Thomas manchmal, ob er tatsächlich die starke, stillschweigende emotionale Unterstützung bot, die er bieten wollte. Oder ob er seine Freunde nur auf beunruhigende Weise anstarrte – worüber sie wahrscheinlich in seiner Abwesenheit sprachen.

Der entscheidende Faktor war letzten Endes … Alastair. Wie anscheinend so oft in letzter Zeit. Alastair war nach dem Treffen in der Devil Tavern direkt auf Christopher zugegangen und hatte angeboten: »Wenn du möchtest, kann ich dir in der Bibliothek bei den Recherchen helfen.«

Christopher hatte die Augenbrauen hochgezogen, dann aber nur gefragt: »Du kannst Persisch lesen, oder?«

»Und Sanskrit«, erwiderte Alastair. »Urdu, ein wenig Malaiisch, Tamil, Griechisch und ein kleines bisschen Koptisch. Falls das von Nutzen ist.«

Christopher machte den Eindruck, als hätte ihm jemand einen Korb voller Kätzchen mit Schleifen um den Hals geschenkt. »Wunderbar«, sagte er. »Wir treffen uns morgen früh in der Bibliothek.« Sein Blick zuckte zu Thomas, der sich bemühte, vollkommen unbeteiligt auszusehen. »Thomas, bist du auch noch mit dabei?«

Und da konnte Thomas nichts anderes antworten als Ja. Es war eine Sache, Christopher zu enttäuschen, aber etwas vollkommen anderes, den Eindruck zu erwecken, als hätte er sich plötzlich dagegen entschieden, Christopher in der Bibliothek zu helfen, weil Alastair dort sein würde.

Thomas war normalerweise niemand, der sich viele Gedanken über seine Kleidung machte. Es reichte ihm völlig, wenn sie nicht sonderbar war und keine Löcher oder Brandflecken hatte. Trotzdem wechselte er an diesem Morgen mindestens sechsmal die Jacke, bis er eine dunkelolivgrüne fand, die die Farbe seiner Augen betonte. Er bürstete sich die hellbraunen Haare auf vier oder fünf verschiedene Weisen, bevor er nach unten ging. Dort traf er auf Eugenia, die allein im Frühstückszimmer saß und eine Scheibe Toast mit Butter bestrich.

Sie musterte ihn. »Damit willst du auf die Straße gehen?«, fragte sie.

Thomas starrte sie entsetzt an. »Was?«

Eugenia kicherte. »Nichts. Du siehst gut aus, Tom. Viel Spaß mit Alastair und Christopher.«

»Du bist ein Quälgeist«, teilte er ihr mit. »Ein Quälgeist aus der Hölle.«

Im Institut angekommen, lief er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zur Bibliothek hinauf. Dabei ging er in Gedanken verschiedene bissige Repliken durch, die er Eugenia gegenüber hätte verwenden können, wenn sie ihm im richtigen Moment eingefallen wären. Als er die Tür zur Bibliothek öffnete, sah er sofort, dass er als Letzter eingetroffen war. Rasch ging er durch den mit schweren Eichentischen gesäumten Mittelgang und entdeckte Christopher zwischen den Regalen. Dieser hatte mehrere Bücher sorgfältig zu einer Art Tritthocker aufgestapelt, um an etwas im obersten Regalfach heranzureichen. Als er Thomas’ Schritte hörte, drehte er sich um und wäre fast von seinem Stapel gestürzt. Hastig rettete er sich mit heldenhaft wedelnden Armbewegungen und sprang dann hinunter, um Thomas zu begrüßen.

Alastair saß ein paar Meter weiter an einem der Tische mit den grünen Leselampen. Neben ihm erhob sich ein furchterregender Stapel aus großen, in Leder gebundenen Wälzern. Christopher gesellte sich mit Thomas zu ihm.

»Lightwood«, sagte Alastair und nickte erst Christopher und dann Thomas zu: »Lightwood Nummer zwei.«

»Tja, das ist wirklich etwas verwirrend«, sagte Christopher, während Thomas sich im Stillen ärgerte, dass Alastair ihn als Lightwood Nummer zwei bezeichnet hatte. »Aber sei’s drum. Wir sind hier, um mehr über Paladine herauszufinden.«

»Und genauer gesagt«, warf Alastair ein, »um meiner Schwester zu helfen, nicht länger einer zu sein.« Er seufzte. »Ich habe die hier durchgesehen«, sagte er und klopfte auf den Stapel, ein Sammelsurium aus Büchern in verschiedenen Sprachen. Thomas konnte nur einige davon identifizieren – Griechisch, Latein, Spanisch, Altenglisch.

