19

Spur von Leid

Ich wandere durch verbriefte Straßen,

Dort wo verbrieft die Themse treibt,

Und spür auf jeder Stirne lasten

Spur von Schwachheit, Spur von Leid

William Blake, »London«

Grace vermutete, dass es Abend war. Im Grunde hatte sie keine Möglichkeit, die Tageszeit zu bestimmen, abgesehen von der wechselnden Beschaffenheit der servierten Mahlzeiten: Zum Frühstück gab es Haferbrei, zum Mittag- und Abendessen Sandwiches. Gerade eben hatte ein Stiller Bruder ihr ein Sandwich mit Hammelfleisch und Johannisbeergelee gebracht. Sämtliche Mahlzeiten, die sie hier bekam, waren besser als das Essen bei ihrer Mutter.

Sie hatte außerdem zwei schlichte, weiße Leinenkleider erhalten, die in Farbe und Form an die Roben der Stillen Brüder erinnerten. Obwohl Grace annahm, dass es den Brüdern sogar egal gewesen wäre, wenn sie splitternackt in der Zelle herumgesessen hätte, kleidete sie sich jeden Tag sorgfältig an und flocht ihr Haar. Denn sie hatte das Gefühl, wenn sie es nicht tat, würde sie etwas von sich aufgeben. Und als an diesem Abend leise Schritte einen Besucher ankündigten, war sie froh, dass sie an der Routine festgehalten hatte.

Mit klopfendem Herzen setzte sie sich auf ihrem Bett auf. Jesse? Hatte er ihr verziehen? War er zurückgekommen? Sie wollte ihm so viel sagen, ihm erklären …

»Grace.« Christopher tauchte vor ihrer Zelle auf. Der sanfte Christopher. Der Schein der Fackeln im Gang, die Bruder Zachariah eigens für Grace angebracht hatte – die Brüder brauchten ja kein Licht –, verriet ihr, dass Christopher allein war. Er trug keinen Mantel und hatte eine Ledertasche über der Schulter.

»Christopher!«, flüsterte sie. »Hast du dich reingeschlichen?«

Er zog eine verwirrte Miene. »Nein, natürlich nicht. Bruder Zachariah hat mich gefragt, ob ich den Weg kenne, und ich habe Ja gesagt. Daraufhin hat er mich allein losgeschickt; er musste sich noch um andere Dinge kümmern.« Christopher hielt etwas Glänzendes in die Höhe. Ein Schlüssel! »Er hat gesagt, ich könnte in die Zelle hineingehen und dich besuchen. Er vertraut darauf, dass du nicht versuchen wirst zu fliehen – was ziemlich nett ist.«

In die Zelle? Grace war seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr in der Nähe eines anderen Menschen gewesen, ohne durch Gitterstäbe von demjenigen getrennt zu sein. Es war tatsächlich nett von Zachariah, einen Freund zu ihr in die Zelle zu lassen, dachte sie, während Christopher die Tür aufschloss. Als er sie aufstieß, quietschte sie in den Angeln. Da Freundlichkeit für Grace noch immer etwas Unerwartetes war, fühlte sie sich etwas durcheinander und fast schon unbehaglich.

»Leider gibt es hier nur den einen Stuhl«, sagte sie. »Also werde ich auf dem Bett sitzen bleiben, wenn das in Ordnung ist. Ich weiß, dass es sich eigentlich nicht schickt.«

»Ich glaube nicht, dass hier die üblichen Regeln der britischen Etikette gelten«, erwiderte Christopher und ließ sich auf dem Stuhl nieder, die Tasche auf dem Schoß. »Die Stadt der Stille befindet sich ja nicht unter London. Sie ist überall, nicht wahr? Wir könnten durch einen der Eingänge gehen und in Texas oder Malakka an die Oberfläche kommen. Somit können wir, ganz nach Belieben, eigene Anstandsregeln aufstellen.«

Grace musste lächeln. »Das ergibt überraschend viel Sinn. Aber das ist bei dir ja nichts Ungewöhnliches. Bist du hier, um über die Notizen zu sprechen, die du mir dagelassen hast? Ich habe über Möglichkeiten nachgedacht, wie man den Prozess verfeinern könnte, und auch darüber, welche Experimente man ausprobieren könnte …«

»Wir müssen nicht über die Notizen reden«, sagte Christopher. »Heute Abend findet im Institut nämlich die Weihnachtsfeier statt.« Er kramte in seiner Tasche herum. »Und weil du nicht hingehen kannst, dachte ich mir, dass ich ein wenig von der Feier zu dir bringen könnte. Um dich daran zu erinnern: Obwohl du jetzt hier bist, wird es nicht ewig so bleiben, und du wirst bald wieder auf Feste gehen können.« Mit einer schwungvollen Geste, als würde er einen Zaubertrick aufführen, zog er eine grüne Flasche hervor. »Champagner!«, sagte er. »Und Champagnergläser.« Er holte die Gläser ebenfalls aus der Tasche und stellte sie auf den kleinen Holztisch neben Grace’ Bett.

Grace hatte ein Gefühl im Magen, das sie nicht kannte – eine Art Prickeln, fast wie Champagner. »Du bist ein sehr eigenartiger Junge.«

»Tatsächlich?«, fragte Christopher und klang aufrichtig überrascht.

»Ja«, bestätigte Grace. »Du machst einen äußerst feinfühligen Eindruck. Für einen Wissenschaftler.«

»Man kann beides sein«, sagte Christopher sanft. Grace fand seine Freundlichkeit beinahe beunruhigend, genau wie die von Zachariah. Sie hätte ein solches Verhalten nie erwartet – nicht von einem von James’ Freunden, die allen Grund hatten, sie zu verachten. Trotzdem schien Christopher fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht völlig alleingelassen oder vergessen fühlte.

Und doch gründete alles nur auf Täuschung. Das wusste Grace nach Jesses Reaktion auf ihr Geständnis. Natürlich hätte er es früher oder später selbst herausgefunden, da war sie sich ziemlich sicher. Aber wenn sie ihm nicht die Wahrheit gesagt hätte, wäre jeder Aspekt ihrer Beziehung eine Lüge gewesen. Doch jetzt bestand zumindest eine Chance, falls er ihr verzieh …

Mit einem lauten Plopp entfernte Christopher den Korken aus der Flasche. Er schenkte zwei Gläser ein, stellte die Flasche auf ein Regalbrett und hielt Grace ein Glas entgegen: Die schimmernde, goldfarbene Flüssigkeit bildete in der tristen Zelle einen seltsam hübschen Anblick.

»Christopher«, sagte Grace und nahm das Glas. »Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss.«

Seine blauvioletten Augen – eine so wunderbar ungewöhnliche Farbe – wurden groß. »Was ist passiert?«

»Nichts, nichts. Es geht um etwas anderes.« Christopher stieß feierlich mit ihr an. Grace trank einen kräftigen Schluck. Der Champagner kitzelte ihr in der Nase, und sie musste ein Niesen unterdrücken. Das Getränk schmeckte besser als in ihrer Erinnerung. »Ich habe … jemandem ein großes Unrecht angetan. Etwas Schreckliches. Im Geheimen.«

Christopher runzelte die Stirn. »Mir?«

»Nein«, antwortete sie hastig. »Ganz und gar nicht. Die Sache hat nichts mit dir zu tun.«

»Dann solltest du es wahrscheinlich nicht mir beichten, sondern demjenigen, dem du das Unrecht angetan hast«, wandte er ein.

Sein Tonfall war ernst. Grace sah ihn an, sein sanftes, verständiges Gesicht, und dachte: Er hat einen Verdacht. Ich weiß nicht warum, und vielleicht sind es nur Mutmaßungen, aber … Er ahnt etwas, das der Wahrheit sehr nahe kommt.

»Grace«, sagte Christopher. »Ich bin mir sicher, dass derjenige, dem du ein Unrecht angetan hast, dir vergeben wird. Wenn du erklärst, wie es dazu gekommen ist und warum.«

»Ich habe es demjenigen schon gestanden«, erwiderte sie langsam. »Ich kann nicht sagen, dass er mir vergeben hat – aber auch nicht, dass ich seine Vergebung verdiene.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Es steht mir nicht zu, dich darum zu bitten«, fuhr sie zögernd fort, »aber wenn du mir helfen könntest …«

Christopher betrachtete sie mit seinem ruhigen Wissenschaftlerblick. »Wobei helfen?«

»Es gibt noch eine andere Person, der durch mein Handeln unverschuldet großer Schaden zugefügt wurde«, sagte Grace. »Eine Person, die es verdient, die Wahrheit zu erfahren.« Sie holte tief Luft. »Cordelia. Cordelia Carstairs.«

Lucie hätte es niemals offen zugegeben, aber sie freute sich, dass die Weihnachtsfeier stattfand. Sie hatte Jesse auf einem Ball im Institut wiedergesehen, doch damals war er ein Geist gewesen und sie die Einzige, die ihn sehen konnte. Ihr Wiedersehen war überraschend gewesen, aber vielleicht nicht unbedingt romantisch . Diese Feier hier bot ihr zum ersten Mal die Chance, mit ihm als atmenden, lebendigen Mann zu tanzen, und das machte sie vor Aufregung ganz zappelig.