»Du bist ein tapfererer Mann als ich«, sagte Christopher. Auf Thomas’ fragenden Blick hin fügte er hinzu: »Urkundensammlungen. Früher haben die Schattenjäger darin bedeutende Schlachten gegen Dämonen aufgezeichnet. Sehr ausführlich.«

»Oder – was noch häufiger der Fall war – hochgradig langweilige, ganz normale Dämonenkämpfe, an denen bedeutende Persönlichkeiten beteiligt waren. Institutsleiter und dergleichen. Und, vor langer Zeit, auch Paladine«, fügte Alastair hinzu.

»Hast du etwas herausgefunden?«, fragte Christopher.

»Rein gar nichts«, sagte Alastair knapp. »Alle Paladine, die ich gefunden habe, sind Paladine geblieben, bis sie in ihren Betten starben.«

»Ich glaube nicht, dass Schattenjäger-Paladine je den Wunsch hatten, nicht länger Paladine zu sein«, sagte Thomas.

Alastair verzog das Gesicht. »Nicht nur das. Glaubst du ernsthaft, ein Schattenjäger könnte sein Dasein als Paladin eines Engels beenden und trotzdem noch Schattenjäger bleiben – vorausgesetzt, der Engel schlägt ihn nicht tot? Der Rat würde ihm doch bestimmt die Runenmale entziehen und ihn verstoßen.«

»Weil Schattenjäger-Paladine an einen Engel gebunden sind«, sagte Thomas. »Deshalb sind diese Gelübde heilig. Den Dienst bei einem Engel zu quittieren, wäre ein Frevel.«

Alastair nickte.

»Was ist, wenn sie gegen ihr Gelübde verstoßen? Wenn sie etwas tun, das den Engel dazu veranlasst, die Verbindung mit ihnen zu lösen?«

»Worauf willst du hinaus?« Alastair sah ihn mit neugierigen Augen an; sie schimmerten samtig dunkel, eine Nuance heller als Schwarz. Für einen Moment vergaß Thomas, was er sagen wollte, bis Christopher ihn in die Rippen stieß.

»Ich meine Folgendes: Wenn du der Paladin eines Engels bist, aber schreckliche Dinge tust oder schreckliche Sünden begehst, dann würde der Engel dich wahrscheinlich verstoßen. Was wäre also, wenn Cordelia jede Menge gute Taten vollbringt? Sehr gute Taten, meine ich. Wenn sie Kranken Essen bringt, Notleidenden Kleidung gibt … Bettlern die Füße wäscht? Ich kann euch ansehen, dass ihr von der Idee nicht viel haltet, aber ich finde, dass wir trotzdem darüber nachdenken sollten.«

»Cordelia tut sowieso nur Gutes«, sagte Alastair unwirsch. »Na ja, mit Ausnahme von letzter Woche vielleicht«, fügte er hinzu.

Christopher wirkte beunruhigt, und Thomas vermutete stark, dass seine eigene Miene Ähnliches ausdrückte.

»Was denn?«, fauchte Alastair. »Sollen wir jetzt alle so tun, als wäre Cordelia nicht mit Matthew nach Paris durchgebrannt, weil James sie unglücklich gemacht hat … weil er immer nur Augen für die nichtssagende Grace Blackthorn hatte? Und jetzt sind alle zurück und wirken noch unglücklicher. Was für ein fürchterliches Chaos.«

»Jedenfalls ist es nicht James’ Schuld«, setzte Thomas zu einer Verteidigung an. »Er und Cordelia hatten eine Abmachung … Sie wusste …«

»Ich muss mir das nicht anhören«, erwiderte Alastair hitzig. Insgeheim hatte Thomas Alastairs Fahr-zur-Hölle-Miene immer geliebt – seine blitzenden, dunklen Augen und den harten Zug um seinen weichen Mund. Doch im Moment wollte Thomas nur zurückfauchen und James verteidigen. Obwohl er nicht ganz verhindern konnte, dass er Verständnis für Alastairs Gefühle hatte. Eugenia mochte ein Quälgeist sein, aber trotzdem musste Thomas zugeben, dass auch er keine hohe Meinung von einem Mann hätte, der seine Schwester heiratete und dann einer anderen nachweinte.

Allerdings bekam Thomas natürlich nicht die Chance, seine Gedanken auszusprechen. Alastair hatte sich bereits ein Buch von seinem Tisch geschnappt und bahnte sich einen Weg zwischen den Bücherregalen hindurch.