Das Wetter war den ganzen Tag über spannungsgeladen gewesen: Ein Gewitter schien in der Luft zu liegen. Lucie saß an ihrem Frisiertisch, während vor ihrem Fenster die Sonne unterging und den Horizont scharlachrot färbte. Ihre Mutter legte gerade letzte Hand an Lucies Haar. (Tessa war ohne Dienstmädchen aufgewachsen und hatte schon früh gelernt, sich die Haare selbst zu frisieren. Sie verstand es ausgezeichnet, Lucie mit ihren Frisuren zu helfen. Genau genommen bestanden einige von Lucies besten Erinnerungen darin, dass ihre Mutter ihr die Haare geflochten hatte, während Lucie ihr die Handlung eines schlechten Romans erzählte, den sie gerade gelesen hatte.)

»Kannst du mir damit die Haare feststecken, Mama?«, fragte Lucie jetzt und hielt ihren goldenen Kamm hoch. Jesse hatte ihn ihr heute gegeben und nur gesagt, dass er es gern sehen würde, wenn sie ihn wieder trüge.

»Natürlich.« Geschickt glättete Tessa eine Locke in Lucies kunstvoll arrangierter Hochsteckfrisur. »Bist du nervös, mein Kätzchen?«

Lucie versuchte, eine verneinende Antwort zu geben, ohne den Kopf zu bewegen. »Wegen Jesse? Ich glaube, er wird es ganz gut hinkriegen, sich als Jeremy auszugeben. Er musste in seinem Leben schon so oft etwas vortäuschen. Und immerhin bleibt er ein Blackthorn.«

»Glücklicherweise haben die Blackthorns schon seit Langem den Ruf, alle gleich auszusehen: dunkles Haar, grüne oder blaue Augen.« Tessa lächelte. »Ehrlich gesagt glaube ich, dass alle einfach nur erfreut sein werden, wenn sie sich mit jemand Neuem beschäftigen und über ihn tratschen können.« Sie schob einige Nadeln aus Gold und Elfenbein in Lucies Haar. »Jesse ist ein reizender Junge, Lucie. Er fragt ständig, ob er etwas helfen kann. Ich glaube, er ist Freundlichkeit nicht gewohnt. Im Moment ist er mit deinem Vater unten im Ballsaal und hilft mit dem Baum.« Sie zwinkerte. »Und er sieht sehr gut aus.«

Lucie kicherte. »Ich hoffe, du meinst Jesse und nicht Papa.«

»Dein Vater sieht auch sehr gut aus.«

»Du darfst so was denken«, sagte Lucie. »Und ich darf die Vorstellung entsetzlich finden.«

»Warum hast du uns nichts von Jesse erzählt? Schon früher, meine ich?« Tessa nahm ein Paar von Lucies Ohrhängern – eisgraue, in Gold gefasste Tropfen – und reichte sie ihr. Lucies einziger anderer Schmuck bestand aus dem goldenen Blackthorn-Medaillon, das sie um den Hals trug.

»Du meinst, als er ein Geist war? Weil er ein Geist war«, antwortete Lucie und lächelte. »Ich habe gedacht, ihr würdet es missbilligen.«

Tessa lachte leise. »Lucie, Liebes, ich weiß, dass ich in deinen Augen nur deine langweilige, alte Mutter bin. Aber auch ich habe während meiner Jugend so einige abenteuerliche Sachen erlebt. Und«, fügte sie in ernsterem Tonfall hinzu, »ich weiß, dass es für mich keine Möglichkeit gibt, dich in Watte zu packen und vor allen Gefahren zu beschützen – so gern ich es auch möchte. Du bist eine Schattenjägerin, und das macht mich stolz.« Sie steckte die letzte glänzende Locke mit dem goldenen Kamm fest und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. »So. Fertig.«

Lucie betrachtete sich im Spiegel. Ihre Mutter hatte den Haarknoten nicht zu streng gemacht, sodass Lucies Gesicht an beiden Seiten von Locken umspielt wurde. Nahezu unsichtbare Haar­nadeln aus Elfenbein hielten das gesamte Gebilde an Ort und Stelle und passten zum elfenbeinfarbenen Spitzenbesatz ihres lavendelfarbenen Seidenkleids. Ihre Runenmale hoben sich schwarz und deutlich von ihrer Haut ab: die Beweglichkeitsrune am Schlüsselbein, die Voyance -Rune auf der Hand.

Lucie stand auf. »Weißt du eigentlich, dass das einer meiner Lieblingsmomente jeder Weihnachtsfeier ist?«, bemerkte sie.

»Was denn?«, fragte Tessa.

»Der Moment, in dem du mir die Haare machst«, sagte Lucie und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange.

Thomas starrte den Obstkorb an, und der Obstkorb starrte zurück.

Jetzt stand er schon seit fast zehn Minuten auf dem Gehweg vor Cornwall Gardens, und ihm waren längst die Ausreden ausgegangen, warum er noch nicht an die Haustür geklopft hatte. Außerdem war er beim Verlassen der Kutsche in eine kalte Pfütze getreten, und seine Socken waren durchnässt.

Der Obstkorb war für Alastairs Mutter Sona bestimmt. Eigentlich hätte Eugenia ihn abliefern sollen, doch dann war ein Notfall eingetreten … irgendetwas mit versengten statt gekräuselten Haaren. Woraufhin im Haus das reinste Chaos ausgebrochen war. Irgendwann war Thomas, der seinerseits für die bevorstehende Weihnachtsfeier noch nicht vollständig angezogen war, von seinem Vater mitsamt dem Korb in eine Kutsche geschoben worden. Gideon Lightwood hatte sich noch in die Kutsche hineingebeugt und feierlich verkündet: »Dies ist eine viel bessere Tat als alle, die du je zuvor vollbracht hast.« Was Thomas nicht besonders witzig fand. Danach hatte sein Vater die Tür der Kutsche geschlossen.

Erneut blickte Thomas auf den Korb hinunter, doch dieser weigerte sich beharrlich, ihm einen Rat zu geben. Der Korb schien einige Orangen, eine Keksdose und ein paar hübsch verpackte Weihnachtssüßigkeiten zu enthalten. Das Ganze war wirklich nur eine freundliche Geste seiner Familie, ermahnte er sich – nichts, was ihm Kopfzerbrechen bereiten sollte. Außerdem hatte er sich bereits vergewissert, dass die Kutsche der Carstairs weg war – was bedeutete, dass Alastair und Cordelia sich auf dem Weg zur Feier befanden. Thomas tadelte sich für sein albernes Verhalten, dann hob er die Hand und klopfte fest an die Haustür.

Die sofort von Alastair geöffnet wurde.

»Was machst du denn hier?«, fragte Thomas ungehalten.

Alastair betrachtete ihn mit hochgezogenen, dunklen Augenbrauen. »Ich wohne hier«, erklärte er. »Thomas, hast du mir einen Obstkorb mitgebracht?«

»Nein«, entgegnete Thomas verärgert. Obwohl er wusste, dass es ungerecht war, konnte er das Gefühl nicht loswerden, dass Alastair ihn hinters Licht geführt hatte – dadurch, dass er wider Erwarten zu Hause war. »Der Korb ist für deine Mutter.«

»Aha. Na, dann komm rein«, sagte Alastair und schwang die Tür weit auf. Thomas trat ein wenig unbeholfen ins Haus und stellte den Korb auf den Tisch im Eingangsbereich. Dann wandte er sich wieder Alastair zu und setzte sofort zu der Rede an, die er auf dem Weg hierher vorbereitet hatte:

»Der Korb ist von meiner Mutter und meiner Tante Cecily. Sie haben sich Sorgen gemacht, dass sich deine Mutter ausgeschlossen fühlen würde, weil heute Abend alle auf der Weihnachtsfeier sind. Sie wollten sie wissen lassen, dass sie an sie denken. Apropos Feier«, fügte er hinzu, bevor er sich daran hindern konnte, »warum bist du nicht im Institut?«

Er musterte ihn von Kopf bis Fuß: Alastair war definitiv nicht wie jemand gekleidet, der vorhatte, auf eine Feier zu gehen. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, seine Hosenträger hingen herunter und seine Füße steckten in Pantoffeln. Außerdem wirkte er mürrisch, mit aufgebissenen Lippen und grimmigem Blick – wie ein persischer Märchenprinz.

Ein persischer Märchenprinz? JETZT HÖR ABER AUF, THOMAS!

Alastair zuckte die Schultern. »Da ich sowieso bald nach Teheran ziehe, erschien es mir nicht der Mühe wert, mit den Mitgliedern der Brigade gesellschaftlich zu verkehren. Deshalb hatte ich vor, einen produktiven Abend zu Hause zu verbringen. Um ein paar von Cordelias Büchern über Paladine durchzugehen und zu überprüfen, ob ich etwas Nützliches finde.«

»Cordelia ist also allein auf die Feier gegangen?«

»Mit Anna und Ari. Sie ist etwas früher aufgebrochen, um die beiden abzuholen.«

Eine unbehagliche Stille breitete sich in der Eingangshalle aus. Thomas wusste, dass es jetzt eigentlich an ihm war, etwas Floskelhaftes zu sagen wie: Tja, ich sollte mich wohl auf den Weg machen. Stattdessen fragte er: »Du hast also vor, den ganzen Abend allein zu Hause vor dich hin zu grübeln, anstatt mit deinen Freunden auf eine Feier zu gehen?«

Alastair warf ihm einen missmutigen Blick zu. »Sie sind nicht meine Freunde.«

»Du behauptest so was ziemlich häufig. Fast so, als würde es wahr werden, wenn du es nur oft genug wiederholst«, entgegnete Thomas und verschränkte die Arme vor dem breiten Brustkorb – wodurch sich sein bestes schwarzes Jackett, das er an diesem Abend trug, an den Schulternähten spannte. »Wenn du nicht gehst, dann gehe ich auch nicht. Ich werde zu Hause bleiben und so niedergeschlagen herumsitzen, dass die Mäuse an mir knabbern.«

Alastair blinzelte. »Dazu besteht kein Anlass«, widersprach er. »Du hast allen Grund, zur Feier zu gehen.«

»Aber das werde ich nicht«, entgegnete Thomas. »Ich bleibe niedergeschlagen zu Hause und werde von Mäusen angeknabbert. Es liegt ganz bei dir.«

Alastair hob einen Moment lang seinen Zeigefinger, als wollte er etwas sagen. Dann ließ er ihn sinken. »Hol dich der Teufel, Lightwood.«

»Alastair?«, drang eine helle Stimme aus dem Salon. Sona! Natürlich hatte man sie nach unten gebracht, damit sie nicht jeden Tag die Treppe hinaufsteigen musste. »Che khabare? Che kesi dame dar ast?« Was ist los? Wer ist an der Tür?

Alastair warf Thomas einen finsteren Blick zu. »In Ordnung«, sagte er. »Ich komme mit auf deine blöde Feier. Aber du musst meine Mutter unterhalten, während ich mich umziehe.« Und damit machte er auf dem Absatz kehrt und stolzierte die Treppe hinauf.

Thomas war noch nie mit Alastairs Mutter allein gewesen. Bevor er vollständig die Nerven verlieren konnte, schnappte er sich den Obstkorb und trug ihn in den Salon.

Sona saß aufrecht auf einer Chaiselongue, gestützt von etwa eintausend Kissen in verschiedenen, farbenfrohen Schattierungen. Sie trug einen Morgenmantel aus Brokat und war in eine dicke Decke gehüllt, die sich wie ein Berg über dem Hügel ihres Bauches auftürmte. Da Thomas nicht wusste, wo er hinschauen sollte, stellte er den Korb vorsichtig auf den Tisch neben der Chaiselongue. Dann erklärte er Sona, was es mit dem Geschenk auf sich hatte, und sie lächelte erfreut.

»Meine Güte«, sagte sie. »Das ist sehr aufmerksam von den beiden. Es tut wirklich gut zu wissen, dass jemand an mich denkt. Und das Geschenk an sich ist auch sehr schön.«

»Ghâbel nadâre«, antwortete Thomas. Keine Ursache. Damit ging er ein Wagnis ein. Denn er hatte sich auf eigene Faust Persisch beigebracht und auch James beim Erlernen der Sprache geholfen. Er wusste, was der Ausdruck bedeutete: Es ist deiner nicht würdig. Man sagte diese Worte üblicherweise beim Überreichen eines Geschenks. Allerdings war er sich nicht sicher, ob er sie richtig aussprach. Nur eines war gewiss: Seine Ohren waren rot angelaufen.

Sonas Augen funkelten. »So viele junge Leute lernen heutzutage Persisch«, sagte sie, als wäre sie äußerst amüsiert. Dann beugte sie sich vor. »Sag mir, wo ist mein Sohn? Ich hoffe sehr, er hat dich nicht an der Haustür stehen gelassen.«

»Keineswegs«, erwiderte Thomas. »Ich habe ihn dazu überreden können, mit zur Weihnachtsfeier zu kommen. Er zieht sich gerade um.«

»Du hast ihn dazu überreden können« , wiederholte Sona, als hätte Thomas behauptet, er wäre in einem Kanu um die Welt gesegelt. Dann musterte sie ihn eingehend. »Tja, ich bin hocherfreut, dass Alastair einen Freund hat, der das Beste für ihn will – sogar, wenn er sich selbst nicht darum kümmert. Ganz im Gegensatz zu diesem ahmag Charles«, fügte sie leise zu, fast wie zu sich selbst. Allerdings betrachtete sie Thomas jetzt noch eindringlicher.

»Charles?«, wiederholte Thomas. Sona hatte doch bestimmt keine Ahnung …

»Charles hat sich nie besonders um Alastair gekümmert«, sagte Sona. »Nicht so, wie er es verdient. Alastair verdient es, jemanden in seinem Leben zu haben, der begreift, wie wunderbar er ist. Jemanden, der leidet, wenn er leidet, und der glücklich ist, wenn er glücklich ist.«

»Ja«, bestätigte Thomas, »das verdient er.« Aber seine Gedanken überschlugen sich. Wusste Sona, dass er diese Person für Alastair sein wollte? Wusste sie, dass die Beziehung zwischen Alastair und Charles eine romantische Komponente gehabt hatte? Gab sie Alastair und Thomas ihren Segen? Oder bildete er sich das alles mit seinem fiebrigen Verstand nur ein? »Ich glaube, dass die Person, die Alastairs Glück am allermeisten im Weg steht, Alastair selbst ist«, sagte er schließlich. »Alastair ist mutig und loyal, und sein Herz …« Er spürte, dass er rot wurde. »Vermutlich wünsche ich mir, dass Alastair sich selbst so behandeln würde, wie er es verdient, von anderen behandelt zu werden.«

Sona blickte lächelnd auf den Obstkorb. »Ich bin ganz deiner Meinung. Als Kind war Alastair immer sanftmütig. Erst als er aufs Internat gewechselt ist …«

Sie verstummte, als Alastair das Zimmer betrat. Niemand hätte gedacht, dass er sich hastig umgezogen hatte: Er war höchst elegant in Schwarz und Weiß gekleidet, und seine dunklen Augen strahlten. Der Schwung seines Halses wirkte so anmutig wie der Flügel eines Vogels. »Also gut, Thomas«, sagte er. »Falls du jetzt damit fertig bist, meine Mutter mit Obst zu attackieren, können wir uns auf den Weg machen.«

Thomas schwieg, während Alastair zu seiner Mutter ging und sie auf die Wange küsste. Die beiden wechselten einige Worte auf Persisch, zu schnell, als dass Thomas etwas verstehen konnte. Er beobachtete Alastair nur: Alastair war sanft, Alastair war liebevoll – er war der Alastair, den Sona von früher kannte, und den Thomas so selten zu Gesicht bekam. Während Alastair sich von seiner Mutter verabschiedete, fragte Thomas sich unwillkürlich: Wenn Alastair so fest entschlossen war, diesen Teil von sich vor Thomas zu verbergen, spielte es dann überhaupt eine Rolle, dass Thomas von seiner Existenz wusste?

Der Ballsaal hatte sich in einen winterlichen Märchenwald verwandelt, mit Girlanden aus roten Ilexbeeren und grünem Efeu und mit Mistelzweigen über jeder Tür.

Lucie erschien das nur passend. Schließlich hatten Jesse und sie sich das erste Mal in einem Wald getroffen. Im Brocelind-Wald in Idris, wo Feenwesen geschickte Fallen stellten und weiße Blumen, die nachts leuchteten, zwischen dem Moos und der Rinde der Bäume wuchsen.