Thomas und Christopher sahen einander missmutig an. »Vermutlich hat er nicht ganz unrecht«, räumte Christopher ein. »Es ist wirklich ein Chaos.«

»Hast du neulich Abend bei deiner Unterhaltung mit James irgendetwas herausgefunden?«, fragte Thomas. »Über Grace oder …«

Christopher setzte sich auf den Tisch, den Alastair gerade verlassen hatte. »Grace«, sagte er, und seine Stimme klang irgendwie merkwürdig. »Falls James sie einmal geliebt hat, dann ist das jetzt jedenfalls nicht mehr der Fall. Er liebt Cordelia. Und ich glaube, für ihn ist ihre Abwesenheit so, als müsste ich die Wissenschaft und alle Forschungen aufgeben.« Christopher sah Thomas an. »Was hast du von Matthew erfahren?«

»Leider liebt er Cordelia ebenfalls«, antwortete Thomas. »Und auch er ist unglücklich, genau wie James. Und zum Teil ist er auch wegen James unglücklich. Er vermisst ihn und hat das Gefühl, als hätte er ihm unrecht getan. Gleichzeitig fühlt er sich ungerecht behandelt. Er hat den Eindruck, wenn James ihm je erzählt hätte, dass er Cordelia liebt, hätte er sich nie in sie verliebt. Aber jetzt ist es zu spät.«

»Ich frage mich ja …«, setzte Christopher an. »Glaubst du denn, dass Matthew Cordelia wirklich liebt?«

»Ich glaube, er sieht in Cordelia eine Art Absolution«, antwortete Thomas. »Er denkt, ihre Liebe würde alles Kaputte in seinem Leben wieder heil machen.«

»Ich glaube nicht, dass Liebe so funktioniert«, wandte Christopher nachdenklich ein. »Ich glaube, manche Menschen passen zueinander und andere nicht. Grace und James haben nicht zueinander gepasst. James und Cordelia passen viel besser zusammen.« Er nahm eine der Urkundensammlungen und hielt sie hoch, um den verblichenen, vergoldeten Buchrücken lesen zu können.

Thomas seufzte. »Ich glaube, ich habe nie groß darüber nachgedacht, ob James und Grace gut zusammenpassen. Ehrlich gesagt kenne ich Grace kaum.«

»Na ja, sie wurde all die Jahre von ihrer Mutter wie Rapunzel in einem Turm eingesperrt«, berichtete Christopher. »Allerdings verfügt sie trotzdem über einen ausgezeichneten akademischen Verstand.«

»Ach wirklich«, sagte Thomas und zog eine Augenbraue hoch.

»O ja! Wir hatten ein paar hervorragende Gespräche über meine Arbeit an den Flammenbotschaften. Und sie teilt meine Meinung in Bezug auf aktiviertes Mottenflügelpulver.«

»Christopher, wie kommt es, dass du so viel über Grace weißt?«

Christopher sah ihn mit großen Augen an. »Ich bin ein aufmerksamer Beobachter«, antwortete er. »Ich bin Wissenschaftler. Wir beobachten .« Erneut blickte er auf das Buch in seiner Hand. »Das hier wird uns nicht weiterhelfen. Ich muss es in das Regal zurückstellen, aus dem ich es genommen habe.«

Mit dieser überraschend förmlichen Aussage sprang er vom Tisch und verschmolz bald am östlichen Ende der Bibliothek mit den Schatten.

Thomas machte sich auf den Weg ans andere Ende der Bibliothek, wo Alastair zwischen den weiß flackernden Lampen, die in regelmäßigen Abständen auf den Tischen standen, im Schatten der Regale verschwunden war. Die gewölbten Buntglasfenster warfen scharlachrote und goldene Rauten auf den Boden, als Thomas um eine Ecke bog und dort Alastair vorfand. Er saß auf dem Boden, hatte den Kopf an die Wand gelehnt und hielt ein Buch locker in der Hand.

Als er Thomas sah, zuckte er zusammen, machte jedoch keine Anstalten, sich zu bewegen, als Thomas sich neben ihm niederließ. Eine ganze Weile hockten sie einfach nebeneinander und betrachteten das Bildnis des Erzengels an der Wand der Bibliothek.

»Tut mir leid«, sagte Thomas nach einiger Zeit. »Die Sache zwischen James und Cordelia … Ich hätte meine Meinung für mich behalten sollen. Obwohl James seit langer Zeit mein Freund ist, konnte ich sein Interesse an Grace nie nachvollziehen. Keiner von uns konnte das.«

Alastair wandte sich Thomas zu. Seit seiner Ankunft in London war sein Haar lang geworden und fiel ihm jetzt in die Augen – weich und dunkel, wie eine Rauchwolke. Thomas verspürte das unbändige Verlangen, Alastairs Haare zu berühren, die Strähnen zwischen seinen Fingern zu fühlen, und musste sich zwingen, seine Hände zu Fäusten zu ballen. »Ich bin mir sicher, sie würden das Gleiche über dich und mich sagen – wenn sie es wüssten«, erwiderte Alastair.