Die Feier hatte noch nicht offiziell begonnen, und überall herrschte geschäftiges Treiben. Alles sollte fertig sein, bevor die Gäste eintrafen. Das Problem des nicht auffindbaren Weihnachtsbaums hatte Tessa dadurch gelöst, dass sie Magnus vor seiner Abreise nach Paris überredet hatte, aus einer Vielzahl von Waffen eine baumförmige Skulptur zu erschaffen. Der Stamm bestand aus Schwertern: Haken- und Krummschwerter, Langschwerter und Katanas, alle zusammengehalten von Dämonendraht. Auf der Spitze des Baums thronte ein dreidimensionaler goldener Stern, von dessen Spitzen kleinere Hieb- und Stichwaffen herabbaumelten: Dolche und Zafar-Takieth , Baghnakh und Cinquedeas , Jambias und Belawas sowie mit Edelsteinen besetzte Stilette.

Bridget und eine kleine Gruppe von Dienstboten eilten emsig hin und her und stellten allerlei Köstlichkeiten auf die Tische mit Erfrischungen: silberne Schalen mit Weihnachtspunsch und Glühwein, Schälchen mit Stachelbeer- und Brotsoße, Teller mit Plumpudding und Platten mit Gänsebraten, gefüllt mit Äpfeln und Kastanien. In jeder Nische leuchteten Kerzen und erfüllten den Raum mit einem sanften Licht. Von Haken an den Wänden spannten sich goldene Bänder und Papierketten. Lucie konnte ihre Eltern sehen, die an den Saaltüren standen und ins Gespräch vertieft waren. In Wills Haaren steckten zahlreiche Tannennadeln. Lucies Mutter streckte die Hand aus und zog mit einem spitzbübischen Lächeln eine Nadel heraus. Die Geste wurde von Will mit einem so anbetungsvollen Blick belohnt, dass Lucie schnell wegsah.

Neben dem Waffenbaum stand eine hohe Leiter, auf der Jesse balancierte und versuchte, ein Raziel-Figürchen auf dem goldenen Stern zu befestigen. Als er Lucie sah, lächelte er: sein eindringliches, langsames Lächeln, das sie an Zartbitterschokolade denken ließ, reichhaltig und süß.

»Warte«, sagte er. »Ich komme runter. Es wird allerdings einen Moment dauern. Diese Leiter wird nur noch von alten Runen und einer guten Portion Optimismus zusammengehalten.«

Er kletterte hinunter und wandte sich Lucie zu. Obwohl er jetzt nicht mehr lächelte, hatte ihre Mutter recht gehabt: Er sah tatsächlich gut aus in der Kleidung, die Anna und James mit ihm gekauft hatten. Sie passte ihm hervorragend und folgte den Linien seines schlanken Körpers. Der smaragdgrüne Samtkragen seines Gehrocks ließ das Grün seiner Augen dunkler erscheinen und brachte seine eleganten Gesichtszüge zur Geltung.

»Lucie«, sagte er und zog sie ein Stück hinter den Waffenbaum. Dann sah er sie auf eine Weise an, dass ihr ganz warm wurde, als würde sie am ganzen Körper erröten. Auf eine Weise, die deutlich machte, dass er wusste, er sollte sie nicht so ansehen, es jedoch nicht verhindern konnte. »Du siehst …« Er hob eine Hand, als wollte er ihr Gesicht berühren, ließ sie jedoch schnell wieder sinken und ballte sie frustriert zur Faust. »Ich wollte eine romantische Ansprache halten.«

»Tja, das solltest du auch«, sagte Lucie. »Du hast meine ausdrückliche Unterstützung.«

»Ich kann nicht.« Er beugte sich vor … und Lucie nahm seinen Duft wahr: wie Weihnachten, nach Kiefern und Schnee. »Ich muss dir etwas sagen«, fuhr er fort. »Du hast dich an Malcolm gewandt, oder? Wegen dieser Sache, die passiert ist, als wir … wegen dieser Sache mit uns, richtig?«

Sie nickte verwirrt. »Woher hast du das gewusst?«

»Malcolm hat mir eine Nachricht geschickt«, antwortete Jesse und warf einen Blick zu Will und Tessa, als könnten sie mitbekommen, worüber sie sprachen, obwohl sie ein gutes Stück entfernt standen. »Er ist im Sanktuarium und will mit dir reden.«

Ein Besuch im Sanktuarium hatte nicht auf Lucies Plan für den heutigen Abend gestanden. Und ihre Stimmung hob sich nicht gerade, als ihr klar wurde, dass dort alles noch immer für Jesses Bestattungsrituale arrangiert war – mitsamt der Totenbahre, auf die man seinen Leichnam gelegt hatte, dem Leichentuch aus Musselin und dem Ring aus Kerzen. Auf dem Boden neben der Bahre lag die weiße Augenbinde aus Seide, mit der man ihm die Augen verbunden hatte. Lucie war sich sicher, dass niemand im Institut – ob Mitarbeiter oder Bewohner – wusste, was mit der Augenbinde geschehen sollte. Sie hatte noch nie von einer Augenbinde gehört, die an einem Toten verwendet, aber nicht zusammen mit dem Leichnam eingeäschert worden war.

Malcolm saß, ganz in Weiß gekleidet, auf einem Stuhl neben einem Kandelaber, dessen Kerzen nicht brannten. Sein Anzug schien im spärlichen Licht zu leuchten, das durch die hohen Fenster hereinfiel. »Wie es scheint, haben Nephilim nicht die Angewohnheit, hinter sich aufzuräumen«, bemerkte er. »Sehr passend, finde ich.«

»Ich gehe davon aus, dass du meine Nachricht erhalten hast.« Lucie legte den Kopf auf die Seite. »Allerdings wäre dieses Versteckspiel nicht nötig gewesen. Du hättest einfach vorbeikommen können. Schließlich bist du der Oberste Hexenmeister von London.«

»Aber dann hätte ich alle begrüßen und mit deinen Eltern plaudern müssen. Hätte vorgeben müssen, dass ich noch in einer anderen Angelegenheit gekommen wäre. Doch dieses Mal bin ich nur hier, um mit dir zu sprechen.« Malcolm stand auf, ging zur Bahre und legte eine langfingrige Hand auf das zerknitterte Leichentuch. »Was du hier vollbracht hast …«, setzte er leise an. »Wirklich fantastisch. Ein Wunder.«

Und plötzlich sah Lucie die Szene, als würde sie noch einmal passieren: Jesse, der sich aufsetzte. Sein Brustkorb, der sich stoßweise hob und senkte, als er seine ersten Atemzüge seit sieben Jahren machte. Seine Augen, die sie geschockt und verwirrt ansahen. Sie konnte das Keuchen seiner begierigen, hungrigen Atemzüge hören. Konnte den kalten Stein und die Kerzenflammen riechen. Das klappernde Geräusch auf dem Boden hören, als …

»Irgendetwas stimmt nicht«, sagte sie. »Wenn ich Jesse nahe bin … wenn wir uns küssen oder berühren …«

Malcolm zog eine beunruhigte Miene. »Vielleicht solltest du dieses Gespräch besser mit deiner Mutter führen«, wandte er ein. »Sie hat dir doch bestimmt, äh, erklärt, wie diese Dinge funktionieren …«

»Ich weiß, wie Küsse funktionieren«, sagte Lucie verärgert. »Aber das, was hier passiert, ist alles andere als normal. Es sei denn, es ist normal, die Lippen eines anderen zu berühren und das Gefühl zu haben, als würde man fallen … schneller und schneller, auf eine endlose, gähnende Dunkelheit zu. Eine Dunkelheit, die erfüllt ist von leuchtenden Konturen, wie fremde Sternbilder; Zeichen, die vertraut erscheinen, aber auf seltsame Weise verändert sind. Und mit Stimmen, die rufen …« Sie holte tief Luft. »Dieser Zustand hält nur so lange an, bis die Berührung mit Jesse unterbrochen wird. Dann befinde ich mich wieder auf festem Boden.«

Malcolm bückte sich, hob die Augenbinde auf und zog den Seidenstoff schweigend durch die Finger. Wahrscheinlich hielt er sie für albern, dachte Lucie – ein dummes Mädchen, das einem hysterischen Anfall nahe war, sobald ein männliches Wesen in seine Nähe kam.

Nach einem Moment sagte Malcolm leise: »Das klingt nicht gut.«

Lucie sank der Mut. Möglicherweise hatte sie insgeheim ja gehofft , dass Malcolm das Problem als Unsinn abtun würde.

»Ich vermute, dass du durch Jesses Wiedererweckung deine Kräfte in einem so hohen Maße beansprucht hast wie noch nie zuvor«, fuhr Malcolm fort. »Aber diese Kräfte haben ihren Ursprung in den Schatten; das weißt du so gut wie ich. Es wäre denkbar … Dadurch, dass du ihr Potenzial voll ausgeschöpft hast, hast du möglicherweise eine Verbindung zwischen dir und deinem dämonischen Großvater erschaffen.«

Lucie stellte fest, dass sie kaum noch Luft bekam. »Ist es möglich, dass mein … dass Belial davon weiß?«

Malcolm blickte noch immer auf die Augenbinde in seinen Händen. »Das kann ich dir nicht sagen. Hast du den Eindruck, dass er zu kommunizieren versucht?«

Lucie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Dann können wir vermutlich davon ausgehen, dass er sich dessen noch nicht bewusst ist. Trotzdem solltest du vermeiden, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Vielleicht besteht ja eine Möglichkeit, die Verbindung zu trennen. Ich werde mich damit befassen. Bis dahin solltest du nicht nur jeden Kuss mit Jesse vermeiden, sondern auch jede Berührung. Und du solltest davon Abstand nehmen, Geister zu beschwören oder zu befehligen.« Er hob den Kopf; seine violetten Augen wirkten in der Finsternis fast schwarz. »Zumindest brauchst du dir keine Sorgen zu machen, dass es mir an Motivation mangelt, dir zu helfen. Erst wenn du die Magie von Leben und Tod wieder sicher verwenden kannst, kannst du Annabel aus den Schatten herbeirufen.«

»Ja«, sagte Lucie langsam. Es war sicherlich besser, dass er ein persönliches Interesse an der Situation hatte. Trotzdem gefiel ihr der Ausdruck in seinen Augen nicht. »Ich werde dir helfen, dich von Annabel zu verabschieden, Malcolm. Ich habe es versprochen, und ich werde mein Versprechen halten.«

»Verabschieden«, wiederholte Malcolm leise. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den Lucie noch nie zuvor gesehen hatte. Er verschwand jedoch schnell, und Malcolm sagte ruhig: »Ich werde meine Quellen konsultieren und zurückkommen, sobald ich Antworten habe. Bis dahin …«

Lucie seufzte. »Berührungen mit Jesse vermeiden, ich weiß. Ich sollte zurückgehen«, fügte sie hinzu. »Wenn du zur Feier kommen möchtest, bist du dazu herzlich eingeladen.«

Malcolm legte den Kopf auf die Seite, als könnte er durch die Wände die Musik hören. Und vielleicht war er ja tatsächlich dazu in der Lage. »Während meiner Kindheit hatten die Blackthorns jedes Jahr eine Weihnachtsfeier«, sagte er. »Aber ich war nie eingeladen. Annabel hat sich während des Fests immer hinausgeschlichen, und dann haben wir nebeneinandergesessen, aufs Meer hinausgeschaut und uns das mit Zuckerguss überzogene Gebäck geteilt, das Annabel in den Taschen ihres Mantels hinausgeschmuggelt hatte.« Er schloss die Augen. »Versuch, keine schmerzhaften Erinnerungen zu sammeln, Lucie«, sagte er. »Häng dich nicht zu sehr an irgendetwas oder irgendjemanden. Denn wenn du sie verlierst, werden die Erinnerungen in deinem Kopf brennen wie ein Gift, für das es kein Heilmittel gibt.«

Darauf fiel Lucie keine Antwort ein. Sie sah zu, wie Malcolm in den Schatten des Sanktuariums verschwand, bevor sie ihre Kräfte sammelte, um wieder nach oben zu gehen. Sie fror am ganzen Körper. Das Wissen, dass die Berührung des Jungen, den sie liebte, sie vielleicht noch stärker an Belial binden würde – an den Dämon, der ihn einst gefoltert hatte … Dieses Wissen war schlimm. Wie um alles in der Welt sollte sie das Jesse erklären?

Als James sich auf den Weg zum Ballsaal machte, waren bereits zahlreiche Gäste eingetroffen. Mitglieder seiner Familie. Oder zumindest seine Tanten und Onkel. Seine Cousins und Cousinen hatte er noch nicht gesehen. Oder Thomas. Aber Eugenia war da. Sie wirkte wütend und trug eine gelbe Samtkappe auf dem Kopf, unter der sich leicht angesengtes Haar zu verbergen schien. Esme Hardcastle belehrte die Townsends gerade über den Unterschied zwischen den Weihnachtsfeiern der Irdischen und denen der Schattenjäger. Und die Pouncebys bewunderten den Waffenbaum, zusammen mit Charlotte, Henry und Charles. Thoby Baybrook und Rosamund Wentworth trafen zusammen ein, beide in rosafarbenen Samt gekleidet, der Thoby seltsamerweise besser stand als Rosamund.

Diejenigen seiner Freunde, die anwesend waren, befanden sich gegenüber denjenigen, die noch fehlten, in der Unterzahl. Auch Cordelia, Anna, Ari und Matthew waren bisher nicht aufgetaucht. Was James allerdings wirklich rätselhaft fand, war Lucies Abwesenheit. Jesse stand mit Will und Tessa an der Tür, wo er den eintreffenden Gästen vermutlich als »Jeremy Blackthorn« vorgestellt wurde. Aber Lucie war nirgends zu sehen. Dabei entsprach es eigentlich nicht ihrer Art, Jesse auf der Feier einfach seinem Schicksal zu überlassen.

James überlegte, ob er sich ein Glas Champagner holen sollte. Unter normalen Umständen hätte er ein Glas getrunken. Aber nach allem, was kürzlich mit Matthew passiert war, erschien ihm die Vorstellung, seine Nervosität mit Alkohol zu lindern, nicht verlockend. Und er war wirklich nervös. Jedes Mal, wenn die Türen des Ballsaals aufschwangen, wandte er sich um in der Hoffnung, einen Blick auf scharlachrotes Haar und das Blitzen dunkler Augen zu erhaschen. Cordelia. Es gab etwas, das er ihr unbedingt sagen wollte. Und obwohl es nicht ganz dem Kern seines Geheimnisses entsprach, kam es diesem schon sehr nahe.

Er wusste genau, dass er eigentlich über die Ereignisse des Nachmittags nachdenken sollte. Über den Spiegel, die Vision von Belial, die Chimären-Dämonen. Über die Frage, von wem Belial Besitz ergriffen hatte. Von Irdischen? Allerdings wäre es vergebliche Liebesmüh gewesen, selbst solche Irdische gegen Schattenjäger antreten zu lassen.

Aber bei seinem letzten Gespräch mit Cordelia hatte sie gesagt: Morgen. Bei der Feier … Wir reden dann. Und sämtlichen Höllenfürsten zum Trotz waren diese Worte so gut wie alles, woran er gerade denken konnte.

So gut wie. Die Türen des Ballsaals schwangen erneut auf: Matthew betrat den Raum, in einem Gehrock, der sogar den von Josef aus der Bibel in den Schatten gestellt hätte. Das Kleidungsstück war aus violettem, grünem und silbernem Brokat geschneidert und an den Rändern mit goldenen Quasten besetzt. An jedem anderen hätte es wie ein Kostüm ausgesehen, aber an Matthew wirkte es avantgardistisch. Außerdem schien sein Haar mit glänzenden Blättern geschmückt zu sein, weshalb er fast den Eindruck machte, als würde er gleich als Puck in Ein Sommernachtstraum auftreten.

Ein Lächeln breitete sich auf James’ Gesicht aus, genau in dem Moment, als seine Tante Cecily auf ihn zukam. Sie hielt den dreijährigen Alex an einer molligen Hand. Der kleine Junge trug einen blauen Matrosenanzug aus Samt und einen dazu passenden Hut mit weißem Band.

»Sein Debüt, wie ich sehe«, sagte James und betrachtete Alexander, der eine finstere Miene zog. Er schien den Matrosenanzug nicht zu mögen, und James konnte es ihm nicht verübeln.

Cecily nahm Alex schwungvoll auf den Arm und lächelte. »Apropos Debüt: Ich glaube, der Blackthorn-Junge, den ihr alle hier aufgenommen habt, muss eventuell gerettet werden.«

Womit sie recht hatte. Nach der Ankunft der Musiker hatten Will und Tessa ihnen zeigen müssen, wo sie ihre Instrumente abstellen konnten. In dem daraus resultierenden Durcheinander war es Rosamund Wentworth gelungen, Jesse in einer Nische mit Beschlag zu belegen. Offensichtlich war ihr Jesse bereits vorgestellt worden. Zumindest hoffte James das – wenn man bedachte, wie eifrig sie auf ihn einredete. Als James sich den beiden näherte, warf Jesse ihm einen flehentlichen Blick zu.