Thomas verschlug es fast die Sprache. »Über dich … und mich?«

»Wie es scheint, ist Grace für die Tollkühnen Gesellen ein Mysterium«, erklärte Alastair, »aber ich bin eine bekannte – und unerwünschte – Größe. Ich will damit nur sagen, sie würden es bestimmt genauso rätselhaft finden, dass du und ich …«

Thomas hielt es nicht länger aus. Er packte Alastairs Kragen, zog ihn zu sich heran und küsste ihn. Damit hatte Alastair eindeutig nicht gerechnet. Das Buch, das er in der Hand gehalten hatte, fiel zu Boden. Unsicher legte er eine Hand auf Thomas’ Arm, um nicht den Halt zu verlieren.

Doch er wich nicht zurück, sondern erwiderte den Kuss. Thomas öffnete seine Fäuste, fuhr mit den Fingern durch Alastairs Haar, so glatt wie raue Seide, und empfand eine unermessliche Erleichterung. Er hatte sich das hier schon so lange gewünscht. Und das, was zwischen ihnen im Sanktuarium passiert war, hatte es nur noch schlimmer gemacht. Dann verwandelte sich die Erleichterung plötzlich in Hitze, die wie flüssiges Feuer durch Thomas’ Adern strömte. Alastair küsste ihn leidenschaftlich, öffnete mit jedem Kuss seinen Mund etwas weiter, bis sich ihre Zungen in einem flackernden Tanz berührten. Zwischen den Küssen murmelte Alastair sanfte Worte auf Persisch: »Ey pesar, nik ze hadd mibebari kar-e jamal.« Seine Zunge fuhr über Thomas’ Unterlippe, woraufhin Thomas erschauerte und sich an Alastair drückte, während ihm jeder Kuss, jede Bewegung von Alastairs Körper fast den Atem raubte. »Ba chonin hosn ze to sabr konam?«

Und dann, genauso abrupt wie es begonnen hatte, war alles vorbei. Alastair zog sich zurück, eine Hand noch immer auf Thomas’ Arm, das Gesicht gerötet. »Thomas«, flüsterte er. »Ich kann das nicht.«

Thomas schloss die Augen. »Warum nicht?«

»Die Situation hat sich nicht geändert«, antwortete Alastair mit einer Stimme, die eher seinem üblichen Tonfall entsprach. Thomas spürte, wie der Bann gebrochen wurde, sich auflöste, als wäre da nie etwas gewesen. »Deine Freunde hassen mich. Und sie haben recht damit …«

»Ich habe es Matthew erzählt«, sagte Thomas.

Alastair riss die Augen auf. »Du hast was

»Ich habe mit Matthew gesprochen«, berichtete Thomas. »Über mich. Und dass ich … dass wir … dass ich dich mag.« Er räusperte sich. »Über dich und Charles wusste er schon Bescheid.«

»Na ja, Charles ist ja auch sein Bruder«, sagte Alastair mit seltsam mechanischer Stimme. »Und Matthew ist selbst ebenfalls … anders. Aber deine anderen Freunde …«

»Christopher wird es egal sein. Was James angeht … Er ist mit deiner Schwester verheiratet. Alastair, du bist bereits ein Teil von uns, ein Teil unserer Gruppe, ob es dir nun gefällt oder nicht. Du kannst meine Freunde nicht als Vorwand benutzen.«

»Das ist kein Vorwand .« Alastair hielt noch immer Thomas’ Jacke fest, lehnte sich noch immer in seine Richtung. Thomas konnte seinen Duft wahrnehmen: Rauch, Gewürze und Leder. Tief in seinem Inneren spürte er ein brennendes Verlangen, als hätte er glühende Kohle verschluckt. Doch ihm war klar, dass das nichts änderte. Alastair schüttelte den Kopf. »Mit Charles habe ich gelernt, dass es nicht immer nur gestohlene Momente sein dürfen. Aber genauso wenig dürfen wir andere verletzen, indem wir blind verfolgen, was wir wollen.«

»Du willst mich also«, sagte Thomas und empfand eine bittere Freude dabei.

Alastairs Augen wurden dunkel. »Wie kannst du das überhaupt fragen …«

Plötzlich ertönte ein lauter Knall, und beide blickten hoch und sahen Christopher, der einen Stapel Bücher trug, von denen eines gerade auf den Boden gefallen war. Er wirkte erfreut, sie zu sehen – als wäre es vollkommen normal, dass Thomas und Alastair auf dem Boden saßen und Alastair Thomas am Ärmel festhielt.

»Genug palavert, ihr beiden«, rief Christopher. »Ich hatte gerade eine Idee. Wir müssen sofort nach Limehouse.«