»Jeremy, Rosamund«, sagte James. »Wie schön, euch zu sehen. Jeremy, ich habe mich gefragt, ob du Interesse hättest, im Spielsaal eine Runde Karten zu spielen, und …«

»Ach, sei kein Spielverderber , James«, unterbrach Rosamund ihn. »Es ist es noch viel zu früh dafür, dass die Herren sich in den Spielsaal zurückziehen. Und ich habe Jeremy gerade erst kennengelernt.«

»Rosamund, er gehört jetzt zur Londoner Brigade. Du wirst ihn wiedersehen«, sagte James, während Jesse Gesten machte, die vermutlich jemanden darstellen sollten, der von einem sinkenden Schiff gerettet wurde.

»Aber sieh dir nur seine Augen an.« Rosamund seufzte, als wäre Jesse gar nicht anwesend. »Sind sie nicht einfach unwiderstehlich? Ist er nicht himmlisch

»Wahrhaftig«, sagte James. »Manchmal schmerzt es mich, ihn auch nur anzusehen.«

Jesse warf ihm einen düsteren Blick zu.

Rosamund zupfte Jesse am Ärmel. »Ich dachte, dass wieder nur die gleichen, alten Langweiler zur Feier kommen würden wie sonst auch. Aber du bist eine angenehme Überraschung! Wo, sagtest du noch mal, bist du aufgewachsen?«

»Als meine Eltern nach England zurückgekehrt sind, haben sie sich in Basingstoke niedergelassen«, antwortete Jesse. »Dort habe ich gelebt, bis ich herausfand, dass ich ein Schattenjäger bin und sofort beschloss, mich ihnen wieder anzuschließen.«

»Was für eine tragische Vorgeschichte«, warf Matthew ein, der neben James aufgetaucht war.

»Sie ist nicht im Geringsten tragisch«, widersprach Rosamund.

»Aus Basingstoke zu kommen, ist an sich schon eine Tragödie«, sagte Matthew.

James grinste. Sie hatten Basingstoke genau deshalb ausgewählt, weil es ein langweiliger Ort war, der nicht dazu einlud, viele Fragen zu stellen.

»Rosamund«, sagte Matthew, »Thoby sucht dich überall.«

Eine klare und dreiste Lüge. Thoby stand mit einem Becher Cidre in der Hand am Waffenbaum und stocherte daran herum, während er gleichzeitig mit Esme und Eugenia plauderte. Rosamund warf Matthew einen argwöhnischen Blick zu, machte sich aber trotzdem auf den Weg zu ihrem Verlobten.

»Sind die Leute auf Festen immer so?«, fragte Jesse, sobald sie gegangen war.

»Unhöflich und sonderbar?«, fragte James. »Meiner Erfahrung nach in ungefähr der Hälfte aller Fälle.«

»Und dann sind da noch die Charmanten und Faszinierenden«, sagte Matthew, »obwohl es von uns zugegebenermaßen weniger gibt als von den anderen.« Plötzlich zuckte er zusammen und griff sich an den Kopf, als würde er schmerzen. James und Jesse tauschten einen besorgten Blick.

»Also«, setzte James an und bemühte sich um einen lockeren Tonfall. »Die Frage ist doch, wen du zuerst kennenlernen möchtest. Die angenehmeren oder die unangenehmeren Leute? Oder eine Mischung aus beidem?«

»Muss man überhaupt unangenehme Leute kennenlernen?«, fragte Jesse.

»Leider ja«, erwiderte Matthew, der sich zwar nicht mehr den Kopf hielt, aber dafür ziemlich blass aussah. »Dann bist du besser vorbereitet und kannst dich vor ihren Tricks in Acht nehmen.«

Jesse antwortete nicht; er blickte über die Menge. Nein, erkannte James – Jesse schaute in Richtung einer bestimmten Person, die sich gerade ihren Weg durch die anderen Gäste bahnte: Lucie! In ihrem hellen, lavendelfarbenen Kleid hatte sie Ähnlichkeit mit einer Elfe. Das goldene Medaillon an ihrem Hals glänzte wie ein Leuchtfeuer. Sie lächelte Jesse zu, woraufhin Matthew und James einen Blick tauschten.

Eine Sekunde später hatten sie sich auch schon aus dem Staub gemacht, während Lucie und Jesse sich flüsternd in der Nische unterhielten. James war felsenfest davon überzeugt, dass Lucie keine Probleme haben würde, Jesse herumzuführen und die Rosamund Wentworths dieser Welt abzuwehren.

Allerdings war er weniger davon überzeugt, dass es Matthew gut ging. Er dirigierte seinen Parabatai zu einer der mit Lametta dekorierten Säulen am Rand des Saals und versuchte, ihm ins Gesicht zu sehen. Matthew wirkte erschöpft, seine Haut hatte einen grünlichen Schimmer, und seine Augen waren blutunterlaufen.

»Ich vermute, dass du mich nicht anstarrst, weil du von meiner Schönheit oder meiner haute couture gefesselt bist«, sagte Matthew und lehnte sich an die Säule.

James streckte die Hand aus und zupfte eines der Blätter aus Matthews Haar. Es war blassgrün und mit Gold eingefasst: kein richtiges Blatt, sondern ein Schmuckstück aus Emaille. Gemalte Schönheit statt Natur. »Math, ist mit dir alles in Ordnung? Hast du das Zeug, das Christopher dir gegeben hat?«

Matthew tippte an seine Brusttasche. »Ja. Ich teile es mir ein. Anweisungsgemäß.« Dann ließ er seinen Blick durch den Saal schweifen. »Ich weiß, was ich normalerweise auf einer Feier machen würde«, sagte er. »Mich treiben lassen, unterhaltsam sein. Rosamund und Catherine schockieren. Mit Anna herumscherzen. Geistreich und charmant sein. Zumindest dachte ich immer, ich wäre geistreich und charmant. Aber ohne den Alkohol …« Seine Stimme wurde fast zu einem Flüstern. »Es fühlt sich an, als würde ich den Aufziehpuppen in einem Puppenhaus zusehen, die ihre Rollen spielen. Nichts scheint real. Oder vielleicht bin ich es, der nicht real ist.«

James hatte bemerkt, dass Thomas und Alastair eingetroffen waren, interessanterweise gemeinsam. Und dass Alastair mit zusammengekniffenen Augen zu ihnen herüberschaute.

»Ich kenne dich schon lange, Matthew«, sagte James. »Du warst geistreich und charmant, lange bevor du angefangen hast zu trinken. Und du wirst wieder geistreich und charmant sein. Aber im Moment verlangst du einfach zu viel von dir.«

Matthias musterte ihn. »James, weißt du, wann ich mit dem Trinken angefangen habe?«

In diesem Moment erkannte James, dass er es nicht wusste. Es war ihm wegen des Armbands nicht aufgefallen. Er hatte die Veränderungen bei Matthew nicht gespürt. Und irgendwann schien es zu spät, um nachzufragen.

»Lass gut sein«, sagte Matthew. »Das Ganze war ein allmählicher Prozess. Es ist nicht fair, dir diese Frage zu stellen.« Er zuckte zusammen. »Ich habe das Gefühl, als würde ein Gnom in meinem Kopf sitzen, der mit einer Axt von innen gegen meine Schädelwände schlägt. Ich sollte ihm einen Namen geben. Etwas schön Gnomisches. Snorgoth der Schädelbrecher.«

»Siehst du«, sagte James, »das war geistreich und charmant. Denk einfach an Snorgoth. Denk daran, wie er Leuten, die du nicht magst, mit seiner Axt zu Leibe rückt. Dem Inquisitor beispielsweise. Vielleicht hilft dir das, die Feier zu überstehen. Oder …«

»Was für ein Snorgoth?« Eugenia hatte sich zu ihnen gesellt; die gelbe Kappe saß schief auf ihren dunklen Haaren. »Egal. Eure langweiligen Freunde interessieren mich sowieso nicht. Matthew, tanzt du mit mir?«

»Eugenia.« Matthew sah sie mit müder Zuneigung an. »Ich bin nicht in Tanzlaune.«

» Matthew Eugenia zog eine betrübte Miene. »Piers tritt mir dauernd auf die Füße. Und Augustus drückt sich herum, als hätte er vor, mich zum Walzer aufzufordern. Und das könnte ich wirklich nicht ertragen . Nur einen einzigen Tanz«, sagte sie schmeichelnd. »Du bist ein ausgezeichneter Tänzer, und ich hätte gerne ein bisschen Spaß.«

Matthew machte ein leidgeprüftes Gesicht, erlaubte Eugenia jedoch, ihn auf die Tanzfläche zu führen. Während sie die Positionen für den nächsten Tanz einnahmen, einen Twostepp, sah Eugenia zu James hinüber und richtete danach ihren Blick vielsagend auf die Türen des Ballsaals, als wollte sie sagen: Schau da drüben hin! Dann tanzte sie mit Matthew davon.

James folgte Eugenias Blick und sah, dass seine Eltern die Neuankömmlinge begrüßten: Ari und Anna – in einem eleganten, blauen Gehrock mit goldenen Posamentenverschlüssen. Und Cordelia, die sie begleitete.

Ihr flammendes Haar war in geflochtenen Schlingen um den Kopf gesteckt, wie bei einer römischen Göttin. Sie trug ein schwarzes Satinkleid mit kurzen Ärmeln, die ihre langen braunen Arme bis zu den Ellbogen unbedeckt ließen. Das Kleid war vorn und hinten so tief geschnitten, dass kein Zweifel darüber bestand, dass sie kein Korsett trug. Kein mit Spitze oder weißem Tüll besetztes Kleid in gedeckten Farben – wie es gerade Mode war – konnte Cordelias Kleid das Wasser reichen. In James’ Kopf blitzte das Fragment eines Gedichts auf, das er einmal gelesen hatte: Finsternis und Stern am Firmament.

Cordelia blickte zu James hinüber. Die Farbe ihres Kleids betonte die dunkle Tiefe ihrer Augen. An ihrem Hals glänzte das einzige Schmuckstück, das sie trug: die Kette mit dem Anhänger in Form einer Erdkugel, die James ihr geschenkt hatte.

Sie schien bemerkt zu haben, dass er allein war, denn sie hob eine Hand, um ihn zu sich und zu seinen Eltern an die Tür zu winken. James durchquerte den Saal mit wenigen Schritten, während sich seine Gedanken überschlugen: Es war nur logisch, dass er sich zu seiner Ehefrau gesellte, nachdem sie gerade eingetroffen war. Vielleicht wollte Cordelia nur den Schein wahren.

Aber …, sagte die kleine, hoffnungsvolle Stimme, die noch immer in seinem Herzen wohnte, die Stimme des Jungen, der sich während eines Starkfieberanfalls in Cordelia verliebt hatte. Aber sie hat gesagt, wir würden reden. Auf der Feier.

»James«, rief Will fröhlich aus, »wie gut, dass du kommst. Ich brauche deine Hilfe.«

»Wirklich?« James schaute sich im Saal um. »Alles scheint gut zu laufen.«

»Will« , tadelte Tessa. »Du hast ihm nicht mal Zeit gelassen, um Cordelia zu begrüßen!«

»Tja, sie können beide helfen«, verkündete Will. »James, die silberne Trompete, die deine Mutter vom Institut in Helsinki geschenkt bekommen hat … die, die wir zu Weihnachten immer als Tafelaufsatz verwenden … sie ist verschwunden.«

James tauschte einen verwirrten Blick mit Tessa und wollte seinen Vater gerade fragen, wovon in aller Welt er redete, als Will fortfuhr: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie irgendwo im Salon ist. Könntet du und Cordelia sie für mich holen?«

Cordelia lächelte. Ein vollendetes Lächeln – die Sorte von Lächeln, die nichts über ihre wahren Gedanken verriet. »Natürlich!«

Während Cordelia und er den Ballsaal durchquerten, dachte James: Tja, entweder glaubt sie die Geschichte mit der Trompete, oder sie hat akzeptiert, dass mein Vater verrückt ist und bei Laune gehalten werden muss. Er musste sich eingestehen, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit Letzteres war.

James folgte Cordelia in den Salon und schloss die Schiebetüren hinter ihnen. Er musste zugeben, dass er selten einen Gedanken an den Salon verschwendete. Im Allgemeinen wurde der Raum am Ende von Feiern verwendet, wenn die Damen, die zu müde zum Tanzen, aber noch nicht müde genug zum Heimgehen waren, einen Platz zum Reden, Tratschen und Kartenspielen brauchten, während sich die Männer in den Spielsaal zurückzogen. Die Einrichtung war altmodisch, mit schweren, cremefarbenen Vorhängen und zerbrechlich wirkenden, goldenen Stühlen, die um kleine Tische angeordnet waren, an denen man Whist und Bridge spielen konnte. Auf dem Kaminsims standen funkelnde Kristallkaraffen.

Cordelia drehte sich zu James um. »Diese silberne Trompete existiert gar nicht, stimmt’s?«, fragte sie.

James lächelte schief. »Du kennst meine Familie gut.«

Cordelia schob sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. Beim Anblick dieser Geste fuhr ein elektrisierender Schlag durch James’ Körper. Solch eine unbedeutende Geste, aber dennoch wünschte er, er könnte sie übernehmen. Er hätte so gern die Weichheit von Cordelias Haaren und ihrer Haut gespürt.

»Es ist lieb von deinem Vater, dass er uns die Gelegenheit geben will, einen Moment allein zu sein«, sagte sie. »Davon abgesehen sollten wir wirklich miteinander reden.« Sie legte den Kopf zurück und sah ihn an. »Im Haus … Du hast gesagt, du müsstest mir etwas zeigen.«

Und sie errötete. Nur leicht, aber es war trotzdem ermutigend. Sie wirkte so ruhig, geschützt durch ihre Eleganz, beinahe unberührbar. James empfand Erleichterung darüber, dass sie sich ebenfalls unsicher fühlte.

»Ja«, bestätigte er. »Allerdings musst du näher kommen, damit ich es dir zeigen kann.«

Cordelia zögerte einen Moment, dann trat sie einen Schritt auf ihn zu, und noch einen, bis er ihr Parfüm riechen konnte. Ihr Atem ging schnell, und die Gagatperlen am Ausschnitt ihres Kleids schimmerten, während sich ihre Brust hob und senkte.

James’ Mund war wie ausgetrocknet. Er streckte die Hand aus und ergriff den goldenen Anhänger an Cordelias Hals, die kleine Erdkugel, die er ihr geschenkt hatte. Die, die sie noch immer trug. Trotz allem.

»Ich weiß, du glaubst, dass ich dich nur will, weil ich dich nicht haben kann«, sagte er. »Aber das stimmt nicht.«

Er tippte mit dem Daumen auf den Anhänger. Mit einem leisen Klicken sprang die Kugel auf. Cordelia sah ihn mit großen Augen an, während James aus dem Inneren ein kleines, sorgfältig gefaltetes Stück Papier hervorzog. »Erinnerst du dich noch, als ich dir die Kugel gegeben habe?«

Sie nickte. »Zu unserem zweiwöchigen Jubiläum, glaube ich.«

»Ich habe dir damals nicht gesagt, was sich darin befand«, sagte er. »Nicht weil ich nicht wollte, dass du es weißt, sondern weil ich selbst der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen konnte. Ich habe diese Worte aufgeschrieben, sie zusammengefaltet und dort verstaut, wo sie dir nah sein würden. Es war egoistisch. Ich wollte dir diese Worte mitteilen, wollte mich aber nicht den Konsequenzen stellen. Aber hier bitte.« Er hielt das Stück Papier hoch. »Jetzt kannst du sie lesen.«

Während sie las, veränderte sich Cordelias Miene. Die Worte waren ihr vertraut, Zeilen von Lord Byron.

Zwei Dinge sind es, die das Schicksal verspricht mir:

Die Welt durchwandern, und ein Heim mit dir.

Das erste wäre nichts, hätt’ ich nicht das zweite,

Ein Heim voll Glück, an deiner Seite.

»›Die Welt durchwandern ‹«, flüsterte Cordelia. »Deshalb hast du dich für diesen Anhänger entschieden, in Gestalt der Erdkugel.« Sie sah ihn direkt an. »Und das bedeutet …«

Ihre Pupillen waren weit geöffnet, tief und dunkel. Dieses Mal erlaubte James es sich, ihre Wange zu berühren, ihre weiche Haut unter seiner Handfläche zu spüren. Und obwohl es nur eine kurze Berührung war, stand sein ganzer Körper in Flammen. »Es bedeutet, dass ich lieber ein Heim mit dir hätte als die ganze Welt«, sagte er leidenschaftlich. »Wenn du mir jetzt nicht glauben kannst, dann glaub dem James, der dir diese Halskette gegeben hat, lange vor deiner Reise nach Paris. Mein Gott, welchen anderen Grund hätte ich haben können, diese Zeilen dort zu platzieren … welchen Grund als den, dass ich dich liebe, aber zu feige war, es auszusprechen?«

Cordelia schmiegte ihre Wange in seine Hand und blickte durch den dunklen Saum ihrer Wimpern zu ihm auf. »Du hast also mich und zugleich Grace geliebt. Willst du mir das damit sagen?«

James spürte, wie sich sein Herz in der Brust verkrampfte. Er wusste, dass Cordelia ihm einen Ausweg anbot, einen Weg, sein Verhalten in der Vergangenheit zu erklären. Einen Weg zu sagen: Ja, ich habe euch beide geliebt. Doch dann ist mir klar geworden, dass ich dich mehr liebe.

Diese Erklärung ergab durchaus Sinn, im Gegensatz zu der Erklärung, die er ihr bisher geliefert hatte. Und vielleicht würde sie diese Version sogar akzeptieren und ihm verzeihen. Aber er selbst konnte diese Erklärung einfach nicht akzeptieren. Er nahm seine Hand von Cordelias Gesicht und erwiderte: »Nein. Ich habe Grace nie geliebt. Nie.«

Ihre Miene veränderte sich. Sie hatte ihn fragend und neugierig angesehen, doch jetzt schien ihr Gesicht sich zu schließen wie ein Fächer. Sie nickte, dann sagte sie: »Also gut. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, James. Ich muss etwas erledigen.«

Und damit durchquerte sie den Raum, öffnete die Schiebetüren und ging hinaus. James folgte ihr, hielt allerdings im Türrahmen inne. Er sah, dass Cordelia stehen geblieben war und mit ihrem Bruder und Thomas sprach, und er konnte nicht verhindern, dass er sie anstarrte – die elegante Linie ihres Rückens, die Krone aus flammend rotem Haar. Warum konntest du nicht einfach lügen?, fragte er sich wütend. Wenn du dich schon nicht dazu durchringen kannst, ihr die Wahrheit zu sagen …

Aber zwischen ihnen hatte es bereits genug Lügen gegeben. Er hatte Cordelia ein weiteres Stück der Wahrheit verraten – eines, das preiszugeben er ertragen konnte. Was sie damit machte, lag in ihrer Hand.

»James?«

Erschrocken fuhr er zusammen. Neben der Tür zum Salon lauerte Esme Hardcastle, mit Stift und Notizblock bewaffnet. Sie sah ihn eulenhaft an.

»Es tut mir leid, wenn ich dich aufhalte, James«, sagte sie und tippte sich mit dem Stift gegen die Vorderzähne. »Aber wie du weißt, arbeite ich an einem Stammbaum. Und es wäre sehr hilfreich, wenn du mir einige Fragen beantworten könntest: Hast du und Cordelia … Habt ihr vor, Kinder zu bekommen? Und wenn ja, wie viele? Zwei?« Sie legte den Kopf auf die Seite. »Sechs oder sieben?«

»Esme«, sagte James, »wenn du so an die Sache herangehst, wird dieser Stammbaum in höchstem Maße ungenau.«

Esme zog eine zutiefst beleidigte Miene. »Ganz und gar nicht«, entgegnete sie und schniefte. »Du wirst schon sehen.«

Veranstaltungen wie die Weihnachtsfeier waren Annas bevorzugtes Umfeld. Nichts gefiel ihr besser, als die Eigenheiten der Gäste zu beobachten: die Art, wie sie Konversation machten; ihre Gesten; wie sie dastanden, lachten und lächelten. Anna hatte schon während ihrer Kindheit damit angefangen, hatte versucht, die Gefühle der Erwachsenen zu erraten, während sie sie dabei beobachtete, wie sie sich auf Festen unterhielten. Sie hatte schnell festgestellt, dass sie darin ziemlich gut war, und hatte Christopher oft dadurch zum Lachen gebracht, dass sie ihm erzählte, was diese oder jene Person insgeheim dachte.

Manchmal machten es ihr die Betreffenden natürlich auch leicht – so wie jetzt, als sie James dabei beobachtete, wie er Cordelia mit sehnsuchtsvollen Augen nachsah. Und Cordelia sah wirklich umwerfend aus. Sie musste das Kleid auf ihrer unüberlegten Reise nach Paris erstanden haben. Die Details deuteten auf eine gewagtere Mode hin, als man sie normalerweise in London kannte. Anstatt vor Rüschen zu strotzen, umspielte das Kleid sanft Cordelias Taille. Anstelle eines Spitzenbesatzes zierten den tiefen Ausschnitt zahlreiche Gagatperlen, die auf Cordelias hellbrauner Haut schimmerten. Gerade unterhielt sie sich mit Alastair und Thomas, wobei Thomas einen hocherfreuten, kichernden Alex in die Luft warf. Und obwohl Anna genau wusste, dass Cordelia eine ganze Menge auf dem Herzen hatte, konnte man es ihr definitiv nicht ansehen.

Neben Anna lachte Ari leise. Sie standen zusammen am Erfrischungstisch und stopften schamlos die mit Zuckerguss überzogenen Biskuitküchlein in sich hinein, von denen jedes mit dem Wappen einer Schattenjägerfamilie dekoriert war. »Du liebst es, Leute zu beobachten, oder?«

»Hmm«, sagte Anna. »Es ist immer so herrlich aufschlussreich.«

Ari ließ den Blick durch den Saal schweifen. »Erzähl mir ein Geheimnis über jemanden«, sagte sie. »Sag mir, welche Schlussfolgerungen du gezogen hast.«

»Rosamund Wentworth denkt darüber nach, Thoby zu verlassen«, antwortete Anna. »Sie weiß, dass es ein Skandal wird, doch sie kann es nicht länger ertragen, dass Thoby in Wirklichkeit in Catherine Townsend verliebt ist.«

Ari riss die Augen auf. »Wirklich?«

»Wart’s ab …«, setzte Anna an, verstummte jedoch, als sie Aris Gesichtsausdruck bemerkte. Ari stand vollkommen reglos da und blickte mit ausdrucksloser und zugleich angespannter Miene an Anna vorbei. Anna drehte sich zur Tür, um nachzusehen, wer gerade eingetroffen war. Obwohl sie es bereits erraten hatte. Natürlich! Maurice und Flora Bridgestock.

Anna legte ihre Hand um Aris Ellbogen. Eine instinktive Geste, ein Bedürfnis, Ari Halt zu geben. »Vergiss nicht«, sagte sie, während sie Ari sanft vom Erfrischungstisch weglotste, »wenn sie eine Szene machen wollen, ist das ihre Entscheidung. Es betrifft dich in keinster Weise.«

Ari nickte, ohne jedoch ihre Eltern aus den Augen zu lassen. Anna spürte, dass Aris Hand leicht zitterte, und sah dann, dass Flora ihre Tochter als Erste erblickte und sich auf den Weg zu ihr machte. Mit hoffnungsvoller Miene. Doch bevor sie sich Ari nähern konnte, tauchte Maurice hinter ihr auf, legte eine Hand an ihre Taille und dirigierte sie entschieden in die andere Richtung. Flora sagte etwas zu ihrem Mann, der ihr mit gereizter Miene antwortete. Anna vermutete, dass die beiden stritten.

Ari verfolgte die Szene mit einem Blick, der Anna ins Herz schnitt. »Ich glaube nicht, dass sie eine Szene machen werden«, sagte Ari leise. »Ich glaube nicht, dass ihnen die Angelegenheit wichtig genug ist.«

Anna drehte sich mit einem Ruck um, sodass sie Ari gegenüberstand. Ari, die ihre erste Liebe gewesen war, die ihr Herz geöffnet und es dann gebrochen hatte. Aber auch die Ari, die in ihrem Bett schlief. Die gern den Abwasch machte, aber danach sämtliches Geschirr in die falschen Schränke stellte. Ari, die Percy, der ausgestopften Schlange, Lieder vorsang, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Ari, die ihre Haarnadeln als Lesezeichen benutzte und zu viel Zucker in ihren Tee gab, sodass sie immer süß schmeckte, wenn Anna sie küsste.

»Tanz mit mir«, sagte Anna.

Ari sah sie überrascht an. »Aber … du sagst doch immer, dass du nicht tanzt.«

»Ich verstoße gern gegen Regeln«, erwiderte Anna. »Auch gegen solche, die ich selbst aufgestellt habe.«

Ari lächelte und streckte die Hand aus. »Dann lass uns tanzen.«

Anna führte sie auf die Tanzfläche, wohl wissend, dass Aris Eltern sie beobachteten. Eine Hand auf Aris Schulter, die andere auf ihrer Taille, zog Anna sie in den Walzer hinein. Auf Aris Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Und als sie gemeinsam über die Tanzfläche wirbelten, strahlten ihre Augen. Anna dagegen verspürte ausnahmsweise nicht das geringste Bedürfnis, die anderen Gäste – ihre Interaktionen, Gesten, Unterhaltungen – zu beobachten. Die Welt hatte sich auf Ari reduziert: ihre Hände, ihre Augen, ihr Lächeln. Nichts anderes zählte noch.